Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 10
ОглавлениеSchönheit ist nicht immer edel
Es war der aufregendste Sommer, an den sich Artur erinnern konnte. Obwohl nun große Ferien waren, kamen sie kaum noch zum Spielen. Nach dem Baden trieben sie sich stundenlang in der Stadt herum, die ausgewrungene Badehose über den Kopf gehängt. Das kühlte, und die Hose war trocken, ehe man nach Hause kam.
Ende Juni war das erste Extrablatt erschienen, und das hatte er in Remscheid noch nicht erlebt. "Schüsse in Sarajewo!" - "Feiger Meuchelmord!" - schrien die Überschriften, und überall sprachen die Leute vom Krieg. Die einen siegessicher, die andern bedrückt. Obwohl Artur den Kaiser und sonstige erlauchte Personen nicht mochte, fand er es hässlich, den Herrn österreichischen Kaisernachfolger und seine Frau umzubringen, wo nun durch die Schießerei womöglich ein Krieg losging. Vater und Mutter strahlten gar nicht, wenn die Rede darauf kam, die gehörten zu den Bedenklichen. Also musste Krieg was Schlechtes sein. Obwohl - Lehrer Neblich sprach anders darüber. Krieg ist die große Gottesprüfung, sagte er. Was Gott schickt, ist recht, und der Krieg ist recht, und Deutschland wird ihn gewinnen, sagte Lehrer Neblich. Der Krieg ist die große Zeit des Neuwerdens; mit dem Flammenschwert wird alles Faule aus dem Volkskörper ausgebrannt. Krieg ist außerdem die große Zeit der Taten und der Helden. Zwar hatte Neblich einen Fimmel mit seinem frommen Kram, aber seine Religionsstunden waren interessant, auch die andern Stunden, man lernte was bei ihm. Natürlich kam er gegen Fräulein Marein nicht an, und Artur war fast untröstlich gewesen, als sie die Klasse abgeben musste. Warum dachte Neblich anders über den Krieg als die Eltern? Die sagten, alles würde noch schlimmer werden; Neblich dagegen sagte, es würde so schön wie nie. Arturs Gefühle waren aufseiten der Eltern, aber sein Verstand wehrte sich dagegen. Es konnte einfach nicht sein, dass der Fromme schwindelte. Und Neblich konnte sich auch nicht irren, er wusste mehr als Vater. Nicht über Arbeitersachen und dergleichen, aber sonst. War auch kein Kunststück, Neblich hatte studiert. Neblich hatte auch gesagt, eines der besten Worte, das je ein Deutscher gesprochen, sei: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt." Der Bismarck hatte zwar das Sozialistengesetz gemacht, aber der Spruch war eigentlich mutig. Mut war richtig, also waren mutige Deutsche gut. Er, Artur, und alle Beckers waren Deutsche. Und wenn nun die Zeit der Helden kam, was war daran schlecht? Artur gefielen nun einmal Helden besser als Feiglinge. Helden hatten Deutschland groß gemacht, das stand in jedem Lesebuch. Vater sagte, das sei Schwindel, aber dass Deutschland nicht immer so mächtig war, das bestritt er nicht. Irgendwie musste es doch dazu gekommen sein, und weshalb nicht durch Helden und ihre Taten?
Eine Weile kam kein Extrablatt mehr. Die Stadt wurde wieder wie sonst. Die Leute beruhigten sich, und die Bedrückten hofften, die schwarze Wolke Krieg werde noch einmal vorüberziehen. Dann kam das heiße Juliende, und nun wurde es toll. Fast jeden Tag ein Extrablatt. Zuerst: "Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg"; dann: "Mobilmachung in Russland"; dann: "Mobilmachung und Kriegserklärung Deutschlands an Russland"; dann: "Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich"; dann: "Einmarsch in Belgien"; dann: "Krieg mit England." Der Sommerplatzregen von Weltereignissen wurde zum Wolkenbruch. Je mehr Feind, je mehr Ehr'; und immer feste druff, jubelten die von der Helden- und Tatenpartei.
