Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 5
ОглавлениеKönigskind in falscher Gegend
"Man muss ihnen die Zähne zeigen, Gigorek!" Der stämmige Feilenhauer war aufgesprungen und hatte die Faust in die Luft gestoßen. Dabei streifte er einen Pappmond, sodass die kitschige Deckendekoration des kleinen Vorstadtlokals ins Schwingen kam.
Vielstimmiges Echo antwortete dem Protest.
Der stattliche Mann hinter dem Tisch auf dem Podium schien der gleichen Meinung zu sein. Er nickte mehrmals, ehe er erwiderte: "Aber unsere Zähne müssen auch etwas zu beißen haben, Kollege Becker."
"Gerade deshalb müssen wir's durchstehn!", rief Borbach, ein älterer Kollege, der den erregten Becker auf den Sitz zurückgezogen hatte.
"Deshalb beraten wir darüber", entgegnete Gigorek gütig.
"Wir beraten, wie wir den Streik gewinnen können, und du willst ihn abbrechen", kam es aus der hinteren Saalecke.
"Ich habe unsere Chancen dargelegt. Ob wir den Streik abbrechen oder nicht, müsst ihr entscheiden!" Gigorek strich nachdrücklich seinen Knebelbart.
"Pass Obacht, Gigorek! Ein Verbandssekretär muss uns Mut machen, anstatt abzuwiegeln!" Wieder war Becker aufgesprungen, wieder hatte seine ungestüme Faust den Mond getroffen, und die Masken, Fratzen und närrischen Symbole unter dem verräucherten Deckenholz tanzten, als wäre ein Windstoß durch den Saal gefegt.
Das löste Heiterkeit aus. Grundewski, der rechte Nachbar Beckers, brummte: "Nu lass mal endlich den Mond in Ruhe."
Gigorek benutzte das Ungeschick Beckers zu einem Seitenhieb. "Die Unternehmer sind leider nicht von Pappe wie der Mond da. Den kannst du mit einem Boxhieb zu Boden bringen, Kollege Becker, aber nicht den Arbeitgeberverband. Gegen den müssen wir schon ein bisschen den Kopf gebrauchen." Mehrere lachten, einige beklatschten Gigoreks Worte. Das stachelte die Wut des stämmigen Feilenhauers noch an. Borbach wollte ihn wieder auf den Stuhl ziehen, doch Becker stieß dessen Hand von seiner abgewetzten Joppe und rief: "Ein Bebelbart genügt nicht, man muss auch handeln wie Bebel!"
Gigorek antwortete lächelnd: "Was hat mein Bart mit euerm Streik zu tun?" Er zupfte die untadelige Künstlerkrawatte zurecht und sagte würdevoll: "Hier ist keine Wahlversammlung, wir beraten über den Streik."
In der Versammlung erhob sich Widerspruch. Borbach nutzte die Stimmung und fragte laut: "Bist du etwa gegen Bebel, Gigorek?"
"Natürlich nicht, Kollege." Der Verbandssekretär hob beschwörend die Hände. "Ich schätze Bebel wie keinen andern, nicht zuletzt deswegen, weil er durchaus zu unterscheiden weiß zwischen Gewerkschaft und Partei. Die Unternehmer kann man mit politischer Agitation nicht aus dem Sattel heben. Hier im Bergischen Land ist es eine ganz besondere Sorte. Mindestens so hart wie ihre Remscheider Stahlwaren."
"Darum gehören sie zum Teufel wie der ganze Plunder hier!" Ein hünenhafter junger Rohrzieher war aufgestanden. Ohne den Arm besonders recken zu müssen, zupfte er an einer Schnur über sich, und alle Pappmascheefratzen begannen wieder zu hüpfen.
Diesmal bemühte sich Gigorek nicht, geistreich zu entgegnen. Seine dunklen Augen in dem ebenmäßigen Gesicht blickten tadelnd auf den jugendlichen Spaßmacher. Hart klopfte er mit den Knöcheln auf die abgescheuerte Tischplatte. "Bitte mehr Ernst, Kollegen! Wir stehen die zweite Woche im Streik. Keinem geht es rosig. Wer etwas zur Sache zu sagen hat, soll es tun. Andernfalls schlage ich vor, wir stimmen ab, ob wir den Streik fortsetzen oder ..."
"Wir brauchen keine Abstimmung, sondern Maßnahmen, den Streik zu gewinnen!" Becker war diesmal sitzen geblieben.
Borbach unterstützte ihn. "Dazu ein Vorschlag: Gigorek wird von uns beauftragt ..."
