Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 8
ОглавлениеSiege erträumen ist leicht
Beim Gespräch mit dem Vater schien alles kinderleicht. Die Freundschaft Fräulein Mareins würde Artur sich wieder erwerben, wenn er alles so machte wie besprochen. Aber nun mach mal einer. Die Worte der Lehrerin wirkten nach, es bat keiner, abschreiben zu dürfen. Wenn er nun die Mutze oder den Kaspar einlud, würden die bestimmt Lunte riechen. In nicht viel besserer Stimmung als am Vortage trottete Artur von der Schule nach Hause. Beim Mittagessen neckte ihn die Mutter mit ihren hingeworfenen Bemerkungen, und das hob Arturs Laune keineswegs. Verbissen machte er sich an die Schularbeiten. Die Grübeleien dabei starten ihn wie lästige Fliegen. Als er fertig war, nahm er ein Buch und verkroch sich in der Kammer.
"Die Flusspiraten des Mississippi" ließen ihn seinen Weltschmerz vergessen. Das war eine Welt! Da gab es keine beleidigten Lehrerinnen, keine dummen Mitschüler. Artur kämpfte mit bösem Getier und noch böseren Menschen, er fand die guten, und er litt mit ihnen. Seine Wangen röteten sich, seine Augen glänzten.
Schwester Hedwig kam in die Kammer. Überrascht sah sie den lesenden Bruder, der sie nicht beachtete. Sie stellte sich hinter Artur, um einen Blick in das Buch zu tun. Da sah sie ein buntes, abenteuerliches Bild. Begeistert patschte sie in die Hände. "Lies mal vor - bitte vorlesen!"
Unwirsch schreckte Artur aus seiner farbigen Welt und wechselte über zur Fensterecke, wo ihm niemand von hinten ins Buch schauen konnte. Nun betrommelten die Hände der Fünfjährigen das Knie des Bruders. "Los - vorlesen!"
"Das verstehst du noch nicht", herrschte Artur sie an.
Hedwig heulte. Artur stopfte sich die Zeigefinger in die Ohren. Hedwig heulte lauter. Dann stand die Mutter in der Tür. "Lies ein Stück", flüsterte sie Artur zu. "Wenn Hedwig es nicht versteht, wird's ihr von allein langweilig."
Geräuschvoll zog Artur die Luft ein. Dies sollte ein Seufzer sein und Nachgeben bedeuten. Mitten im Satz, auf der Seite, die er eben begonnen hatte, las er los. Schnell, ohne Punkt und Komma. Hedwig rückte das Fußbänkchen dicht zu ihm und machte ein verständiges Gesicht. Allmählich zog die Handlung den Lesenden in ihren Bann. Er begann vernünftig zu lesen, betonte immer besser und wurde dramatisch, wo es aufregend war.
Das Kapitel war zu Ende, Artur drückte sacht das Buch zu. Die Schwester krabbelte auf seinen Schoß und flüsterte ihm ins Ohr: "Wunderschön."
Der Bruder wurde verlegen und brummelte etwas. Deutlich erinnerte er sich an die Zeit, als er empört gewesen war, wenn der Bruder sich geweigert hatte, ihm vorzulesen.
Als nach Schulschluss am nächsten Tag die Schar über den Schulhof lärmte, war Kaspar plötzlich neben Artur. "Gehst nach Hause?", fragte der Sommersprossige halb verlegen, halb zutraulich.
Artur sah ihn leicht verwundert an und dachte, er weiß doch, dass meine Eltern nicht verknusen können, wenn ich mich nach der Schulzeit herumtreibe. Außerdem habe ich Kohldampf. Doch er ließ sich nichts anmerken und sagte freundlich: "Na klar."
Kaspar druckste eine Weile, dann brachte er heraus: "Kann ich mitkommen?"
Artur legte dem kleinen Stämmigen den Arm um die Schulter und griente ihn an. "Bisschen abschreiben?"
Entrüstet blieb Kaspar stehen und zeigte ihm einen Vogel. "Von wegen! Ich lass mir doch nicht noch mal den Arsch versohlen."
Artur stutzte. "Fräulein Marein hat dir doch nichts getan."
