Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 14
ОглавлениеDavid und Goliath
Jeden Morgen vollzog es sich völlig gleich, exakt und minutiös. Neblich trat ins Klassenzimmer, die Kinder sprangen auf, wie an einer Schnur gezogen, und rasselten herunter: "G-u-t-e-n M-o-r-g-e-n, H-e-r-r L-e-h-r-e-r!"
"Setzen!", befahl Neblich, trat an die vorderste Bank und sah auf seine gefalteten Hände herab. "Wir beten!", sagte er, ohne den Blick zu heben. Alle Geräusche verstummten, und jeder bemühte sich so zu tun, als verharre er wirklich in stillem Gebet.
Während Neblich feierlichen Schritts das Katheder bestieg, die Bibel aufschlug und seinen Stuhl zurechtstellte, rechnete er jedes Mal mit geheimen Sündern ab. "Otto Wagenseil, was suchtest du unter der Bank? Ohne gefaltete Hände bringt man keine Andacht auf. Wegen mangelnden Antriebs, mit Gott stille Zwiesprache zu halten, wird er dich durch Missachtung strafen. Stell dich mit dem Gesicht zur Wand."
Damit war der Fall abgetan. Es war eine harte Strafe, und jeder fürchtete sie. Eine Stunde stehen müssen, war dabei geringer zu veranschlagen, als vom interessantesten Unterricht ausgeschlossen zu sein, den es zweimal in der Woche gab. All die Jahre bisher war Neblich nicht von seinem Prinzip abgewichen, ohne Schläge zu regieren. Er strafte immer kühl und im Einverständnis mit Gott. Er schien wirklich stark durch seinen Glauben. Wie wäre es ihm sonst möglich gewesen, tief versunken zu beten und trotzdem am Ende der stillen Erbauung zu wissen, wer gesündigt hatte?
Was Artur an Neblich bewunderte, war dessen Vortragskunst. Neben Geschichte war deshalb Religion sein liebstes Fach. Darin war er der aufmerksamste Schüler und zugleich der unbequemste. Begierig nahm er die Geschichten der Bibel auf, ähnlich wie die der deutschen und griechischen Heldensagen, doch wie bei jenen, fand er auch bei diesen oft ein Haar in der Suppe.
An diesem Tage schlug Neblich die Seiten Samuels auf und begann die Geschichte von David und Goliath vorzutragen. Sie war wunderschön als Gleichnis geeignet. Deutschland gegen eine Welt von Feinden. Es galt zu zeigen, dass der scheinbar Schwächere doch siegen könne, wenn er nur wolle - und Gott ihm helfe.
Die Klasse lauschte hingegeben: Riesenstarker Bösewicht höhnt die Gerechten. Und die - furchtsam und kleinmütig - wagen nicht, den Lästerer zu strafen. Schier unerträglich wird der Hohn des Goliath, aber die Gedemütigten schätzten die eigene Haut höher als alles Gottvertrauen. Da erscheint ein Jüngling, kaum dem Knabenalter entwachsen, erbietet sich, den Unhold zur Strecke zu bringen. Er erntet mitleidiges Gelächter. Aber er lässt nicht locker, bis man ihn vor König Saul bringt. Auch der misstraut dem Jüngelchen. David berichtet von besiegten Bären und Löwen als Beweis starken Gottesbeistands. Endlich gibt Saul die Erlaubnis zum Zweikampf, dazu sein Schwert und die eigene Rüstung. Alle zittern um den Waghalsigen, doch der legt Panzer und Schwert beiseite, tritt dem Riesen als ungeschützter Hirtenknabe entgegen. Goliath trieft vor Hohn - das flinke Mundwerk Davids bleibt ihm nichts schuldig. Der Bengel ist nicht nur witzig, sondern auch intelligent. Zweikampf ist Zweikampf, und es war nicht ausgemacht, wie er auszutragen sei. Jedenfalls berichtet die Bibel nichts darüber. David macht es sich zunutze. Er erledigt seinen Gegner aus der Distanz.
Neblich hob an dieser Stelle skandierend die Stimme. Die Klasse genoss aufgeregt die Szene: "Und David tat seine Hand in die Tasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte, und traf den Philister an seine Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht."
Danach machte Neblich eine wohlberechnete Pause, um zum Finale zu kommen: "Also überwand David den Philister, mit der Schleuder und mit dem Stein und schlug ihn und tötete ihn. Und da David kein Schwert in seiner Hand hatte, lief er, und trat zu dem Philister, und nahm sein Schwert, und zog's aus der Scheide, und tötete ihn und hieb ihm den Kopf damit ab. Da aber die Philister sahen, dass ihr Stärkster tot war, flohen sie."