Man hätte tausend Augen und Ohren haben müssen. Aber klug wurde Artur aus alledem nicht, so aufmerksam er auch den Schwätzenden, Redenden, Rufenden aufs Maul schaute. Die Bedrückten wurden immer stiller, die Lauten lauter. Nach der Mobilmachung war sozusagen jeden Tag Schützenfest. Blasmusik gab's sonst im Jahr nur ein paar Mal: bei Kaisers Geburtstag, beim Stiftungsfest des Kriegervereins und bei der Sedan-Siegesfeier. Zudem war Vater Becker meist an solchen Tagen mit der Familie in Busch und Berge gezogen. Doch wenn in diesen Tagen die Jungen das leise Bumbum einer Pauke hörten, rannten sie los; immer dem Ton nach, was die barfüßigen Beine hergeben wollten. Je näher sie der Musik kamen, desto dichter wurde das Menschengewühl am Straßenrand. Und wenn sie den Zug der Marschierenden erreicht hatten, liefen sie begeistert neben der Militärkapelle her. Die Freiwilligen hinter der Musik lachten, riefen und sangen. Sie hatten keine Angst vor Not und Tod, sie hatten sogar Humor, manche hatten auf ihren Pappkarton gemalt: "Jeder Stoß ein Franzos" - "Jeder Tritt ein Brit" - "Jeder Schuss ein Russ". Manchmal trat ein junges Mädchen aus der jubelnden Menge am Straßenrand auf einen Freiwilligen zu, heftete ihm ein Sträußchen an die Jacke und küsste ihn. In solchen Augenblicken war Artur überzeugt, dass Lehrer Neblich mit seiner großen Zeit recht habe. Auch alte Mütterchen taten Gutes, sie hatten Zigaretten und Zigarren gekauft und verteilten sie an die Helden. Die Menschen ringsum waren freundlich, umarmten sich, und es herrschte eine rechte Verbrüderung. Hätte Artur gestern nicht ein massiger Schlächtermeister mit befleckter Schürze, der vor Begeisterung aus seinem Laden rannte, den nackten Zeh blutig getreten, er hätte glauben können, er träume. Seitdem hinkte er ein wenig, die leiseste Ungeschicklichkeit fuhr ihm als spitzer Schmerz ins Gehirn und erinnerte an die Wirklichkeit. Dann sah er die bezaubernde Gestalt, vergaß den Schmerz und löste sich aus dem Trupp der mitziehenden Kinder, Halbwüchsigen und Bürger, um sie ganz von Nahem zu sehen. Der geküsste Freiwillige hatte sich wieder eingereiht, sah sich um und winkte. Sie winkte lächelnd zurück. Den Kopf mit dem ährenblonden Haar trug sie stolz wie Kriemhild, sie hatte blaue Augen, rosa Wangen und rote Lippen. Nun trat sie zurück auf den Bürgersteig zu einer Gruppe feingekleideter Damen. Die trugen teure Hüte mit künstlichen Kirschen darauf. Sie hielten sich sehr gerade, was erleichtert wurde durch die hohen Stäbchenkragen, von denen kostbare Jabots auf ihre Büsten fielen. Die Jabots waren festgesteckt mit Broschen, Abzeichen irgendeines vaterländischen Frauenvereins. Die große Vollbusige schien die Mutter der Kriemhild zu sein. Sie trug ein Körbchen, darin lagen die Sträußchen und Zigarettenschachteln. Die Damen unterhielten sich meist flüsternd, aber wenn man sich recht dicht neben sie stellte, konnte man einiges verstehen. Immer wenn die Begeisterung um sie herum etwas nachließ, nickten sie sich zu und begannen zu rufen, zu winken, Kusshände zu werfen und Zigaretten aus ihren großen Handtaschen. Am interessantesten war es neben der Imposanten und ihrer Tochter. "Dort, Elvira", flüsterte die Mutter, "der Käsegesichtige schaut so trüb drein." Rasch gab sie der Kriemhild Schachtel und Strauß aus dem Korb, und die trat strahlend auf den Käsegesichtigen zu, der einen Augenblick ungläubig im Schritt verhielt und dann errötete vor solcher Auszeichnung.