Wehleidig erzählte Kaspar. Eugen hatte die Unterhaltung zwischen Artur und dem Vater mit angehört und alles seinem Busenfreund Karle weitererzählt. Karle, Kaspars Bruder, hatte es Vater Leutner berichtet. Der hünenhafte Kesselschmied war gutmütig, aber jähzornig. Zum ersten Mal erfuhr er nun, dass sein Jüngster zu den Schlechtesten der Klasse gehörte. Das war neu bei Leutners, denn mit den anderen Dreien, alles Jungen, hatte es kaum Schwierigkeiten in der Schule gegeben. Die Schande erregte den Kesselschmied maßlos, gerade in seinen Jüngsten war er vernarrt. Dementsprechend fiel die Wucht aus. Dabei hatte der Vater gebrüllt, Kaspar solle heilfroh sein, dass solch ein Junge in der Klasse sei wie Artur. Wenn Kaspar dessen Hilfe nicht annehme, wäre noch eine Portion fällig.
Angstvoll fragte Kaspar: "Nimmst du mich mit?"
"Na klar", sagte Artur abermals, sehr väterlich, sehr bestimmt. Zwar war es peinlich, dass der Schlachtplan verraten worden war, doch auch tröstlich, dass sich nun endlich etwas anließ.
Verlegen schoben sich die beiden in Beckers Küche.
"Wir machen zusammen Schularbeiten, Mama", sagte Artur, "kannst Kaspar auch 'nen Teller voll geben, ich habe heute nicht so 'n Hunger."
Luise Becker wandte sich ab, um ihr Lächeln nicht zu zeigen. Der und keinen Hunger. Als Luise den beiden zwei gleich große Teller mit Milchreis füllte, schoss Kaspar das Wasser im Munde zusammen. Trotzdem protestierte er: "Ich bin satt. Wir essen immer später."
Artur drückte ihm den Löffel in die Hand, und Kaspar erklärte, aus Höflichkeit werde er mitessen. Hedwig schaufelte langsam den Zucker mit Zimt von ihrem Reis. Sie war mäklig und aß nur, was ihr schmeckte. Als sie säuberlich den Reis vom Süßen befreit hatte, schielte sie begehrlich zur Dose mit dem Zimtzucker. Aus pädagogischen und aus Sparsamkeitsgründen blieb die Mutter hart. Da schob Hedwig ihren halb vollen Teller beleidigt beiseite. "Könnt ihr euch noch teilen, Jungs", sagte die Mutter leichthin und wickelte den Topf mit dem Rest des Essens in eine Wolldecke, damit es für Eugen warm bleibe.
"Isst du nichts?", fragte Artur die Mutter.
"Ich kriege bei Schmands", sagte sie, warf sich ihr Umschlagtuch über und verließ unter Ermahnungen die Wohnung. Artur hätte ihr nachrennen mögen und einen Kuss geben. Er wusste, dass die Schmands ihre Reinemachefrau immer erst zu halb zwei bestellten, wenn sie mit dem Mittag fertig waren, da brauchten sie nachmittags nur Malzkaffee mit dünn bekratzten Schnitten zu geben.
Nach dem leckeren Mahl arbeiteten sie jeder erst für sich. Als Artur mit allem fertig war, saß Kaspar noch bei den Deutschaufgaben; je fünf Sätze mit "der, die, das" waren zu bilden. Artur nahm Kaspars Heft und las: "Der Man is alt / Der junge ist jung / Der Hunt ist frech / Der Stok is lang / Der Stok ist Kurz." Dann kam ein mittelprächtiger Tintenklecks, und es folgten die gleichen Sätze, in denen lediglich das männliche durch ein weibliches Hauptwort ersetzt war. Unnachsichtig strich Artur alle Fehler an. Immer wollte Kaspar wissen, warum es ein Fehler sei. Eifrig bewies Artur, dass man ja nicht Kinter sage, sondern Kinder, also müsse Kind hinten mit einem d geschrieben werden. Vor allem ärgerte er sich über Kaspars Fantasielosigkeit. "Du musst jetzt neue Sätze suchen, nicht einfach von den ersten fünf abschreiben und bloß das eine Wort auswechseln."
Eisern exerzierte Artur mit Kaspar, bis alle fünfzehn Sätze dastanden. Nicht wenig war durchgestrichen, neu geschrieben oder verbessert. Eigentlich hätte Kaspar noch einmal alles sauber abschreiben müssen, aber die Seelenstärke traute ihm Artur nicht zu. Auch er besaß sie nicht mehr.
Dann begann das Lesen. Artur machte ein Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. Beim dritten Satz fuhr er dazwischen: "Ich werde dir einen Trick verraten. Du musst immer erst ein Wort im Kopf zusammenbuchstabieren, bevor du es aussprichst. Nicht: S-i-e g-i-n-g-e-n i-n d-e-n G-a-r-t-e-n; sondern Sie - gingen - in - den - Garten."
