Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 12
ОглавлениеSeifenblasen zerplatzen
Jeden Morgen, wenn die Tür hinter Vater zuklappte, begann Arturs "Frühschicht". Rasch sprang er aus dem Bett, wusch sich schnell und goss eine Tasse heißen Malzkaffees hinunter, gesüßt mit Sacharin. Dann griff er nach Kohleeimer, Sack und Hacke. Um diese Zeit kippten die ersten Werkwagen ihre Schlackefuhren ab. Kinder, Halbwüchsige und Rentner stürzten sich auf den staubenden schwärzlichen Dreck. Mit Geschrei machten sie sich die Beute streitig. Manchmal auch mit den Hackenstielen. Im August vierzehn, dachte Artur, als sie mit der Musik marschiert waren, als sie gesungen, gejubelt und sich umarmt hatten, waren die Menschen netter gewesen. Aber jetzt, nach zweieinhalb Jahren, war dies längst verflogen.
Heute kamen Artur und Kaspar um ein weniges zu spät. Die Bliedinghausener waren ihnen zuvorgekommen und ließen keinen anderen an den Haufen. "Gestern habt ihr's so mit uns gemacht!", schrien sie, obwohl es nicht stimmte. Unrecht zu bemänteln war man nicht faul, es gab genug große Vorbilder im Deutschen Reich.
Beide spurteten hinüber zum Werk. Sein riesenlanger Bretterzaun hatte Lücken. Dahinter lockte das Gelobte Land, zwischen den Schienen lag kostbares Heizmaterial, beim Rangieren von den Waggons gefallen. Es zu bergen war gefährlich wie Arturs Besuch bei einem Freund von der Kolonne russischer Kriegsgefangener am Martinofen.
Wladimir wartete schon immer auf Artur, dem er radebrechend erklärt hatte, sein Ältester zu Hause sei mit Artur gleichaltrig. Manchmal drückte Wladimir dem Jungen einen Brotkanten in die Hand. Artur wollte ihn nicht nehmen. Doch dann sah er so viel Enttäuschung in Wladimirs Augen, dass er rasch zugriff. Mindestens jede 'Woche einmal freute sich Artur auf das Wiedersehen mit dem hageren freundlichen Mann aus dem fernen Zarenreich.
Nach seiner ersten Begegnung mit Wladimir hatte Artur den Vater über Russland befragt. Der sagte, die Zarenpolizei sei noch schlimmer als die deutschen Blauen. Aber von den russischen Arbeitern könnten sich die deutschen eine Scheibe abschneiden. Schon im November vierzehn hätten die Bolschewiki ein Manifest gegen den Krieg herausgegeben. In der "Leipziger Volkszeitung", die Borbach manchmal bringe, habe es gestanden. Von dem Brot erzählte Artur nichts, der Vater hätte bestimmt gescholten.
Flink huschte Artur durch die Wirrnis des Werkgeländes. Kaspar hatte Mühe, ihm zu folgen. Als Wladimir sie kommen sah, lachte er. Seine weißen Zähne leuchteten im rußigen Gesicht. Hastig bedeutete er ihnen, in der Werkhalle hinter dem Torflügel zu warten, der Posten sei heute "niicht serr gutt." Geduckt, vorsichtig witternd, staunten die Jungen in die lärmdurchtoste Welt von Feuer und Rauch. Wladimir kam und entschuldigte sich, dass er heute keinen "Kahnten Brrott" habe, ihre letzte Zuteilung sei so klitschig gewesen, dass sie schon am nächsten Tag schimmelte. Artur war es peinlich, und er beteuerte, aus Freundschaft gekommen zu sein.
Stolz zeigte Wladimir einen Brief, den sein Ältester geschrieben hatte. "Gutter Junge", Wladimirs Augen glänzten, "wie du. Err uhnd du, uhnd du", er legte Artur und Kaspar die schweren Hände auf die Schultern, "wenn irr groß, ni- icht brauchen merr in Krigg. Krigg aus. Alle Krigg fürr immerr."
Wladimir füllte Artur und Kaspar die Säcke mit einigen gewichtigen Brocken, die er versteckt hatte. Dankbar verabschiedeten sie sich und flitzten zur Zaunlücke, in deren Nähe sie Eimer und Hacken versteckt hatten. Wladimir beobachtete, ob sie sicher davonkamen.
