Читать книгу Das Herz und die Dunkelheit - Emily Byron - Страница 8

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Es war kein schöner Anblick gewesen, als Irina sich lautstark hatte übergeben müssen. Schon auf der Damentoilette war meine Begeisterung fürs Haarehalten überschaubar geblieben, und irgendwo war ich auch ein klein wenig sauer auf Nine, dass sie selber zu betrunken war, um ihrer Freundin zu helfen. Aber ich konnte auch nicht riskieren, dass die Hochzeit wegen dem Tod der Braut durch Ertrinken in einer Kloschüssel buchstäblich ins Wasser fiel. Also hatte ich Irina die Haare hoch- und gleichzeitig den Atem angehalten, während sie das Porzellan umarmte. Nur wenig später hatte der hilfsbereite Barkeeper einen Anruf getätigt, während ich die drei Schluckspechte auf einer kleinen Seitenbank platzierte und mühsam aufrecht hielt. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Nine sich mit diesem Kater für morgen in der Schule krankmelden würde müssen. Die Wahl der mit Käse überbackenen Enchiladas erwies sich nun als äußerst vorausschauende Entscheidung, denn ihr Fett bot dem Alkohol bei mir weitaus weniger Angriffsfläche als bei den anderen, die sich lediglich Nachos und natürlich Cocktails bestellt hatten. War ja gerade Happy Hour gewesen. Was als exzessive Partynacht angedacht gewesen war, war so bereits um Mitternacht gelaufen. Mir war das nur recht, denn so hatte ich neben der Aussicht auf eine ausreichende Mütze voll Schlaf auch noch etwas Gelegenheit, mir diesen seltsamen Abend in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen.

„Taxi ist da!“, rief der Barkeeper und half mir, die torkelnden Damen nach draußen zu bugsieren, nachdem ich die komplette Zeche übernommen hatte.

„Die kotzen mir doch nicht etwa alles voll?“, beäugte der Fahrer uns misstrauisch, als wir die Schnapsdrosseln ins Wageninnere manövrierten.

„Keine Sorge“, lachte der Barkeeper, „die eine hat gerade alles von sich gegeben und die beiden anderen schlafen schon.“ Als wollte sie das Ganze unterstreichen, meldete sich Maria in diesem Moment mit einem lauten Schnarcher von der Rückbank, bevor sie sich umdrehte und an Irinas Hals kuschelte.

„Na dann“, antwortete der Taxifahrer, aber machte keinen sonderlich beruhigten Eindruck. „Und Sie, junge Dame, wollen Sie nicht mitfahren?“

„Nein danke“, sagte ich, reichte ihm meinen letzten Zwanziger und einen Zettel mit Nines Adresse. „Bitte liefern sie die drei Schnapsdrosseln dort ab.“

Kurz überlegte ich, doch mitzufahren, verwarf die Idee dann aber wieder. Egal wie betrunken Nine war, alles war ich nicht gewillt für sie zu organisieren. Wer dermaßen bechern konnte, der konnte auch selbst seine Wohnungstür aufschließen.

„Sicher, dass Sie nicht mitwollen? Ist nicht gerade ratsam, als Frau allein um die Zeit zu Fuß zu gehen.“

„Ist schon in Ordnung. Ich habe es nicht weit von hier.“

„Wie Sie meinen“, antwortete der Fahrer schulterzuckend und schaltete die Automatik seines Wagens auf Drive.