Kaspar versuchte es. Obwohl sein Zeigefinger die einzelnen Buchstaben geradezu aufspießte, gelang es ihm nicht, sie im Kopf zusammenzuziehen, ehe er sie aussprach. "Noch mal", forderte Artur, und "noch mal". Dann wusste Kaspar den Satz auswendig, und es hörte sich erträglich an. Doch beim Nächsten begann die Stotterei von Neuem. Artur tobte innerlich. "Noch mal", forderte er immer wieder, und als der Abschnitt durchgepflügt worden war: "Jetzt von vorn."
Mit brüchiger Stimme fügte sich Kaspar. Es war wie eine mühsame Gipfelpartie durch Gestrüpp und über Felsgestein. Kaum oben angekommen, japsend, ermattet, verlangte der unbarmherzige Bergführer abermals: "Lies noch einmal."
Kaspar sprang auf. "Nein", schrie er, "da lass ich mir lieber wieder die Hucke vollhauen!" Wie gehetzt jagte er hinaus. Verlassen lag das von vier Jahrgängen zerfledderte Lesebuch mit den grauen Eselsohren.
Artur saß erschrocken da und hätte heulen mögen.
Eugen trat in die Kammer. "Was war denn los?"
Der Schiffbruch überwältigte Artur so, dass ihm nun wirklich die Tränen kamen. Eugen war meist geneigt, die Probleme des Jüngeren nicht ernst zu nehmen. Aber diesen Jammer des Bruders verstand er, nicht zuletzt, weil er sich mitschuldig fühlte. "Heul dich ruhig aus", sagte er väterlich, "und dann wollen wir sehen."
Damit lichteten sich für Artur die Nebel des irdischen Jammertals. Eugen borgte ihm sogar sein Taschentuch, und gemeinsam zogen sie los, sich mit Kaspar zu versöhnen.
Leutners wohnten in einem ähnlichen Häuschen wie Beckers. Schon von Weitem sahen die beiden Kaspar auf der Stufe zum Hauseingang hocken, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in die Hände gepresst.
"Aber der Reis hat ihm geschmeckt, was?", spottete Eugen gutmütig.
Artur nahm den Ton des Bruders auf. "Er hat gefressen für zwei. Erst Mutters, dann noch die Hälfte von Hedwigs Reis."
"Ich hab's am kleinen Rest gemerkt", unterstrich Eugen, "aber ich würde ein ganzes Mittagessen geben, wenn Kaspar davon mehr Grips kriegte."
Sie standen vor Kaspar.
Er hob den Kopf, und sie blickten in ein Gesicht voll tiefster Weltverachtung. "Ich geh' ins Wasser, dann werden sie schon alle sehen."
Scheinbar teilnahmsvoll schaute Eugen auf die schmutzigen Knie des Lebensmüden und sagte: "Bis an den Hals wäre mal gut. Aber dein Kopf wird noch gebraucht. Hartholz gibt gute Blottschen."
"Du bist doch bloß schuld", schleuderte Kaspar ihm entgegen.
"An der Abreibung", gab Eugen zu, "aber nicht an deinem harten Kopf."
"Ihr könnt bloß immer meckern. Denkst du, Karle und Otto haben mir mal was gesagt? Du hast Artur immer geholfen."
Eugens Gerechtigkeitssinn wehrte sich. "Stimmt nicht, eher schon unser Vater."
"Vatern darf ich schon gar nicht kommen."
"Und dem Einzigen, der dir hilft, dem rennst du weg", erinnerte Eugen.
Das war Kaspar unangenehm, und er lenkte ab. "Habt ihr meine Schulmappe mitgebracht?"
"Seid ihr denn mit den Schularbeiten fertig gewesen?" forschte Eugen.
"Brauchen wir nicht!", schrie Kaspar. "Wo ich sowieso Schluss mache."
"Nun lass den Quatsch", tadelte Eugen und packte den Stier bei den Hörnern. "Jetzt kommst du mit, deine Mappe holen. Artur hat dich genug gezwiebelt, brauchst heute nicht mehr zu üben. Dafür gucken wir uns noch 'Wahre Jakobs' an."
Ungläubig schielte Kaspar zu Artur hin. Der nickte eifrig. "Weißt doch, wir haben solche Stöße."
Kaspar wusste es. Eugen und Karle hatten sich oft an den bunten Heften mit den lustigen Bildern vergnügt, und er hatte sich manchmal gewünscht, dabei sein zu dürfen. Das war aber nichts gegen die Vorstellung, kein Wort mehr lesen zu müssen. Am liebsten wäre er aufgesprungen und mit den beiden losgezogen, doch es tat wohl, sich ein wenig bitten zu lassen.