"Warum so undemokratisch?", unterbrach ihn Grundewski. "Unser Sekretär hat eine Abstimmung vorgeschlagen, das ist genau nach Verbandsstatut. Erheben sich Gegenstimmen, müssen wir erst mal darüber abstimmen. Ich stelle den Geschäftsordnungsantrag."
Walter Becker reckte heftig den Arm zur Wortmeldung, als ihn jemand am Ärmel zupfte. Unwirsch wandte er sich um und sah in die aufgerissenen Augen Eugens, seines Erstgeborenen. "Sollst nach Hause kommen, wir haben 'n Kind gekriegt."
Die Kollegen um Walter Becker schmunzelten; Anteilnahme und gutmütiger Spott waren in ihren Zurufen. "Trab los, Walter, gib ihm den Vatersegen", sagte Borbach.
Den impulsiven Feilenhauer bewegten widersprechende Gefühle. Nun also doch schon, dachte er, kaum hatten wir uns vom "blinden Alarm" der Vorwehen erholt und gehofft, erst nach dem Streik ...
Vor den anstürmenden Sorgen flackerte die Freude in ihm nur wie ein bescheidenes Flämmchen.
"Nu komm, Papa", drängte Eugen.
Walter Becker zog ihn neben sich auf eine Ecke des Stuhls. "Gleich, bloß noch die Abstimmung."
Der Appell Grundewskis hatte Erfolg. Die Mehrzahl entschied sich für den Vorschlag Gigoreks, über Fortsetzung oder Abbruch des Streiks geheim abzustimmen.
Flüsternd tauschte Walter Becker mit dem Genossen Borbach noch einige Worte, dann ging er mit seinem Jungen leise aus dem Saal. "Hoffentlich ist alles gut gegangen", murmelte er draußen vor sich hin, das Kind an seiner Hand vergessend. Altklug sah der Kleine zu ihm auf. "Frau Schütz sagt, der Storch hat nicht doll gebissen, Muttel kann zufrieden sein."
Sie kommen in den Remscheider Stadtteil Reinshagen. Dort steht in der Tiroler Straße 13 das Häuschen. Wie meist im Bergischen Land, sind die Wände mit Schieferschindeln gedeckt. Es ist eher ein Dorf- als ein Stadthaus. Schon einmal zog es Walter Becker so heftig dorthin wie jetzt. Damals kam man von der Arbeit, nicht von einer Streikversammlung. Als der Eugen geboren wurde. Er lächelt vor sich hin. Komisch, wie in einer Posse: beide Jungen auf den gleichen Tag geboren. Den 12. Mai wird er nicht vergessen.
Der Kleine kann kaum noch Schritt halten, trippelt tapfer, heftig atmend. Kurz entschlossen nimmt ihn der Vater unter den Arm wie ein Bündel, läuft die letzten hundert Schritte im Dauerlauf. Hei, das ist ein Spaß für den Jungen. Fast so schön wie huckepack.
Im Flur begrüßt Becker die Nachbarin, Frau Wiesflecker. Beruhigend nickt sie dem Mann zu, verschwindet geschäftig in der Stube. In der Küche hantiert Frau Schütz, die Hebamme. Den Gruß Beckers überhört sie, stemmt die Hände in die Hüften. "Das ist mir 'n Vater! Arbeitet nicht, aber lässt die Frau in der schweren Stunde allein."
Walter Becker wischt die schweißige Stirn, schaut der rotgesichtigen Frau pfiffig ins Gesicht. "Sie sind doch zufrieden, wenn die Väter Ihnen dabei nicht im Wege stehen."
Die Schütz ist nicht gleich zu besänftigen. "Und wo sind wenigstens 'n paar Blumen?"
Ablenkend fragt der junge Vater: "Kann man mal erfahren, was es ist?"
Jetzt strahlt die Frau, die manchem Jammerwurm in den Proletarierbezirken ans Licht der Welt geholfen hat. "Ein prächtiger Junge. Sechs Pfund."
"Darf man ...?" Erwartungsvoll weist Walter Becker zur Stubentür.
"Gehn Sie schon! Aber manierlich, keine Aufregung."
Behutsam öffnet er die Tür. Mit blassem Gesicht lächelt ihm Luise zu. Aus dem Bündel neben ihr schaut ein winziges dunkelrotes Gesicht, das Köpfchen voller Wuschelhaare. Frau Wiesflecker legt den Finger auf den Mund, verschwindet dann. Walter Becker lässt sich auf dem Bettrand nieder, nimmt die Hände seiner Frau.