„Auch auf die Gefahr hin zu nerven“, sagte der Barkeeper zu mir, nachdem das Taxi bereits abgefahren war, „aber wollen Sie wirklich laufen?“

„Ja, ich will noch etwas frische Luft schnappen, bevor ich schlafen gehe“, erwiderte ich. Natürlich war es immer ein Risiko, mitten in der Nacht alleine irgendwo herumzudackeln, aber hätte ich Nine erst nach Hause gebracht, wäre mein Heimweg locker eine halbe Stunde länger ausgefallen – und deutlich teurer, als ich es mit 20 Euro bezahlen konnte. Die Alternative wäre natürlich gewesen, ebenfalls bei Nine zu übernachten, aber darauf, mir ein Bett mit lauter Schnapsleichen teilen zu müssen, hatte ich reichlich wenig Lust. Schon gar nicht, wenn ich am nächsten Tag fit und motiviert vor meinen Schülern stehen und mit ihnen über die stoffwechselphysiologischen Auswirkungen von Opiaten und Amphetaminen sprechen sollte Außerdem kannte ich mich hier in der Gegend ganz gut aus und wusste, dass sie im Vergleich zu anderen Stadtteilen als vergleichsweise sicher galt. Meinem kleinen Drehwurm, den ich mir durch den Genuss noch einiger weiterer Schnäpse eingefangen hatte, würde die Bewegung an der frischen Luft sicherlich auch entgegenwirken. Lauter gute Gründe also, mich nicht zu einer Taxifahrt mit den drei Damen vom Tresen nötigen zu lassen.

„Wie Sie meinen. Ich muss wieder rein, bevor die mir da drin die ganze Bar leer trinken. Dann kommen Sie gut nach Hause und passen auf sich auf.“ Damit verschwand der Barkeeper wieder in der kleinen Kneipe.

„Mach ich. Danke und gute Nacht!“, rief ich noch hinterher. Dann atmete ich einmal tief durch und ließ die plötzlich eintretende Ruhe auf mich wirken. Endlich war dieser verrückte Abend vorüber, und ganz besonders diese oberpeinliche Situation mit dem merkwürdigen Fremden. Während ich mich langsam auf den Heimweg machte, ließ ich das Geschehene noch einmal im Geist Revue passieren. Es war mir nach wie vor unbegreiflich, wie mich nur ein Blick aus diesen kristallinen Augen so dermaßen hatte umwerfen können. Ich war noch nie der Typ Frau gewesen, der von einer heißen Beziehung zur nächsten flatterte, sich jedem attraktiven Mann an den Hals warf und einfach nicht allein sein konnte. Im Gegenteil: Ich konnte sehr gut auf eigenen Füßen stehen. Oder hatte es zumindest gekonnt. Bevor ich Dani traf … Ich seufzte unwillkürlich, als die Erinnerung sich wie ein fieses Kneifen in meinen Eingeweiden bemerkbar machte. Dani. Er hatte alles geändert. Durch ihn hatte ich endlich geglaubt zu verstehen, wie ein Mensch sich völlig in seine Emotionen fallen lassen konnte, und wie die Liebe zwischen zwei Menschen die eigenen Füße vollkommen überflüssig machte, weil man ohnehin die ganze Zeit schwebte. Und als er mich dann aus heiterem Himmel verlassen hatte, um sich nur noch auf seine wahre Liebe, die Musik, zu konzentrieren, war da kein Boden mehr gewesen, auf dem ich hätte stehen können. Ich schluckte mühsam. In solchen Momenten wurde mir stets bewusst, dass der Schmerz der Trennung mich noch immer verfolgte, auch wenn es schon fast zwei Jahre her war. Dabei hatte er das gar nicht verdient! In dem Moment, als Dani die Tür hinter sich ins Schloss hatte fallen lassen, hatte ich beschlossen, so schnell keinen Mann mehr in mein Leben zu lassen und mich vor allem niemals mehr selbst zu vergessen. Folgerichtig hatte ich kurz darauf meinen Kleiderschrank und das Badezimmer einer radikalen Ausmistaktion unterzogen. In der Zeit mit Dani hatte ich mich figurbetont gekleidet, täglich Make-up benutzt und schon mal Schuhe mit höheren Absätzen getragen – weil es ihm gefiel, weil er es sexy fand, und weil es mir völlig normal erschien, mich für ihn schön zu machen. Dabei wäre ich lieber in Pulli und Turnschuhen durch die Gegend gestiefelt, anstatt mir trippelnd Blasen zu laufen. Und wofür? Für nichts. Schlimmer als nichts: für die tiefste Demütigung. Damit mir das nie wieder passierte, hatte ich unnötigen Schminkkram ebenso verschenkt wie alles, was auch nur annähernd sexy aussah. Ich brauchte keinen Kajal, keinen Minirock und keine Kontaktlinsen. Für mich taten es auch ein simpler Pferdeschwanz, eine alte Jeans, ein gemütliches Shirt und eine Brille mit schwarzem Rand, die meinen braunen Maulwurfsaugen genug Sehschärfe verlieh. Das waren die Dinge, mit denen ich mich wohlfühlte. Da konnte Nine noch so oft schimpfen, dass kein Mann der Welt auf graue Mäuse stand. Umso besser. Ich wollte ja gar keinen Mann mehr, für eine lange Zeit, Ende offen.