Um die Einigung nicht zu stören, widersprach Artur nicht, als der Bruder lockte: "Wenn du mitkommst, verrate ich dir auch, wie man alles auswendig in den Kopf kriegt, ohne lange zu lernen."
Diese Aussicht veranlasste Kaspar, seine Lebensmüdigkeit hintanzustellen. Er erhob sich, und einträchtig wanderten sie zurück. In der Kammer ließ Artur Kaspars Lesebuch in der Schulmappe verschwinden.
Aufatmend sah es Kaspar und mahnte Eugen: "Sag das mit dem auswendig."
Eugen nahm ein Schullesebuch, legte die Seite mit der "Glocke" aufgeschlagen vor Kaspar hin und begann herunterzuschnurren: "Festgemauert in der Erden ..."
Ehrfürchtig lauschte Kaspar. Eugen brach ab und verkündete: "Kann ich bis zu Ende. Bloß dreimal durchgelesen und dann ...? Was meinst du wohl, hm?" Eugen spreizte sich wie der Hexenmeister vor dem Zauberlehrling. Er nahm das Buch und schob es unter das Keilkissen seines Bettes. "Eine Nacht unterm Kopf, und am andern Morgen konnte ich's."
Kaspar schlug vor Entzücken mit der Faust auf die Tischplatte. Artur machte sich abgewandten Gesichts zu schaffen. Eigentlich war es von Eugen gemein. Aber vielleicht ... Kaspar konnte wahrlich etwas Glaube und Zuversicht gebrauchen.
Kaspar erinnerte die Brüder an das zweite Versprechen.
Die schleppten einige Jahrgänge der Zeitschrift "Der Wahre Jakob" herbei. Die Bilder sprachen meist für sich, und Kaspar hütete sich, nach der Unterschrift zu fragen. Keiner forderte ihn auf vorzulesen. Ab und zu fand sich eine Zeitschrift etwas anderen Formats. Auf einem solchen Heft aus dem Jahre 1903 war eine schlimme Titelzeichnung. "Ist gar nicht ulkig", entfuhr es Kaspar.
"Ach, 'n Simplicissimus", sagte Eugen sachkundig, und Artur las vor: "Durchs dunkelste Deutschland - Crimmitschau." Sie fanden das Bild ebenso wenig zum Lachen wie Kaspar. Auf einer zusammengepressten Masse ausgemergelter Elendsgestalten lag ein wuchtiges Brett, Gendarmen und einige wohlgenährte Herren in Gehpelz und Zylinder trampelten darauf herum. Der eine von ihnen rief: "Es müssen mehr Schutzleute hinauf. Die Luder sind noch nicht weichgedrückt!" Das stand darunter.
"Warum machen die 'n das?", erkundigte sich Kaspar.
"Weißt du doch selbst, wie die Schandeckels immer die Armen piesacken'', erläuterte Eugen.
"Na ja", räumte Kaspar ein, "wenn wir Koks von den Halden holen oder Kartoffeln stoppeln, das wollen die nicht. Aber so was mit 'm Brett, das machen hier unsre nicht, die schreiben bloß auf und schimpfen."
"Und die feinen Herren, wie Vaters Chef, die werden sich hüten, sich selber mit uns rumzuärgern", meinte Artur.
Das Wesen der Satire zu erklären, wäre von Eugen zu viel verlangt gewesen. Unsicher fuhr er sich mehrmals über die igeligen Haarstoppeln und dachte mit Unbehagen daran, dass Vaters Haarschneidemaschine bald wieder darin herumfuhrwerken würde. Endlich kam ihm eine Erleuchtung: "Woanders sind sie wohl schlimmer. Da steht ja auch: Durchs dunkelste Deutschland."
"Und warum steht da noch: Crimmitschau?" wollte Artur wissen.
Eugen zupfte sich am Ohrläppchen, das im Gegensatz zu seiner käsigen Gesichtsfarbe rosig schimmerte. "Weiß ich's? Ist wohl der Ort, wo sie das gemacht haben."
"Wir werden Vater fragen", entschied Artur.
Frau Becker kam von der Arbeit bei Schmands zurück. Kaspar erschrak und erkundigte sich nach der Zeit. Hastig riss er seine Mappe an sich und rief im Hinausrennen: "Schön 'n Dank. Wenn wir immer Jakobs ansehen, komme ich morgen wieder!"
Eugen rief ihm nach: "Aber vorher gehst du mittagessen!"
Als ihn Mutter und Bruder rügten, griente er. "Anderen müssen wir Nachhilfeunterricht bezahlen, aber wir sollen ihn obendrein ernähren."