Schwach, doch voller Zärtlichkeit sagt sie: "Ein wunderschönes Kind. Artur soll es heißen".
Walter Becker nickt. Wenn es Luise wünscht, mag es der Name sein. Nun haben wir zwei Jungen, denkt er, und das mitten im Streik.
"Wie sieht's aus?", fragt Luise leise, als habe sie seinen Gedanken erraten.
"Wir werden's schon schaffen." Sacht streicht er ihr über die Stirn. "Mach dir jetzt darum keine Gedanken. Dass ihr beide gesund bleibt, ist die Hauptsache."
Sie sprechen von ihren Hoffnungen, nicht von den Sorgen. Als sich Walter Becker erhebt, schaut er Kind und Mutter liebevoll an. "Es soll ein guter Junge werden." Leise schließt er die Tür hinter sich.
Im Korridor hört er aus der Küche Eugens Fragen. Nachbarin und Hebamme haben Mühe, die Wissbegierde des Jungen abzulenken. Warum der Storch nicht lieber durch die Fenster komme? Ob sich das Brüderchen bei der Reise durch den Schornstein nicht wehgetan habe? Sein Verstand wehrt sich gegen den Humbug, denkt Walter Becker, es ist an der Zeit, unsern Kindern Vernünftigeres über die Menschwerdung zu erzählen. Er tritt in die Küche und sagt dem Sohn, er solle Blumen von Frau Grundewski holen für die Mutter. Frau Wiesflecker geht mit dem Kleinen hinaus. Die Hebamme packt ihre Tasche.
Walter Becker kramt im Küchenschrank nach der Dose mit dem Spargeld.
"Nun", fragt die Schütz, "habe ich zu viel versprochen?"
"Ein fein' Bengelchen. Frau Schütz. - Was kriegen Sie?"
"Wie immer, zehn Mark. Aber lassen Sie jetzt, Becker. Bezahlen Sie's nach dem Streik. - Und was sagen Sie zu seinen Haaren?"
"Rabenschwarz. Und viel dichter als damals beim Eugen." "Haben Sie den Wirbel gesehen?"
Walter Becker gesteht, dass er so genau den Sprössling noch nicht besichtigt habe.
Die Schütz wird ernst, beinah geheimnisvoll. "Das kommt bei tausend Kindern bloß einmal vor. Königskinder nenne ich die."
Walter Beckers Augenbrauen heben sich. "Dann ist er also in der falschen Gegend abgeliefert worden?"
"Sein Sie nicht jeck! Ich hab' doch auch nichts für die hohen Herrschaften übrig. Aber ich kenn' mich darin aus. Solche Kinder sind was Besonderes."
"Wenn mich mein Chef auf die Straße setzt, nützen mir auch zwei Haarwirbel nichts, Frau Schütz."
Die Hebamme wird krötig. "Ach, ihr Männer! Glück heißt doch nicht bloß gut verdienen. Sind Sie über den kleinen Artur nicht glücklich?"
Walter Becker lacht. "Jetzt, wo er da ist, ja. Aber wir hätten nichts dagegen gehabt, wenn der Storch bei uns vorbeigegangen wäre. 'Diesem System keinen Mann und keinen Groschen', hat Bebel gesagt. Er weiß natürlich, dass Bebels berühmter Satz sich nicht auf die Geburtenkontrolle bezieht, aber es macht ihm Spaß, Frau Schütz aufzuziehen.
"Dass ihr Sozialdemokratischen immer politisch werden müsst."
"Wir müssten den Hebammen und Ärzten die Hölle heiß machen, dass sie uns beraten, wie man nicht so viel Kinder kriegt."
Die Schütz lacht laut. "Uns brotlos machen? Da möcht' ich sehen, was ihr sagt, wenn wir dann streiken."
"Seid zufrieden, dass ihr's nicht braucht." Walter Beckers Scherz bekommt einen bitteren Unterton. "Und dann ohne Gewerkschaft. Es ist mit Gewerkschaft schon schwer."
Die Hebamme gibt ihm einen gutmütigen Klaps auf die Schulter. "Wenn irgendwas ist, schicken Sie den Eugen. Und der Zweite - der ist zu Größerem geboren." Mit schwerem Schritt stapft die Frau aus dem Haus.
Walter Becker sinnt kopfschüttelnd ihren Worten nach.
Altweibergeschwätz und Wunderglauben. Von wegen Königskind! Lohnsklave der Mannesmänner und ihresgleichen wird er, genau wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater. Haben vielleicht alle Haarwirbel gehabt, mussten sich trotzdem schinden ums tägliche Brot.