Deshalb war ich auch ziemlich sauer auf Nine, denn sie kannte meine Vorgeschichte ganz genau. Während sie mich anfangs noch mein Mauerblümchendasein unkommentiert ausleben ließ, versuchte sie mit der Zeit immer häufiger, mich gegen meinen Willen an den Mann zu bringen. Das hatte ich Gott sei Dank jedes Mal unterbinden können, was Nine aber nicht entmutigte. Es war mir schon klar, dass sie es auf ihre Art – wie immer – nur gut mit mir meinte. Nach dem diebischen Funkeln zu urteilen, das ich in ihren Augen gesehen hatte, hatte sie sich wohl erhofft, dass durch die Aufgabe neben der Truppenbelustigung ein netter One-Night-Stand für mich heraussprang.

Genau.

Als ob ich für so etwas zu haben gewesen wäre. Und dann noch mit einem stinkenden Säufer. Nines Engagement in allen Ehren, aber das ging definitiv zu weit. Ich ärgerte mich im Nachhinein immer mehr, dass ich nicht den Mumm gehabt hatte, bei der Aktion schlicht und ergreifend Nein zu sagen. Es widerstrebte mir zwar, ihm recht zu geben, aber letztendlich war es genau, wie der Fremde gesagt hatte: Echte Freunde ließen einen nicht so eiskalt auflaufen. Gut gemeint oder nicht. Bei dem Gedanken sah ich den Unbekannten plötzlich wieder vor mir, wie er sich zu mir umgedreht und mich so durchdringend angeschaut hatte, als würde er binnen Sekunden bis auf den Grund meiner Seele blicken. Ein Flattern meldete sich in meinem Bauch, und das Gedankenkino, das sein fesselnder Blick in mir hervorgerufen hatte, begann sich erneut vor mir abzuspielen …

Energisch schüttelte ich den Kopf. Nein. Schluss damit. Das war doch völlig hirnrissig.

Ich blieb stehen, schaute nach oben und hoffte, die Sterne zu sehen. Ihr Anblick hatte mich schon immer beruhigt. Und auch heute besänftigten sie meinen rasenden Herzschlag sofort. Sie funkelten wie Millionen kleiner Glühwürmchen, die mich auf meinem Heimweg begleiteten. Ich mochte diese wunderbaren Spätsommer, und ganz besonders mochte ich sie in meiner Lieblingsstadt Hamburg. Meine Heimat im nördlichen Bezirk Wandsbek lag zwar außerhalb vom Hauptgeschehen dessen, was der restlichen Welt von der Elbmetropole bekannt war, aber genau das gefiel mir. Der Trubel der Großstadt blieb hinter mir, wann immer ich in die U-Bahn nach Norden stieg und an meiner Haltestelle Farmsen-Berne ankam. Tief atmete ich den vom Sommerwind herangetragenen Duft des Berner Gutparks ein, der sich ums Eck befand. Das Aroma von frisch geschnittenem Gras umarmte das intensive Apfelbukett der prachtvollen Kletterrosen, die einer der Anwohner auf seinem kleinen Balkon gepflanzt hatte. Ich schloss kurz die Augen und ließ das betörende Zusammenspiel der verschiedenen Aromen und Gerüche auf mich wirken. Wie schön es hier doch war. Wegen dieser leisen Glückmomente liebte ich mein Stadtviertel.