Die letzte Viererreihe war vorüber, eine Menge Begeisterter nach sich ziehend. Die Kriemhild schaute auf den Rest Schachteln und Sträußchen im Körbchen und sagte mit einer Stimme, die gar nicht wie Glockenläuten klang: "Schade, nicht schnell genug verteilt - die welken nun."
"A la bonne heure", lobte die Imposante, "hast tapfer geküsst."
"Komm schnell", einen Augenblick vergaß sich die Heldenmacherin, und ihre Miene wurde kalt wie ihre Stimme, "ich muss mir den Mund spülen." Angewidert fuhr sie sich über die Lippen, der Ekel machte ihr schönes Gesicht hässlich.
"Beherrschung, meine Teure!" Die Imposante lachte gekünstelt. "Ohne Begeisterung kein Sieg." Mit übertriebenen Floskeln verabschiedeten sie sich von den andern Vaterlandsdamen und gingen rasch davon. Artur schaute ihnen nach und dachte: Pfui Deibel!
Sie spielten auf dem Brachland zwischen den Ortsteilen Reinshagen und Vieringhausen Fußball. Aufgeschichtete Steine deuteten die Tore an, in den Boden gesteckte Stöckchen die Feldbegrenzung. Der Fußball war eine oft geflickte Lederhülle, statt mit praller Luftblase mit Lumpen gefüllt. Sie spielten verbissen, mit viel Geschrei. Arturs Stammmannschaft bildete jenes halbe Dutzend, das sich noch immer hin und wieder zu gemeinsamen Schularbeiten bei Beckers zusammenfand. Kaspar war ihr wendiger, unersetzlicher Torwart. Auf der Gegenseite kämpfte der Bäcker Alois mit seinen Mannen. Sie lagen 1:3 zurück und suchten ihre Torzahl durch grobes Spiel zu erhöhen. Einen Schiedsrichter gab es nicht, jeder Mann wurde auf dem Spielfeld gebraucht. So konnte es nicht ausbleiben, dass Fouls mit einem Gegenfoul geahndet wurden. Zum Glück spielten alle barfuß, da keiner Fußballtoppen besaß, die meisten nicht einmal Schuhe für den Sommer. Arturs Recken erhöhten auf 4:1, und die Alois-Leute wurden nun noch rabiater. Eben standen sich beide Mannschaften schimpfend und gestikulierend gegenüber, als jenes magische Bum-Bum-Bum aus der Innenstadt ertönte. Einen Augenblick standen alle lauschend, dann rief Kaspar: "Los, hin!" Er wurde von Alois angebrüllt: "Ihr habt da nichts zu suchen! Euer Liebknecht ist gegen den Kaiser und will, dass wir den Krieg verlieren. Für solche machen wir keine Musik!" Er spuckte aus und ermunterte seine Anhänger: "Kommt, Jungs, lasst die Roten!"
Im Laufschritt eilten sie vom Feld, zurück blieben bei Artur nur Kaspar und Reginald. Sie blieben aus Treue, denn sie wussten, dass Alois eigentlich nur Artur gemeint hatte.