"'ne Uhr müsste man haben", japste Kaspar und fuhr sich mit dem Jackenärmel über das verschwitzte Gesicht.
"Ja", seufzte Artur. Er hatte das ungute Gefühl, dass sie heute sehr spät dran wären.
"Wenn mein Onkel Richard fällt, soll ich seine kriegen, hat er gesagt." "Besser, er fällt nicht."
"Aber so 'ne schöne Stahluhr ist nützlich."
"Was quatscht du herum. Ein Onkel ist mehr wert als tausend Uhren."
"Stimmt", gab Kaspar zu, "überhaupt Onkel Richard. Von dem hätte ich nie so viel Senge gekriegt wie von Vater."
"Aber wenn er dein Vater wär', müsstest du dauernd Angst haben, dass er nicht mehr aus dem Krieg kommt."
"Hm", bestätigte Kaspar in kindlicher Brutalität, "um solchen Vater müsste man Angst haben."
Artur schwieg.
"Der Wladimir, der hat Schwein", sagte Kaspar, "der kann nicht mehr totgeschossen werden."
"Hat er verdient. Hast ja gehört, er ist auch gegen den Krieg."
In der Nähe von Leutners Häuschen trennten sie sich.
"Mach hin", mahnte Artur, "dass du nicht zu spät kommst."
Mit einem gehetzten Blick auf den verbeulten Wecker in der Küche warf Artur ächzend den Kohlensack ab. Rasch nahm er sein Schulbündel und rannte los. Wenn er das Tempo durchhielt, könnte er noch kurz vor Neblich in die Klasse huschen.
Noch ehe er sich in seine Bank gedrückt hatte, lachte die ganze Klasse über ihn. "Hast wohl mit der Nase Koks geklopft?", spottete einer.
Erika Borbach machte aufgeregt Zeichen und zischelte: "Rasch, Taschentuch - Gesicht abwischen!" Flink wollte er den Rat befolgen, doch er suchte umsonst in seinen Hosentaschen. Geschickt warf sie ihm ihr gefaltetes Taschentuch zu. Unter den spöttischen Bemerkungen der andern Mädchen lief ihr feines blasses Gesicht rosa an. Artur fuhrwerkte in seinem Antlitz herum und erschrak, wie schwarz sich das weiße Leinen färbte. Verstohlen beendete er die Prozedur, als Neblich in die Klasse trat. Nach dem Gebet sprach der Lehrer über die Lage an den Fronten. Wie tapfer die deutschen Soldaten die Westfront hielten, wie tief sie im Osten in Feindesland ständen. Und wenn es auch nicht gelungen sei, im ersten Ansturm den Feind niederzuwerfen, der Sieg wäre Deutschland gewiss. Wahrer Patriotismus zeige sich gerade in Zeiten, in denen nicht jeden Tag ein Sieg gemeldet werde. Jetzt könne jeder seine Vaterlandsliebe beweisen: die Eltern, indem sie Kriegsanleihen zeichneten; die Kinder, indem sie mit den andern Klassen wetteiferten, als Erste das Hindenburgbild vollzunageln. Neblich holte hinter dem Katheder ein massives Brett von halber Tischplattengröße hervor, auf dessen Vorderseite der Sieger von Tannenberg in Lack glänzte. Dieses Bild müsse von drei Sorten Nägeln in den vorgezeichneten Farben bedeckt sein, bis der große Feldherr hier so vollständig ehern sei wie in der Wirklichkeit, erklärte Neblich. Ein goldener Nagel koste fünfzehn, ein silberner zehn und ein kupferner fünf Pfennig. In einem Kästchen mit vier Fächern lagen die drei Sorten Nägel, im Vierten, größeren, sollten sich die Groschen und Fünfer sammeln. Neblich machte den Anfang und schlug dem Feldherrn drei goldene Nägel in die hölzerne Stirn. Stolz wandte er sich zur Klasse: "Nun, wer möchte es nachtun?"
Die meisten kramten eifrig in ihren Taschen.
"Hier!" Der Klassenerste Reggi meldete sich und durfte vorkommen. Einen Fünfer und vier einzelne Pfennige hatte er zusammengekramt. Auf die Frage Neblichs wünschte er einen goldenen Nagel, er werde die sechs Pfennige morgen nachliefern. Gnädig gestattete es Neblich.