Neblich legte die Bibel hin. Aufatmendes Gemurmel raunte durch die Klasse. Während der Lehrer mit einem blütenweißen Taschentuch feinen Schweiß von seinem Gesicht tupfte, lächelte er wohlgefällig ob der allgemeinen Zustimmung.
Mit der letzten Schweißperle wischte er Lächeln und Applaus fort und wurde pädagogisch: "Warum konnte David ein Held sein?"
Arturs Finger schoss in die Höhe. "Weil er mutig war!"
Neblich hätte lieber gehört: weil er auf Gott vertraute. Er verbarg seine Enttäuschung und sagte: "Mut hat Goliath auch gehabt."
"Der wusste ja, dass ihm nichts passieren kann, denn er war der Stärkere", widersprach Artur. "Ihm ist aber doch etwas passiert."
"Nur weil David schlauer war als alle um König Saul. Er ließ den Riesen gar nicht erst an sich herankommen."
Neblich wurde unruhig und ließ sich zu der Frage verleiten: "Was ist denn Mut, deiner Meinung nach?"
Durch die Geschichte angeregt, erwiderte Artur unbefangen: "Mut ist, wenn einer weiß, er ist schwächer, aber trotzdem hingeht und kämpft."
"Siehst du", triumphierte Neblich, "und er kann es nur tun, weil er weiß, dass Gott mit ihm ist."
Zu deutlich erinnerte sich Artur seines Kampfes gegen Alois. Da hatte er gesiegt, ohne den lieben Gott belästigt zu haben. "Aber mancher sagt sich, man muss etwas tun für das Richtige, und wenn er es mit der Stärke nicht schafft, muss er eben schlauer sein." David war Arturs Mann, und er fühlte sich verpflichtet, dessen Mut gebührend zu feiern.
Gereizt durch Arturs Beharrlichkeit, versuchte Neblich noch einmal, ihn in die Enge zu treiben. "Herkules nennt man doch auch mutig, obwohl er mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist."
Die Frage- und Antwortspiele mit Vater zahlten sich jetzt aus, das übte, schlagfertig zu sein. "Wie konnte dann Herkules Gottvertrauen haben? Er war doch ein Heide und glaubte an Zeus und viele andere Götter."
Neblich klappte die Bibel zu, trat zu Artur und fuhr ihm versöhnlich übers Haar. "Wir werden noch darüber reden."
Er hielt sein Versprechen nicht. In der nächsten Religionsstunde brachte er die Geschichte Davids zu Ende, ohne auf die Diskussion über den Mut einzugehen. Artur ließ es dabei bewenden. Er hatte inzwischen mit dem Vater gesprochen. "Pass Obacht", hatte der geantwortet, "mit dem David hat Neblich sich in die Nesseln gesetzt, der passt für uns besser als für sie."
"Ob David auch zu Goliath gegangen wäre, wenn er die List mit der Schleuder nicht ausgeknobelt hätte?"
Vater scheuerte nachdenklich sein Stoppelkinn. "Wie ich den David sehe, nein. Das ist wie mit uns: Die Arbeiter dürfen sich den Zeitpunkt und die Waffen nicht verschieben lassen."
Die Antwort war Artur zu allgemein, ihm ging es um den Kampf von Mann zu Mann. Deshalb fragte er: "Wenn ein Schwächerer einen Zweikampf wagt, ohne sich vorher was auszudenken, wie mit der Schleuder, ist der dann kein Held?"
"Dann ist er ein Märtyrer; aber wir halten nichts davon. Manchmal allerdings lässt einem das Leben keine Zeit zum Überlegen. Da muss man sich seiner Haut wehren, so gut es geht. Wer dann nicht kneift, ist bestimmt ein Held."
Artur musste an die Flucht vor den Landjägern denken. "Und wer ausrückt, ist keiner?"
Vater Becker wurde kribbelig. "Bengel, du kannst einen aber zwiebeln. Es kommt auch mal vor, dass sich ein Held zurückzieht, weil - ja - hm ... "Er dachte angestrengt nach. "Er zieht sich zurück, nicht, um die eigene Haut zu retten, sondern weil es seiner Sache mehr nützt, er muss immer die gute Sache über seine Person stellen, muss auch mal feige scheinen können. Das ist die schwerste Tapferkeit."
Artur starrte vor sich hin.