Artur war wie gelähmt, der Schlag war so plötzlich gekommen. Die beiden Getreuen bedrängten ihn mit Fragen. Wer dieser Liebknecht sei, ob er wirklich gegen den Kaiser sei, und warum einer wünschen könne, dass Deutschland den Krieg verliere. Über das Letztere war sich Artur selbst nicht klar. Karl Liebknecht war ihm vertraut. Von ihm hatte Vater oft erzählt. Zu Karl blickte Artur auf, ihm lohnte es nachzueifern. Gestern Abend hatten Borbach und Vater heftig mit Grundewski gestritten, hatten Liebknecht verteidigt. Die Bewilligungsdebatte im Reichstag war in aller Munde. Tausende Presseorgane im Lande schimpften Liebknecht einen Vaterlandsverräter. Borbach und Vater meinten, er wäre noch nicht konsequent genug gewesen, hätte sich dem Fraktionszwang nicht beugen sollen, sondern gegen die Kriegskredite stimmen. Doch Artur war der Meinung Grundewskis gewesen, kein Deutscher dürfe wollen, dass sein Vaterland eine Niederlage erlitte. Aber konnte er dann an Karl Liebknecht zweifeln? Konnte er ihn aufgeben? Vor den beiden Freunden, vor dem dummfrechen Alois? Artur suchte in seinem Gedächtnis all das Gute zusammen, von dem Vater berichtet hatte. Dass schon Wilhelm, der Vater von Karl, mit Bebel für die Arbeiter gekämpft habe, damit es denen besser gehe. Dass er dafür ins Gefängnis geworfen wurde, die vaterlose Familie aber am Heiligabend, als eben die Tannenbaumlichter brannten, ausgewiesen wurde mit dem kleinen Karl und nun auf dunkler, vereister Landstraße fortwandern musste, sodass alle beinah' erfroren. Ob denn da einer den Kaiser und seine Leute gern haben könne, die so was aushecken?, fragte er Kaspar und Reginald.
Das kaum, meinten die beiden, doch glaubten sie es nicht so recht, schließlich hätten sie doch das Lied gelernt: "Der Kaiser ist ein lieber Mann ..."
Zum Glück fiel Artur der alte Piezker ein. "Wer bettelt an der Ecke vom Kaufhaus Alsberg?"
"Der alte Piezker", antwortete Kaspar und Reggi wie aus einem Mund.
"Was fehlt ihm?"
"Ein Bein", sagte Kaspar.
Reggi wusste mehr. "Es ist ihm abgeschossen worden von den Boxern in China, und er hat dafür einen Orden gekriegt."
"Vom Kaiser, nicht wahr?" Artur hoffte auf ein Ja Reggis, aber der schüttelte den Kopf. "Von seinem Hauptmann."
"Klar. Aber der Hauptmann kann ihm doch bloß den Orden geben, wenn es der Kaiser bestimmt."
Das sahen beide ein. Endlich konnte Artur fragen: "Und warum gibt ihm der Kaiser nicht so viel, dass Piezker nicht zu betteln braucht?"
"Mein Vater sagt, der hat mehr als wir", erzählte Reggi, "der reist bloß auf das Mitleid der Leute."
Das war Artur noch nie eingefallen, weil es ihm nicht in den Sinn gekommen wäre, selbst Derartiges zu tun. Verzweifelt suchte er nach einem Argument und war froh, als er fragen konnte: "Würde sich denn dein Vater in Wind und Wetter hinhocken, wenn ihr auch ohnedem satt zu essen hättet?"
Reggi überlegte noch, Kaspar fand: "Schön dumm. Immer hat der alte Piezker Husten und Schnupfen, und sie sagen, Rheuma hat er auch."
Artur war Kaspar dankbar. "So was sagen bloß die, die nicht wahrhaben wollen, dass der Kaiser seine verwundeten Soldaten hungern lässt, und die an solche verschwindelten Lieder glauben."
"Vielleicht weiß es der Kaiser nicht?" Reggi wollte sein Idol retten.
Kaspar fand die verblüffende Antwort: "Er hat's doch gewusst, dass er ihm den Orden gegeben hat. Da hätt' er ihm auch Geld geben sollen."
"Ein Bein war doch genug, muss sich Piezker noch Rheuma dazuholen?" stieß Artur nach, und Reggi war ernstlich nachdenklich.
Artur erinnerte sich der Erzählung Vaters von jenen Kaiserworten, die in der Welt Aufsehen erregt und nicht wenig dazu beigetragen hatten, der sozialdemokratischen Agitation mehr Gehör zu verschaffen. "Weißt du nicht, dass der Kaiser seinen Soldaten gesagt hat, sie müssen auf Vater und Mutter schießen, wenn er befiehlt?"
Reggi war betroffener als Kaspar. Ihm fiel nichts Besseres ein, als zu fragen: "Kriegen wir das noch in Geschichte?"
Artur lachte mitleidig. "Die werden sich hüten. Du rennst ja auch nicht auf die Straße und posaunst heraus, wenn du was Schlechtes gemacht hast."
