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Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht?

Ich hatte ja noch akzeptiert, dass uns Nine diese schwarzen T-Shirts mit der riesigen Aufschrift „Tschüss Freiheit!“ und den pinken Handschellen darunter verpasst hatte. Ich hatte auch nicht gemeckert, als die Ladies wie verrückt gackernd in der vor Menschen wimmelnden Spitalerstraße hinter Irina hergelaufen waren, damit jene im Austausch gegen Küsschen Etiketten aus fremden Männerunterhosen schnitt. Mit den jeweiligen Männern noch in der Unterhose, wohlgemerkt, und das mitten in der Hamburger Innenstadt. Ja, ich hatte sogar eingewilligt, zum krönenden Abschluss dieser Unternehmung, am Ende unserer Route im beschaulichen Ortsteil Farmsen, in einer ziemlich verrauchten Spelunke einen Feigling nach dem anderen zu klopfen. Musste ich zwangsläufig, denn anders waren weder meine betrunkenen, johlenden Begleiterinnen, noch der stechende Uringeruch, der aus der Herrentoilette in den Schankraum wehte, zu ertragen. Alkohol war nicht meins. Egal, in welcher Form er daherkam, Rotwein, Wodka oder Sekt, ich fand einfach nichts daran, mich zu berauschen. Aber jetzt, da kam ich einfach nicht drum herum. Gott sei Dank hatte ich mir vorher beim Mexikaner mit Enchiladas de Queso eine gute Promillegrundlage aufgebaut. Zudem gelang es mir, manche Runde mit ein wenig Schummelei auszusetzen. Bei jedem Fläschchen aber, das mir Nine hinstellte, biss ich in den sauren Apfel, hielt die Luft an, setzte mir das lächerliche Käppchen auf die Nase und schüttete den Inhalt der kleinen Pullen meine Kehle hinunter. Leider hatte ich den kleinen Blechdeckel nicht gut genug befestigt, so dass er im Handumdrehen auf die Theke purzelte. Es ließ sich nicht bestreiten, dass ich inzwischen ein kleines Motorikproblem hatte. Das zeigte sich auch darin, dass ich immer häufiger an dem Wasser, das ich zusätzlich bestellt hatte, vorbeigriff, was Nine wiederum zum Kreischen komisch fand. Sie hatte vehement darauf bestanden, dass ihre Freundin Irina mich mitnahm, weil sie dachte, ich müsste unbedingt mehr unter Leute kommen, und wenn Nine sich so etwas in den Kopf gesetzt hatte, war jeder Protest zwecklos. So war sie, seit wir uns an einem heißen Sommertag im Lehrerzimmer des Johannis-Gymnasiums zum ersten Mal begegnet waren: Immer um mein Wohl besorgt. Ich war damals neu an der Schule gewesen und neu im Kollegium – da verstand es sich also fast von selbst, dass ich fünf Minuten vor Beginn meiner ersten Unterrichtsstunde den Inhalt meiner Kaffeetasse großzügig einmal quer auf meiner Bluse verteilte. Ich war kurz davor gewesen, mich einfach krankzumelden und auf der Stelle nach Hause zu fahren, als Nine auftauchte, die gerade aus der Turnhalle kam. Sie hatte die Situation sofort erfasst und sich ohne viel Federlesens vor versammelter Mannschaft ihres knappen Blüschens entledigt, um es mir zu borgen, ehe sie in ihrer Sporttasche nach einem T-Shirt kramte, das sie sich stattdessen überwerfen konnte. Auf meinen entgeisterten Protest hin hatte sie nur gelacht sie und erklärt: „Du kannst nicht im verschwitzten Shirt vor deine Klasse, Hase – ich schon!“ Und so war dieser Tag der Beginn einer dicken Freundschaft und zugleich der Beginn Nines unermüdlicher Mühen, mich von einer skeptischen Pessimistin zu einem lebhaften, fröhlichen Menschen umzuerziehen. Ihre Methoden waren dabei meist eher unkonventionell. Aber ob es nun darum ging, sich mit dem Alt-68er-Erdkundelehrer anzulegen, weil der mich meines Alters wegen nicht für voll nahm, oder darum, mich einfach mal aus meiner kuschligen Wohnzimmer-Komfortzone mitten ins Partyleben zu werfen, indem sie mich auf den Junggesellinnenabschied ihrer Fitnessstudio-Bekannten mitschleppte – sie wollte immer, dass es mir gutging. Und ich wäre wirklich gern dankbarer dafür gewesen. Aber an Abenden wie diesen war das geradezu unmöglich. Nine allerdings schreckte das nicht. Und mitkommen musste ich trotzdem.