Der Vater kniff ein Auge zu und legte den Zeigefinger an die Nase. "Das Leben ist doch kniffliger, als die euch in der Religionsstunde weismachen wollen."
Das hatte Artur auch schon bemerkt, und er stimmte dem Vater zu. "Der eine sagt, Goliath ist stärker; der andere sagt, David ist stärker. Wer hat nun recht?" fragte Walter Becker.
Artur scheuerte sich unentschieden die Stirn. Der Vater erklärte: "Keiner. Man muss sagen, wenn David vorher alles bedenkt und es richtig anpackt, wird ihn die Schleuder zum Stärkeren machen."
Artur riss die Augen auf, sodass sich der Vater beeilte zu sagen: "Nichts ist einfach so, sondern es ist immer so und so."
Es war schwierig, doch dem Vater zuliebe dachte Artur nach, dass ihm fast der Kopf wehtat. Walter Becker sah es ihm an und brachte ein neues Beispiel. "Da sagt man so hin, Eisen schwimmt nicht. Natürlich, ein Stück Eisen geht unter - aber ein Eisentopf schwimmt. Stimmt's?"
Das ging ein. Erfreut über eine neue Erkenntnis hatte Artur Spaß an dem einfachen Beispiel.
"Darum kann man nicht sagen, Eisen schwimmt. Man kann auch nicht sagen, Eisen schwimmt nicht. Man muss sagen, je nach der Form wird es sich im Wasser verhalten." Der Vater legte dem Sohn begütigend die Hand auf die Schulter. "Was du dem Neblich geantwortet hast, war goldrichtig. Aber du musst nicht immerzu widersprechen. Sonst machst du ihn krötig, und dann hast du Schwierigkeiten. Den Neblich krempelst du nicht um, aber ich hoffe, später manchen Kollegen. Denn die leben ein schlechtes Leben und wollen ein besseres haben. Neblich lebt ein Gutes, und das teilt er nicht gern mit unsresgleichen."
Der Wortstreit Arturs mit Neblich war das Vorspiel zu einer härteren Auseinandersetzung. Artur ahnte es noch nicht, als er, scheinbar lesend, aber innerlich erregt, zuhörte, wie der alte Borbach, Vater und Grundewski in Beckers Wohnung wieder einmal aneinandergerieten. "Der Munitionsarbeiterstreik hat sie in Schrecken gejagt", triumphierte Walter Becker.
Dieser Ton gefiel Grundewski nicht. "Na ja, mal lernen auch die Regierungsdickschädel Einsicht."
"Einsicht?" Borbach spie Gift und Galle. "Mal spüren auch die hohen Herrschaften, dass das Volk genug hat von Kohlrübenmarmelade und Gefallenenanzeigen ..."
"... von Unterernährung und Durchhaltegeschrei", stieß Walter Becker nach. "Deshalb haben sie jetzt kleine Zugeständnisse gemacht, wie diese 'Freiheit der Religionsausübung'."
"Nun habt ihr sie und seid auch nicht zufrieden", ereiferte sich Grundewski.
"Sie rechnen damit, dass keiner den Mut hat, seine Blagen vom Religionsunterricht abzumelden", knurrte Borbach.
"Eben", pflichtete Walter Becker bei, "bloß, dass sie sich bei mir verrechnet haben. Meine drei werden abgemeldet. Schade, dass der Eugen kein Schulrabe mehr ist, dann wären es gleich vier."
"Willst du deine Kinder noch mehr schikanieren lassen?", fragte Grundewski. "Wo sie ohnehin schon darunter leiden müssen, dass ihr Vater ein Roter ist."
Vater Becker prahlte ein wenig. "Meine lernen trotz Schikane. So werden sie gleich trainiert für den Klassenkampf."
"Immer deine Phrasen", ärgerte sich Grundewski. "Der Religionsunterricht hat nicht verhindert, dass ich Sozialdemokrat geworden bin. Warum sollte es bei unsern Kindern anders sein?"
Walter Becker erregte sich. "Wozu Kampf und Opfer, wenn wir dann ihre Zugeständnisse nicht ausnützen? Heißt's nicht im Programm der Sozialdemokratie: Religion ist Privatsache? Hat sie der Gegner bis jetzt nicht immer zur Staatssache gemacht? Wenn wir Sozialdemokraten unser eigenes Programm nicht ernst nehmen, was willst du dann von den parteilosen Arbeitern erwarten?"
Grundewski winkte ab. "Du bist kein Sozialdemokrat mehr, bist doch Spartakist."
"Das wird er noch werden", sagte Borbach mit einem Zwinkern zu Walter Becker hin.