Im nächsten Moment spürte ich, wie eine Hand meine linke Schulter packte. Ich riss die Augen auf und stieß vor Schreck einen lauten Schrei aus. Ein Adrenalinstoß durchflutete meinen Körper wie eine Explosion und ließ mich instinktiv herumwirbeln. Mit voller Wucht donnerte ich dem Angreifer meine Handtasche ins Gesicht. Ein lautes Knacken erklang, als sie hart auf die Nase des Unbekannten aufschlug.

„Scheiße!“, rief dieser aus, taumelte einige Schritte rückwärts und fasste sich mit einer Hand in sein Gesicht, das durch eine große Kapuze verdeckt wurde. Mein Puls pochte so stark in meinem Körper, als würde er gleich in abertausend Teile zerspringen. Ich dachte nichts mehr. Wie ferngesteuert drehte ich mich um und hastete los – weg, nur weg! Doch in meiner Panik übersah ich den Bordstein, mein rechter Fuß erwischte nur den Rand und ich flog der Länge nach auf den harten Teer. Die Haut an meinen Handflächen gab unter dem beißenden Druck der rauen Oberfläche nach und riss spürbar großflächig auf. Ein Brennen schoss mir durch sämtliche Nervenbahnen, gefolgt von einer dumpfen Schmerzwelle. Meine Brille hatte sich im freien Fall irgendwohin verabschiedet. Hinter mir stieß mein Angreifer mehrere laute Flüche in einer fremden Sprache aus. Durch das Tosen des Blutes in meinen Ohren hörte ich seine Schritte näherkommen. Mist! Ich hatte ihn nicht ausgeschaltet, und an eine Flucht war nach dem Sturz nicht mehr zu denken. Mir blieb nur ein Ausweg. Ich wälzte mich trotz meiner Schmerzen auf den Rücken. Ich konnte zwar nicht abhauen, aber mit etwas Glück konnte ein kräftiger Tritt seine Glocken ordentlich zum Klingeln bringen.

„Hau ab, lass mich in Ruhe!“, schleuderte ich ihm entgegen – und bereute es sofort, als mein Kopf von meinem eigenen Schrei wie das Innere einer geschlagenen Kirchturmglocke zu vibrieren begann. Ich hätte doch mit Nine mitfahren sollen, dachte ich verzweifelt und trat zu, so fest ich konnte. Wenn schon untergehen, dann mit voller Gegenwehr.

Doch mein Fuß traf – Luft. Denn in diesem Moment stürzte sich wie aus dem Nichts ein riesiger Schatten auf den Angreifer und riss ihn von mir weg. Völlig perplex hörte ich mehr als dass ich sah, wie erst ein Fausthieb und dann noch einer in einem dumpfen Aufprall mündeten, gefolgt von einem gurgelnden Röcheln.

„Verschwinde!“, hörte ich eine tiefe Stimme brüllen und nahm immer noch reichlich benebelt wahr, wie eine der beiden Gestalten gekrümmt das Weite suchte. Ich rollte mich auf die Seite, und versuchte aufzustehen. Mein Kopf wummerte, als sei gerade eine Marschkapelle hindurchgestampft. Ich musste langsam machen, damit mir nicht übel wurde.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, sagte die Stimme, die gerade so laut gerufen hatte, auf einmal direkt vor mir.

„Danke“, antwortete ich leise und ließ mir bereitwillig von meinem Retter auf die Beine helfen. Sie zitterten so sehr, dass ich fürchtete, sie würden jeden Augenblick wieder unter mir nachgeben.

„Meine Brille“, sagte ich und schaute auf die großen Hände, die mich an meinen Oberarmen festhielten. Ohne Sehhilfe konnte ich sie nur verschwommen wahrnehmen.

„Können Sie allein stehen?“

„Ich versuch‘s“, ächzte ich, woraufhin mein Retter mich losließ und sich bückte.