Und so saß ich nun also hier, mit der sturzbetrunkenen zukünftigen Braut, ihrer noch sturzbetrunkeneren Trauzeugin und Nine höchstpersönlich und dachte, schlimmer könnte es nicht mehr kommen.

Weit gefehlt.

„Siehst du den Kerl da hinten?“, riss mich Nine aus meinen Gedanken.

Ich schaute zu dem Mann am Tresen in der hintersten Ecke der Bar.

Oh nein.

Nein, nein, nein.

Schnell drehte ich mich wieder weg und schaute direkt in Nines von Alkohol gerötetes Gesicht. Mir schwante, was jetzt kommen würde.

„Kommt nicht in Frage!“, zischte ich leise und ließ dabei keinen Zweifel daran, dass ich nicht gewillt war, bei diesem Partygag mitzumachen.

„Jetzt hab dich nicht so! Dir ist der Verschluss runtergefallen, also musst du eine Aufgabe lösen, die wir dir stellen.“

Die Regeln bei Trinkspielen waren mir zwar gänzlich unbekannt, aber ich war mir trotzdem sicher, dass das so ganz bestimmt nicht lief.

„Du weißt, dass ich das nicht kann!“

„Wenn du dich weigerst, musst du morgen im BH vor die Klasse!“, grölte Irina lautstark und hielt sich im letzten Moment an ihrer Trauzeugin Maria fest, um nicht vom Barhocker zu rutschen. Im Anschluss lagen sich die beiden prustend in den Armen. Ich beobachtete dieses bizarre Schauspiel mit gemischten Gefühlen. Nine hatte die beiden Damen vor über einem Jahr auf einem mehrtägigen Sportseminar kennengelernt und machte seither regelmäßig mit ihnen abwechselnd das Fitnessstudio und das Hamburger Nachtleben unsicher. Beide waren durchaus sympathische Frauen Mitte Zwanzig, die ein gesundes Selbstbewusstsein ausstrahlten. Allerdings trübte sich dieser positive Eindruck immer weiter ein, je weiter der Abend fortschritt. Denn wenn ich etwas noch weniger mochte als Alkohol, dann waren es alkoholisierte Frauen mit ihren schnapsgeschwängerten Ideen. Nine musste meinen Widerwillen förmlich riechen. Glucksend schaute sie von der johlenden Braut in spe zu mir und raunte mir lallend entgegen:

„Sei kein Frosch, Jordis, und gönn Irina den Spaß. Der Typ ist doch eh rotzbesoffen. Der gibt dir seine Nummer garantiert ohne Probleme.“

Am liebsten hätte ich Nine durch den Fleischwolf gedreht. Männer und ich, das war an sich schon ein heikles Thema. Und jetzt sollte ich auch noch irgendeinen wildfremden Kerl in einer heruntergekommenen Spelunke anbaggern, weil ich es nicht geschafft hatte, diesen blöden Metalldeckel auf der Nase zu behalten.

Ich konnte das nicht. Schon spürte ich, wie meine Handflächen klamm wurden.

Ich wollte das auch überhaupt nicht. Das war schließlich Irinas Junggesellinnenabschied, nicht meiner. Meiner Meinung nach war es an diesem Abend allein die Aufgabe der Braut, sich zum kompletten Fallobst zu machen.

Aber ein Blick in die dreckig grinsenden Gesichter meiner drei Begleiterinnen verriet mir, dass ich verloren hatte. Sie würden nicht eher Ruhe geben, bis ich tat, was sie von mir wollten. Wenn ich mich weigerte, da war ich mir sicher, konnte ich mir den Rest des Abends anhören, was für ein Spielverderber ich war. Und darauf hatte ich dann zugegebenermaßen noch viel weniger Lust.

„Los jetzt!“

Nine mochte zwar so blau sein wie Harald Juhnke zu seinen schlimmsten Zeiten, doch das diebische Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie in diesem Moment genau wusste, was sie von mir verlangte. Ich kannte sie und konnte mich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, dass sie mit dieser Aktion noch etwas anderes beabsichtigte, als einfach nur eine dumme Spielschuld einzufordern. Leise stieß ich eine Verwünschung in ihre Richtung aus.

„Das gibt Revanche, das schwör ich dir.“

Danach machte ich mich mit drei sturzbesoffenen, kichernden Weibern im Rücken daran, mich einem meiner größten Albträume zu stellen.

Das Herz und die Dunkelheit

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