Vor vaterländischer Aufregung schlug Reggi den Nagel krumm. Neblich blieb milde und suchte den Schaden mit einer Zange zu reparieren.
Alois war der Nächste und wieder mal ganz vorn im Patriotismus. Fünfundzwanzig Pfennige legte er auf den Tisch, fünfzehn eigene und zwei Fünfer, die er Zweien seiner besten Freunde abgenommen hatte für das Versprechen, pro Fünfer eine Schrippe zu liefern. Fünf Kupferne wollte er für sein Geld verhämmern. Alois wuchtete mit dem Hammer, dass der Lack platzte. Neblich tadelte ihn leise, tröstete sich und die Klasse dann aber damit, dass nun noch mehr Grund bestände, den Schaden recht schnell mit Nägeln zuzunageln. Noch einige Besitzer von Fünfern meldeten sich, dann drohte die edle Nagelei zu stagnieren.
Artur gefiel die Sache nicht, obwohl er es schwer in Worte auszudrücken vermocht hätte. Seinem Gesicht sah man es an.
"Artur Becker", sagte Neblich freundlich, "reizt es dich nicht, auch einige Hammerschläge zu probieren?"
"Ich habe kein Geld, Herr Neblich", erwiderte Artur höflich.
"Ich gebe dir fünfzehn Pfennige, Artur."
"Ich weiß nicht, ob sie mir Vater wiedergibt, und Schrippen kann ich Ihnen dafür nicht mitbringen wie Alois dem Heinrich und Theo."
Neblich wollte die hehre Sache nicht durch hässliche Nebentöne herabsetzen lassen. "Komm schon, schlag einen Goldenen ein."
Artur zögerte einen Augenblick, dann ging er, nicht sehr fröhlich, nach vorn. Würdevoll reichte ihm Neblich den Hammer. Als Artur die Hand ausstreckte, verlor Neblich die Würde. "Das ist ja unverschämt. Mit solchen Dreckpfoten wagst du zur Schule zu kommen?"
Erschrocken starrte Artur auf seine Hand. Erst jetzt bemerkte er, dass sie noch schwärzer war als vorhin sein Gesicht. "Ich - entschuldigen Sie - wir haben Kohlen geholt - es war schon so spät - und ..."
"Setz dich, du Dreckspatz!", donnerte Neblich. "Du weißt, dass es bei mir für Unpünktlichkeit ebenso wenig Ausreden gibt, wie für Unsauberkeit."
Schamroten Gesichts schlich Artur auf seinen Platz.
"Du wirst dich jetzt eine Woche lang jeden Morgen bei mir vorstellen mit sauberen Händen" dito Gesicht und Hals", dekretierte Neblich. Artur knirschte mit den Zähnen, denn Neblich wusste genau, dass er sich stets sauber hielt. Schon der Mutter zuliebe, die in puncto Sauberkeit unnachgiebig war.
Artur beteiligte sich heute nicht mehr am Unterricht.
Neblich hätte ihn herunterputzen können, hinauswerfen oder zum Rektor schleifen, er hätte reagiert wie ein störrischer Esel. In den Pausen blieb er mit verbissenem Gesicht auf seinem Platz. Fast die ganze Klasse wollte ihn trösten, am eifrigsten Kaspar. Der hatte diesmal ausnahmsweise Glück gehabt, obwohl seine Hände noch schmutziger waren als die Arturs. Der Trost tat wohl, doch Artur schwieg. Als Erika zaghaft zu ihm trat, riss er sich aus seiner Verbitterung. "Schönen Dank für das Taschentuch. Kriegst es gewaschen wieder."
"Ist doch nicht nötig, Artur, Du nimmst alles so schwer. Der Neblich ist auch bloß einer - wie - wie die Meisten. Der zieht den Dicken jetzt immer vor, weil er Schrippen ohne Marken bei Bemmlers kriegt."
Da schau an, das hatte Artur nicht gewusst. Die Mädchen besaßen meist schärfere Augen für die kleinen Dinge. Nun begriff er, wie sehr Neblich die Bemerkung über die Schrippen getroffen haben musste.
Es war nützlich, auch so etwas zu erfahren, und er war dem Mädchen dankbar. Wie konnte er es ihr zeigen? Hastig stieß er hervor: "Aber dafür hab' ich heut 'nen Sack voll gehabt wie noch nie. Kriegst 'n Brocken ab, gleich nach der Schule."