„Hier“, sagte er, „nicht erschrecken.“ Behutsam setzte er mir meine Brille wieder auf und stützte mich erneut, als ich kurz strauchelte. „Sie ist zum Glück nicht zerbrochen.“

Mein Blick begann sich wieder scharf zu stellen, sodass ich mein Gegenüber endlich näher betrachten konnte – nur um einen Moment später erneut fast in die Knie zu gehen. Diesmal vor Überraschung.

Eisblaue, fast silbrige Augen leuchteten zwischen langen, verfilzten Strähnen hervor und drangen mit ihrem Blick geradewegs durch mich hindurch.

„Sie sind das“, stammelte ich und wusste nicht, was mich mehr schockierte. Der Umstand, dass mein Held der ruppige Kerl aus der Bar war, oder das Blut, das sich aus einer Platzwunde unterhalb seines linken Auges großzügig auf der gesamten Wange verteilte.

„Was sagt man dazu?“, antwortete der Mann. Er wirkte nicht im Geringsten überrascht.

„Das … das muss genäht werden“, sagte ich und spürte, wie mir gleichzeitig heiß und kalt wurde. Das war eindeutig der Schock. Ganz bestimmt.

„Nein, muss es nicht. Das ist nur ein Kratzer“, antwortete der Unbekannte barsch und fuhr sich wie zur Betonung des Gesagten grob über die Wunde. „Sind Sie verletzt?“, fragte er, während er mich weiter festhielt.

„Geht schon“, murmelte ich und wollte mir die zahlreichen Strähnen aus dem Gesicht streichen, die sich beim Sturz aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatten und mir die Sicht verdeckten. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Handflächen. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich mich beim Aufkommen auf dem Asphalt mit ihnen abgefangen hatte und unterzog sie einer ersten Inspektion. Sie sahen aus wie ein blutiges Schlachtfeld. Kaum hatte ich mir das gedacht, begannen sie wie auf Kommando so zu brennen, als hätte ich glühende Kohlen angefasst.

„Au Mist, tut das weh“, fluchte ich.

„Sie müssen zur Polizei und vor allem ins Krankenhaus, nicht, dass Sie sich beim Sturz etwas gebrochen haben“, hörte ich meinen Retter sagen. Da hatte ich schlagartig wieder alle sieben Sinne zusammen. Krankenhäuser waren für mich so ziemlich das Schlimmste, was es gab. Seit dem Verlust meiner Eltern in meiner Kindheit waren sie für mich der Inbegriff allen Leides und Unheils auf dieser Welt. Obwohl ich wusste, welch wichtiger Dienst dort an kranken Menschen geleistet wurde, ging eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ich freiwillig eine Klinik betrat.

„Nicht nötig, es sieht heftiger aus, als es ist.“

Das war zwar gelogen, aber in dieser Sache war ich nun mal stur wie ein Ochse.

„Das hoffe ich für mich auch“, antwortete der Mann, während die Platzwunde unter seinem Auge munter weiterblutete. Erneut wischte er grob darüber, was den Blutfluss allerdings eher förderte, als dass es ihn stoppte, und ein kurzes Zischen seinerseits verriet mir, dass die Verletzung doch schmerzvoller war, als er zugab. Fast hätte ich gelacht. Woher kannte ich dieses Verhalten nur? Da standen wir also, beide verletzt und doch zu stur, die Notaufnahme aufzusuchen.

„Gut“, sagte ich und grinste ein wenig schräg, „so wie ich das sehe, haben wir beide mächtig eins auf den Deckel bekommen, aber keiner von uns will zum Arzt.“

Wortlos zuckte der Fremde die Schultern, während sein Blick die Umgebung sondierte. Rechnete er etwa mit einem erneuten Angriff? Bei dem Gedanken durchlief mich ein eiskalter Schauer. Ich wollte so schnell wie möglich weg von hier. Allerdings hatte ich keine Lust mehr, den Rest des Wegs allein zurückzulegen. Ein Taxi brauchte ich aber auch nicht mehr rufen, denn bis das hier angekommen war, war ich schon längst nach Hause gelaufen. Was also tun? Zähneknirschend musste ich mir eingestehen, dass es für dieses Dilemma nur eine Lösung gab.