Behutsam geht Walter Becker wieder in die Stube, betrachtet lange den Neugeborenen. Dann erzählt er Luise von der Unterhaltung mit der Hebamme.
"Solche Frauen haben einen Blick dafür", sagt sie.
"Du glaubst am Ende noch diesen Unsinn."Er droht ihr mit dem Finger.
"Hast selbst gesagt, es soll ein guter Junge werden. Warum können gute Menschen kein Glück haben? Es ist schön, an das Glück seiner Kinder zu glauben."
"Sie werden glücklich sein, wenn wir alle glücklicher werden."
Eine Woche später - Luise Becker stand schon wieder auf - kamen Borbachs und Grundewskis, um den Familienzuwachs zu begutachten. Die Frauen brachten Windeln und andere brauchbare Sachen ihrer herangewachsenen Kinder. Alle waren fröhlich wie nach einer bestandenen Prüfung. In jener Abstimmung hatte eine Mehrheit für die Fortsetzung des Streiks gestimmt. Der Unternehmerverband hatte sich zu Verhandlungen bequemen müssen, es war zu einem Kompromiss gekommen, und morgen sollte die Arbeit wieder aufgenommen werden.
Man kam auf die Prophezeiung der Schütz zu sprechen. Borbach lachte -grimmig. "Sie ist 'ne tüchtige Hebamme; aber im Kopf hat sie Kaffeegrund."
Grundewski widersprach. "So unrecht hat sie auf ihre Art nicht. Wenn der Artur groß ist, haben wir den Sozialismus."
"Gigorek wird dann Reichskanzler und du sein Stellvertreter", höhnte Borbach. Er konnte noch immer nicht vergessen, dass Grundewski als Einziger ihrer Werkstatt dem Gewerkschaftssekretär Hilfestellung geleistet hatte.
Der phlegmatische Mittvierziger war dergleichen Anzapfungen gewöhnt. "Überlegt mal: Trotz des Sozialistengesetzes sind unsere Reichstagsmandate von zwölf im Jahre einundachtzig auf vierundzwanzig im Jahre dreiundachtzig gestiegen. Glatt um das Doppelte."
"Rechne so weiter", unterbrach ihn Walter Becker, "dann müssten schon jetzt nur noch Sozialdemokraten im Reichstag sitzen."
Grundewski blieb friedlich. "Ganz so einfach ist es nicht. Aber immerhin, sieben Jahre später hatten wir schon 35 Abgeordnete, jetzt schreiben wir 1905 und lachen über unsere paar Männekens von damals. Einmal kommt's - wir erleben es noch -, dann haben wir die Mehrheit, und dann bestimmen wir, was gemacht wird."
"Das wird 'nen dollen Stuhlmangel geben", sagte Borbach undurchdringlichen Gesichts. Grundewski sah ihn fragend an, und Borbach erklärte: "Dann müssen doch die Unternehmer an die Werkbänke, und wir setzen uns auf ihre Stühle. Nun sind die aber weniger und wir mehr."
Walter Becker rieb sich die Hände über den Spaß und schaute nach den Frauen, die in der Stube beim eifrigen Gespräch über Neugeborene saßen.
Grundewski war ein bisschen beleidigt. "Bist du nun Sozialdemokrat oder nicht?"
Borbach füllte aus der Flasche Schabau, die er mitgebracht hatte, wieder die Gläschen voll. "Allerdings. Ich glaube bloß nicht, dass unsere Stahl- und Kohlefürsten vor Stimmzetteln zu Kreuze kriechen. Die sind nur so lange demokratisch, wie es ihrem Geldsack nicht wehtut."
"Dann willst du Bürgerkrieg?"
"Sowenig wie du. Leider geht es nicht bloß nach uns. Ich bin auch überzeugt, dass wir mal die Mehrheit kriegen. Aber da wirst du staunen, was die Sippschaft dann aufzieht."
"Ihr alten Schwarzseher", schnaufte Grundewski. In einem Zug kippte er seinen Schabau hinunter und räusperte sich genießerisch nach dem scharfen Schnaps.
Ähnlich verliefen ihre Gespräche meist. Sie tranken gemeinsam eins, stritten sich heftig, spielten dann friedlich Skat, trugen sich nichts nach, stritten sich aufs Neue und kamen immer wieder einträchtig zusammen.
Als die Gäste schieden, wurde Grundewski pathetisch: Er legte Walter Becker seine Hand auf die Schulter: "Dein kleiner Artur soll mal 'n großer Mann werden! Im Sozialismus brauchen wir sie."