Reggis Kaiserbild schien angeknackst. "Wenn der Liebknecht sich über den Kaiser geärgert hat ... Na ja - aber dafür können wir doch nichts. Deswegen darf er doch nicht wollen, dass wir den Krieg verlieren?"
Da war sie, die schlimme Frage, mit der sich Artur selbst noch herumschlug. "Der wird schon wissen, warum", versuchte er auszuweichen.
"Aber du weißt es nicht", triumphierte Reggi.
Artur erlebte zum ersten Mal, wie einen die Auseinandersetzung mit anderen oft schneller vorwärts bringt als die in der eigenen Brust. Er kam der Wahrheit näher, als er stotternd sagte: "Liebknecht will nicht, dass sich die Menschen gegenseitig totschießen. Aber der - der Kaiser, der will Krieg. Der hat immer mit dem Säbel gerasselt. Und nun - vielleicht meint Liebknecht, wenn so einer - wenn der Kaiser den Krieg verliert, dann geschieht ihm recht, damit - vielleicht, dass es dann mit dem verfluchten Totschießen aufhört, und keiner braucht mehr Rheuma zu kriegen beim Betteln."
Kaspar wurde das Gespräch zu schwierig, und in seiner praktischen Art brach er es ab mit der Frage: "Rennen wir noch hin?"
Artur begann umständlich, den Verband neu um seinen Zeh zu wickeln. Schon wieder eine Entscheidung, die sie von ihm verlangten. Lehnte er jetzt ab, würden sie allein gehen - zu Alois. Der hatte ihm nicht die Straße zu verbieten.
Der Verband saß. Artur richtete sich auf und sagte sehr selbstverständlich: "Los! Der Dicke soll mal kommen." Alois war zwar nicht mehr so aufgeschwemmt wie bei der Einschulung, doch den Spitznamen hatte er behalten.
Sie trabten los. Trotz seines Hinkens bemühte sich Artur, an der Spitze zu laufen. Sie kamen zu spät. Die Musik war verstummt, aus dem Stadtinnern strömten die Menschen zurück. Sie schwitzten, wedelten sich mit ihren Strohhüten Luft zu, und ihre staubigen Stiefel zertraten hie und da Blumen, die auf dem Pflaster welkten.
Kaspar sah Alois zuerst. "Da kommt der Dicke", sagte er, und in seiner Stimme war ein leichtes Zittern.
Fast zur gleichen Zeit entdeckte Alois sie. Mit wilden Gebärden feuerte er seine Rotte an. Sie umringten die Drei, die sich Rücken an Rücken um eine Laterne stellten. "Na, ihr Drietlöppel", frohlockte Alois, "euer Glück, dass ihr gekuscht habt." Er fühlte sich in der Übermacht und gedachte seinen Triumph auszukosten.
"Wenn du so 'n Zeh hättest wie Artur, würdest du überhaupt nicht auf die Straße gehen." Der Versuch, die Stimmung zu neutralisieren, war gut gemeint von Reggi, doch er verletzte das Ehrgefühl Arturs. Um so mehr, als Alois sofort in die Kerbe hieb: "Hihi, aber Fußballspielen konnte er!"
"Hast doch gesehen, wie er dabei gehumpelt ist", rief Kaspar.
"Und warum ist er nicht mit der Musik mitgehumpelt?", höhnte Alois.
"Weil wir noch was zu besprechen hatten", sagte Artur.
Alois fragte: "Hast 'ne Rede gehalten wie dein roter Liebknecht, was?"
"Der ist hundertmal schlauer als du."
"Ein Feigling ist er, ein Vaterlandsverräter!" Alois stand dicht vor Artur und zischte es ihm ins Gesicht. In Artur schoss eine heiße Welle hoch. Blitzschnell fuhr seine Hand vor, und er brüllte: "Das ist für den Feigling und das - für den Verräter!" Zwei Ohrfeigen brannten im Gesicht des Dicken.