Grundewski schlug sich auf die Schenkel, die längst nicht mehr so stramm die Hosen füllten wie vor dem Krieg. "Jawoll, mit deiner und Gottes Hilfe!"
"Und wir beide machen dann aus dir einen", erwiderte Borbach und fuhr fort: "Nicht, um dir zum Munde zu reden, bin ich auch dagegen abzumelden. Entweder man erzieht seine Kinder richtig, oder man ist kein guter Prolet. Und dann sind sie in der Religionsstunde wie Sauerteig."
Borbachs Taktik würde taugen, wenn alle Arbeiterkinder wären wie Artur, dachte Walter Becker. Doch nur die wenigsten haben den Mumm, einem Neblich zuzusetzen, dass der Vater aus besserer Einsicht bremsen muss. Deshalb warf er Borbach Engstirnigkeit vor. "Du sprichst von den Kindern, als wären es erwachsene Proleten."
Artur hatte mäuschenstill zugehört. Der Vater gab ihm einen Wink, und Artur verschwand in die Kammer. Er hörte die Drei noch lange reden, und sie wurden sich nicht einig.
Der Vater blieb bei seiner Auffassung. Am anderen Morgen gab er Artur einen Brief an Rektor Kunz mit, des Inhalts, dass seine Kinder Jenny, Hedwig und Artur hiermit vom Religionsunterricht abgemeldet seien.
Noch zwei Klassenkameraden Arturs hatten ähnliche Schreiben abgegeben: Die drei Briefe ließ Kunz von einem Schüler der Oberklasse zu Neblich in die Religionsstunde bringen. Er las sie, und scheinbar gelassen legte er die inhaltsschweren Papiere ins Klassenbuch, sah die Drei an und sagte vielsagend: "Soso."
Neblich wusste, wie gern Artur seine Geschichten hörte, deshalb nahm er ihn zuerst aufs Korn. "Möchtest du denn selbst vom Lernen der Lehre Gottes befreit sein?"
Mit belegter Stimme antwortete Artur: "Ja." Um die interessanten Stunden war es ihm leid; aber Vater hatte alles noch einmal mit ihm besprochen.
Den beiden Kameraden Arturs stellte Neblich die gleiche Frage. Artur bangte innerlich: Hoffentlich blamiert uns keiner. Sie antworteten ebenfalls mit ja. "Nun gut, ihr drei stellt euch an die Wand", entschied Neblich. "Ihr habt die Missachtung Gottes selbst erwählt, jetzt mögt ihr sie auskosten."
Eine peinliche Stille war im Klassenzimmer. Keiner der Mitschüler sah zu den Dreien hin. Dann las Neblich mit dramatischem Schwung die Geschichte vom Judas, der Jesum Christum für dreißig Silberlinge verriet. Anschließend entwickelte er ein Frage- und Antwortspiel. Alois witterte Morgenluft. Er ermunterte seine Anhänger, die, mit hämischen Seitenblicken auf die drei Abtrünnigen, Neblich die von ihm suggerierten Antworten lieferten. Einmal ließ sich Artur hinreißen und rief: "Judas hat es für Geld gemacht, aber ich kriege keinen Pfennig für die Abmeldung vom Religionsunterricht!"
"Wir sprechen von Judas", betonte Neblich eisig, "nicht von dir. Ich verbiete dir als Gottlosem, an unserm Gespräch teilzunehmen."
Walter Becker sprach mit den Vätern der beiden Leidensgenossen. In einem gemeinsamen Brief an Kunz schrieben sie, dass ihre Jungen an den Tagen mit Religionsunterricht um diese Stunde später kommen würden, da nirgends in der Verordnung gesagt sei, dass Dissidenten mit Eckestehen bestraft werden dürften. Nach wochenlangem Tauziehen, in welcher Zeit die drei Jungen immer um eine Stunde später kamen, entschied die vorgesetzte Schulbehörde: Nichtteilnahme sei keinesfalls als Recht zum Fernbleiben von der Schule auszulegen, jedoch dürften die Dissidentenkinder nicht für eine Entscheidung ihrer Eltern bestraft werden.
Ein Kompromiss, für Neblich eine Niederlage. Keinen Gottlosen durfte er mehr an die Wand stellen. Dafür benutzte er den Religionsunterricht zu ständigen Sticheleien gegen die drei Einsamen.