In Erikas Gesicht war etwas, das ihn an Mutter erinnerte, wenn sie nachsichtig lächelte. "Lass doch, Artur, wegen so 'n bisschen Taschentuch ..." Natürlich wäre es romantischer gewesen, er hätte ihr einen Blumenstrauß versprochen. Aber auf so was kamen die Jungen nicht. Außerdem war es Winter.
"Doch, du wirst sehen", beharrte Artur. Und sie ließ es dabei bewenden. Es freute sie schon, dass er nicht mehr so verbissen grübelte.
Als Artur zu Hause berichtete, strich die Mutter ihm über das Haar. "Der Neblich ist schlimmer als einer, der ruhig mal schlägt", sagte sie nachdenklich.
Artur schluckte. "Ich mach' es nicht. Der soll mal lieber kontrollieren, ob alle satt zur Schule kommen."
Seine Entschlossenheit bestärkte Luise Becker in ihrer Auffassung, dass etwas geschehen müsse. Sie werde mit Vater darüber sprechen. Erfreut über Mutters Verständnis, erzählte Artur, er habe Erika einen großen Brocken Kohle versprochen.
Luise Becker wandte sich ab und lächelte. "Natürlich musst du dein Versprechen halten. Iss jetzt und mach deine Schularbeiten. Inzwischen wasche und bügle ich das Taschentuch. Bringst Erika dann beides."
Artur drückte heftig Mutters Arm. Das war hohe Anerkennung, denn es kam jetzt immer seltener vor. Er wollte nicht mehr so knabenhaft sein, schließlich wurde er langsam ein Mann.
Nachdem Artur die Schularbeit beendet hatte, klaubte er den größten Brocken aus dem Kohlensack und packte ihn in einen Karton, den er verschnürte. Die Mutter fand eine Schachtel, da legte sie das saubere Taschentuch hinein. Artur tat einen Zettel dazu: "Mit herzlichem Dank zurück, Artur."
Max Borbachs Schwiegertochter war eine schlanke blasse Frau, die eher wie eine ältere Schwester Erikas aussah. Als sie auf Arturs Klopfen öffnete und den Jungen mit dem Karton stehen sah, bekam sie die verwunderten großen Augen, wie Artur sie gern an Erika sah. "Nanu, Artur, was bringst du denn Schönes?"
"Ich - äh ... hier", er hielt Meta Borbach den Karton hin, "hab ich Erika versprochen. Ist sie nicht da?"
"Doch, komm herein."
Erika war noch bei den Schularbeiten. Sie tat, als hätte sie das Versprechen vergessen, und schnürte neugierig den Karton auf. Als die beiden Borbachs den schwarz glänzenden Inhalt sahen, mussten sie laut lachen. Es war ein herzliches Lachen und Artur war nicht beleidigt. Verlegen meinte er: "Versprochen ist versprochen. Brauchst du einen Tag nicht zu frieren."
Meta Borbach sagte anerkennend: "Also Artur - du wirst -, bist ja ein richtiger Kavalier. Nun musst du auch hierbleiben und einen Schluck Kaffee mit uns trinken. Zufällig habe ich Haferflockenplätzchen gebacken." Wie die meisten Arbeiterfamilien hatten sich die Borbachs längst abgewöhnt, nachmittags Kaffee zu trinken. Das konnte man sich höchstens sonntags leisten, und für den Tag waren die Plätzchen·bestimmt gewesen. Sie schmeckten Artur gut, noch besser als die Grützeplätzchen, die Mutter manchmal buk, aus geschrotetem Korn vom Ährenlesen im Sommer.
Meta Borbach wickelte drei Plätzchen ein und steckte sie Artur in die Jackentasche. Über seine Verlegenheit half ihm Erika hinweg, indem sie ihn wegen einer Aufgabe befragte.
Artur hatte selten jemandem etwas so genau auseinanderposamentiert. Frohgestimmt wanderte er dann nach Hause und richtete die Grüße der Borbachs aus.
Müde und verdrossen kam Walter Becker eine Stunde später als sonst am Abend nach Hause. Ein Maschinenausfall hatte eine Überstunde erforderlich gemacht. Luise Becker brachte ihm die Pantoffeln, als er sich still auf seinem Stuhl niederließ. Es war nicht üblich, er liebte es nicht, sich in dieser Art bedienen zu lassen. Etwas spöttisch schaute er sie an. Sie hätte ihn gern mit Arturs Kummer verschont. Doch es musste sein. Sachlich erzählte sie die Geschichte vom "Dreckspatz" Artur Becker. Eugen kam dazu und knurrte: "Ich hab's immer gesagt, wer seinen Hokuspokus nicht glaubt, dem macht er bei Lebzeiten die Hölle heiß."