Blind vor Wut stieß Alois mit der Faust zu. Artur wich aus, der Angreifer verletzte sich am Laternenpfahl. Es machte ihn noch rasender. Einen der Zuschauenden stieß er aus den Holzpantinen, raffte eine auf und drang auf Artur ein.
Dieser Schuft, mit einer Pantine gegen Fäuste! Jetzt drauf, und wenn du dran verreckst! Zielbewusst setzte Artur seine Schläge ins Gesicht des Gegners. Alois erkannte die Taktik und drang nun mit gesenktem Kopf auf den Feind ein. Artur gelang es, Alois die Pantine zu entreißen. Jetzt trommelte das Holz auf Hände und Schädel dessen, der mit ihm den Kampf unfair begonnen hatte. Alois konnte nur noch mit den Armen seinen Kopf schützen, "Hilfe, Hilfe - helft mir doch!" kreischte er.
Eine harte Hand packte Artur im Genick, riss ihn zurück. "Schämst du dich nicht? Mit einer Waffe gegen einen Waffenlosen?"
Artur wandte sich um, sah in zwei vorwurfsvolle Augen hinter einem Zwicker. Der Mann im dunklen Anzug mit dem steifen Kragen erinnerte ihn an Rektor Kunz.
"Er hat angefangen, mit der Pantine zu schlagen!" keuchte Artur. Erst als ihm das Kinn feucht wurde, spürte er, dass er weinte. Tapfer hatte er seinen Helden verteidigt, tapfer sich gewehrt und einen stärkeren, bewaffneten Gegner besiegt und nun wurde er beschimpft. Ein Junge weint nicht, sagte Vater, doch es lag nicht mehr in seiner Gewalt, dem guten Grundsatz treu zu sein.
"Jawohl, der Dicke hat angefangen", rief Kaspar, "alle haben es gesehen!" Aufgebracht wies er auf die Umstehenden. Selbst Alois' Freunde konnten dagegen nichts sagen.
"Gleichwie", zeterte der Mann mit dem Zwicker, "ihr solltet euch schämen. Macht, dass ihr nach Hause kommt!" Er fuchtelte mit seinem eingerollten Regenschirm.
Die Jungen folgten dem Rat. Artur und Kaspar gingen nebeneinander. Hat er aus Freundschaft zu mir gehalten oder wegen der Schularbeiten, schoss es Artur durch den Kopf. Gleich darauf schämte er sich des Gedankens und legte seinen Arm um die Schulter des Kleineren.
Alois entsann sich einer witzig sein sollenden Namensverdrehung, die er zu Hause aufgeschnappt hatte. Sie entstammte einem Pamphlet gegen Bebel und Wilhelm Liebknecht anlässlich des Leipziger Hochverratsprozesses. "Macht Beine, ihr Doofen, Nebel und Piepknecht - Nebel und Piepknecht!", schrie er Artur und Kaspar nach.
Die beiden Arbeiterführer verehrte Vater am meisten, neben Karl, dem Sohn Wilhelms. "Lass ihn jaulen", ermutigte Artur den Freund, "damit kann er uns nicht beleidigen. Er hat seinen Denkzettel weg."
Brüderlich drückten sie sich vor dem Leutnerschen Haus die Hand. Gedankenvoll lief Artur weiter. Außer dem Zeh gab es nun einige Stellen mehr am Körper, die schmerzten.
Als er in die Küche trat, saß die Familie beim Abendessen. Erschrocken starrten alle auf Artur, dem gar nicht bewusst war, wie verwegen er mit der Stirnbeule, dem geschwollenen Auge und dem geschlitzten Hemd aussah. Ehe die Mutter ihm Essen auftat, machte sie ihm einen kühlenden Kopfverband. Stoisch erzählte Artur, von Begeisterungsrufen Eugens unterbrochen und von Hedwig bestaunt, während er mit Heißhunger aß. Als sein Teller leer war und er verstohlen zum Herd sah, stiftete Hedwig begeistert den Rest ihrer Mahlzeit.
Der Vater hatte schweigend zugehört. Jetzt nahm er Artur bei den Schultern. "Man muss ihnen die Zähne zeigen, sonst nehmen sie uns unter die Füße!"