Vater und Sohn ließen nicht locker. Sie schrieben eine Liste aller Klassenkameraden Arturs und überlegten bei jedem, welche Chancen beständen, ihn für die Dissidentenschaft zu gewinnen. Manche Eltern, ging es Walter Becker dabei durch den Kopf, fürchten sich wohl nur davor, einen formgerechten Antrag zu schreiben. Man müsse sich maschinengeschriebene verschaffen, unter die sie nur noch ihre Namen zu setzen brauchten.
Am nächsten Tag brachte der Vater zwanzig der praktischen Zettel. Gleich mit dem ersten hatte Artur Erfolg bei Bruno. Der sagte: "Neblichs ganze Religion sei Mumpitz. Wenn er sich danach richten würde, erklärte Bruno lästernd, dann wäre er schon längst verreckt. Er hätte schon überlegt, ob er sich nicht selbst einen Antrag schreiben solle, aber Neblich kenne seine Klaue zu gut. Seine Mutter könne nicht viel mehr als ihren Namen schreiben, da sei so etwas vorgeschriebenes gerade das Richtige. Mit der Drohung, nichts Nahrhaftes mehr heranzuschaffen, ertrotzte er ihre Unterschrift und gab den Zettel ohne Umschlag bei Rektor Kunz ab. Freudestrahlend berichtete er es Artur. Dem war nicht sehr wohl dabei. Bruno hatte nicht aus Gesinnung gehandelt, sondern aus weit weniger edlen Gründen. Was war da zu tun? Vorerst ging es darum, die Zahl der Dissidenten zu verstärken. Es war ein magerer Trost für Artur, dass die meisten "Gotteskinder" keineswegs aus echter frommer Gesinnung beim Religionsunterricht blieben. Das Wort "Nackenschläge" hörte man nicht selten gerade bei den Frauen, deren Männer eingezogen waren.
Mit Kaspar war es ähnlich einfach wie mit Bruno. Vater und Artur hatten Eugen gewonnen, er solle mit Karle sprechen. Ohne Federlesen legten die beiden Vater Leutner den Zettel hin. Als er hörte, Artur sei längst abgemeldet, polterte er, warum man ihm das nicht schon früher gesagt habe. Kaspar war froh, nun auch in dieser Frage wieder mit Artur vereint zu sein. Der aber wusste, reine Überzeugung ist es auch bei Kaspar nicht.
Befriedigender war es mit Reginald. Dessen Vater, früher ein frommer Kirchgänger, war als Beinamputierter aus dem Lazarett entlassen worden. Das hatte seinen radikalen Umschwung bewirkt. Es kann keinen Gott geben, war seine neue Überzeugung, die er ebenso verbissen predigte wie früher den Gottesglauben. Es färbte auch auf den Sohn ab. Reggi katzbuckelte nicht mehr vor Neblich. Er berichtete seinem Vater vom Unternehmen der Dissidenten. Der war beschämt, dass er jene Verordnung nicht kannte. Mit Genugtuung schrieb er seinen Namen unter die Abmeldung. So wurde die neue Freundschaft zwischen Reggi und Artur besiegelt.
Beharrlich warben Vater und Sohn Becker um jeden, angefeuert von den ersten Erfolgen. Als Walter Becker noch einmal mit Borbach sprach, sagte der alte Knurrhahn: "In diesem Fall darf man euch wohl nicht allein lassen. Jeder Kampfabschnitt hat eben seine besonderen Gesetze. Den Kaiserlakaien Neblich kann man nicht besser treffen, als wenn man ihm seine Schäfchen wegnimmt."
So gehörte dann auch Erika zu den Dissidentenkindern. Ihre Mutter brauchte der Schwiegervater nicht zu überzeugen. Nur aus Nachlässigkeit, vielleicht auch aus der Ängstlichkeit der alleinstehenden Kriegerfrauen, hatte sie die Entscheidung bisher hinausgezögert.
Mutze entwickelte ihre eigene Taktik, zu Arturs Gruppe zu kommen. Ihre Mutter, eine Kriegerwitwe mit vier Kindern, erklärte stets, wer zu den Letzten und Geschlagenen gehöre, könne sich keine eigene Meinung leisten. Mutze behauptete, wenn sie weiter bei den "Religionern" bliebe, würde Artur ihr nicht mehr helfen, und sie müsste sitzen bleiben. Mutze hütete sich, Artur ihren Schachzug zu verraten. Seufzend unterschrieb ihre Mutter. "Wenn das nur gut geht", sagte sie.
Schließlich waren in Neblichs Klasse über ein Drittel der Kinder "Nichtreligioner". Dieses Drittel wog, weil die Mehrheit der Abtrünnigen gute Schüler waren.