„Ich wohne nicht mehr weit von hier und habe Verbandszeug und Desinfektionsmittel bei mir daheim. Damit können wir unsere Wunden behandeln“, sagte ich und fragte mich, wie bizarr der Abend noch werden konnte. Ich brauchte einerseits einen gewissen Schutz für den weiteren Nachhauseweg, wollte aber dem Fremden gegenüber nicht zugeben, wie viel Angst ich hatte, dass der Angreifer noch irgendwo auf mich lauerte.

„Aha“, sagte der Mann knapp und wischte sich erneut mit dem Handrücken das Blut von der Wange. „Und was ist mit der Polizei?“

So notwendig es tatsächlich war, den Überfall zur Anzeige zu bringen, so wenig war mir im Moment danach, das Geschehene erneut zu durchleben.

„Später. Ob jetzt oder in ein paar Stunden, es macht keinen Unterschied. Der Kerl ist weg.“ Zumindest hoffte ich das. Dann hatte ich einen Geistesblitz. „Sie sollten damit wirklich nicht rumlaufen. Was passiert, wenn Sie mit diesen Blutspuren im Gesicht aufgegriffen werden? Das wird eine Menge Fragen mit den Uniformierten nach sich ziehen.“

Erneut traf mich ein Blick aus Eis und Schnee. Doch anstelle einer Erwiderung begann es hinter den kühlen Augen zu arbeiten.

„Ist ein Argument. Gehen wir.“

Mit diesen Worten ließ der Fremde auch meinen anderen Arm los und deutete mir voranzugehen.

„Tut mir leid, das vorhin in der Bar“, sagte ich, nachdem wir einige Zeit schweigend die Straße entlanggelaufen waren. Auch wenn die Situation genau genommen nicht meine Schuld gewesen war, so fand ich doch, dass eine Entschuldigung das Mindeste war, was ich neben der Versorgung mit Pflastern und Jodlösung für meinen Retter tun konnte. Sicher, er hatte sich mir gegenüber auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Dafür aber hatte er mich soeben vor dem Verlust meiner Wertsachen oder etwas noch Schlimmeren bewahrt, und das wog um ein Vielfaches schwerer.

„Schon gut“, antwortete er, ohne mich auch nur anzuschauen. Das gab mir Zeit, ihn aus den Augenwinkeln heraus genauer zu mustern. Er war wirklich riesig, ich schätzte fast zwei Meter. Kein Wunder, dass der Angreifer die Flucht ergriffen hatte. Gegen den hätte selbst Bigfoot wie Herr Nilsson gewirkt.

„Übrigens, mein Name ist Jordis.“

Sogleich wollte ich ihm die Hand entgegenstrecken, als ein fieses Brennen aus der Innenfläche durch meinen gesamten Arm schoss.

„Autsch“, winselte ich und wollte meine Hand wieder zurückziehen, als der Fremde stehen blieb und sie behutsam in die seine nahm.

„Mit Begrüßung per Handschlag wird es die nächste Zeit erstmal nichts werden“, erklärte er nüchtern.

„Nein, wohl eher nicht“, bestätigte ich seufzend. „Mal sehen, wie der Alltag mit zwei verbundenen Pfoten funktioniert.“

Vorsichtig, als wäre sie aus kostbarem Porzellan, hob der Unbekannte meine Hand an sein Gesicht und betrachtete die Innenseite für eine Weile. Dann griff er nach der anderen und studierte sie ebenfalls sehr eingehend. Eine stattliche Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, als seine ungewöhnlich zarte Berührung ein leichtes Beben durch meinen Körper schickte. Zum Glück trug ich eine Strickjacke, so dass der Fremde die verräterische Antwort meines Körpers wenigstens nicht sehen konnte. Ich fragte mich derweil ernsthaft, ob ich noch ganz bei Trost war, bei einem schmutzigen, streng riechenden Kerl so eindeutig zu reagieren. Ja, er war ein Mann und hatte mir in einer Notsituation geholfen, aber deswegen brauchte ich noch lange nicht eine wie auch immer geartete Zuneigung für ihn zu entwickeln. Oder war das gerade eher eine psychologisch-logische Reaktion auf das Erlebte? Wenn doch nur diese hypnotischen Augen nicht wären …

„Keine Sorge, das sind nur oberflächliche Schürfwunden. In zwei Wochen wird davon nichts mehr zu sehen sein.“

„Hoffen wir’s“, antwortete ich geistesabwesend und wunderte mich, dass wir auf einmal so etwas wie ein normales Gespräch führten. Nun ja, zumindest in Ansätzen.

„Wird schon“, bekräftigte der Fremde, während wir die letzten Meter zu meiner Wohnung gingen.

„Da wären wir“, sagte ich und fasste vorsichtig nach meiner Tasche. Zwar schaffte ich es, den Reißverschluss mit nur zwei Fingern zu öffnen, doch als ich ungebremst in eine spitze Ecke meines Taschenkalenders griff, musste ich schmerzerfüllt aufgeben.

„Darf ich?“, fragte sogleich mein Retter und fischte nach einem bestätigenden Nicken meinerseits gekonnt den kleinen Bund mit meinen vier Schlüsseln heraus.

„Der große Runde“, sagte ich und verspürte umgehend eine Welle der Erleichterung, als wir das Treppenhaus betraten. Endlich in Sicherheit. Schweigend nahmen wir die Stufen bis in den fünften Stock. Vor meiner Tür wies ich den Fremden erneut an aufzusperren.

„Ich muss Sie allerdings warnen. Meine Wohnung ist sehr klein. Außerdem habe ich zwei Katzen.“

„Ich mag Katzen“, antwortete der Mann, während er den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Wie zur Bestätigung ertönte in diesem Moment hinter der Tür ein wahres Maunzkonzert.

„Da freut sich aber jemand sehr.“

„Ich würde mich auch freuen, wenn der Dosenöffner endlich nach Hause kommt“, gab ich zu bedenken und wollte gerade die Tür aufschubsen, als der Mann mir seine Hand auf den Arm legte. Verwundert schaute ich zu ihm auf.

„Was ist?“

„Man sollte keine fremde Wohnung betreten, ohne sich richtig vorgestellt zu haben. Das gehört sich nicht.“

Bei soviel guten Manieren blieb mir tatsächlich die Spucke weg. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich nicht mal seinen Namen kannte. Wie gebannt starrte ich in das kühle Blau seiner Augen, das mich an den rauen Atlantik aus meiner frühen Kindheit in Island denken ließ. Ich erinnerte mich an die tosende Gischt und den salzigen Geruch des Meeres. Es war, als würde ich auf einmal wieder am Strand stehen und auf den endlosen Horizont blicken, während der Wind an meinen Haaren zog und die Möwen in der Luft tanzend ihre Lebensfreude herausschrien. In dem Moment, als ich begann, mich endgültig in dieser Erinnerung zu verlieren, nannte mir der Fremde einen Namen, der so außergewöhnlich war wie das, was gerade zwischen uns passierte.

„Mein Name ist Cayden.“

„Jor…dis“, stotterte ich benebelt. Ich fühlte mich, als sei ich gerade eben wie durch Magie in die Vergangenheit gereist. Noch immer konnte ich den Duft der unbändigen Freiheit wahrnehmen, den ich als Kind so sehr geliebt hatte.

„Ja, das sagtest du bereits“, riss mich Cayden aus meiner Trance und öffnete die Tür.

Nur zwei Sekunden später wurde ich erneut das Opfer eines Überfalls.

Diesmal aber waren die Angreifer klein, flauschig weich und hatten außer einem vollen Napf keine unlauteren Absichten.

Das Herz und die Dunkelheit

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