Die Müdigkeit Walter Beckers war wie weggeblasen. Seine Faust knallte auf die Tischplatte. "So geht's ja nun nicht! Ruf den Jungen her!"
Artur saß in der Kammer. Er war so in ein Buch vertieft, dass er den Vater nicht hatte kommen hören. Erstaunt sprang er auf, als die Mutter eintrat. Er ging, begrüßte den Vater und berichtete vom Zusammenstoß mit dem Lehrer. Verbissen schloss er: "Da kann sich Neblich kopfstellen, ich trete nicht jeden Morgen an und zeige ihm die Hände."
"Nein, das machst du nicht", bekräftigte der Vater. "Unsre Familie ist sauber, das braucht uns nicht erst in der Schule beigebracht zu werden. Gehst du hin, Mutter, oder soll ich ...?"
"Ich gehe", sagte Luise Becker bestimmt.
"Bleib ruhig, aber lass dir kein Jota abhandeln."
"Darauf kannst du dich verlassen."
Vater war jetzt in guter Stimmung. Artur fragte ihn gleich noch wegen der Kriegsanleihe.
"Von mir keinen Pfennig." Der Vater war erregt. Dann zwang er sich zur Ruhe und sagte: "Pass Obacht! Hier steht einer und hat 'ne Leine in der Hand. Oben geht sie über 'ne Rolle, am andern Ende hängt der Brotkorb. Den zieht er nun sachte, sachte immer höher, dass du dir zuletzt den Hals ausrenken musst wie 'ne Giraffe. Und dann kommt der Schweinehund, hält die Hand auf und meint, den Spaß könnten wir nicht umsonst verlangen. Was hat der verdient?"
Artur war so bei Bild und Mimik des Vaters, dass er empört hervorstieß: "Einen Tritt in den Hintern!"
"Jawoll, mein Junge." Der Sohn hatte ihm aus tiefster Seele gesprochen. Das war nicht bei jedem Gespräch so gewesen. Die Einflüsse der Umwelt, Lehrer und Schule hatten manchmal stärker gewirkt als die des Elternhauses. Aber die letzten Erlebnisse schienen bei dem Jungen den Knoten gelöst zu haben. Artur war älter geworden - älter und verständiger. "Und sie kriegen den 'Tritt', bekräftigte Walter Becker, "verlass dich drauf. Das ganze Gelichter. Die halbe Welt wollten sie einkassieren, nun wird man sie selber bald annektieren."
Nebeneinander gingen Mutter und Sohn am nächsten Morgen zur Schule. Schon einmal war Artur den Weg an Mutters Seite gegangen. Das war Jahre her, eine halbe Ewigkeit. Jetzt sah die Welt anders aus, rauer und grauer.
Die meisten Kinder waren schon in der Klasse. Einige Nachzügler huschten mit erstaunten Augen an den Beckers vorbei, die vor der Klassentür warteten. Es klingelte, und Neblich kam. Sein Gang war sicher und würdig, dennoch von einer gewissen Hurtigkeit.
"Guten Morgen, Herr Neblich."
Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, erwiderte höflich: "Guten Morgen, Frau Becker."
"Hier ist Artur. Er ist sauber gewaschen, ich hab' aufgepasst. Ich werde es die kommende Woche tun und immer. Ich möchte nicht, dass Sie mir diese Pflicht abnehmen."
Neblich wiegte den Kopf, wurde noch würdiger. "Artur hat einen Grundsatz durchbrochen, das schadet der Klassendisziplin."
"Dafür haben Sie ihn bestraft, vor der ganzen Klasse beschämt. Das genügt wohl."
"Wir können pädagogische Maßnahmen nicht so mir nichts dir nichts aufheben, Frau Becker."
"Wiederholen Sie das bitte vor Herrn Rektor Kunz."
"Warum so aufgeregt, man kann sich vernünftig über alles unterhalten." "Eben. Aber Sie ..."
"Also gut, Frau Becker, lassen wir es dabei bewenden - weil Artur sonst einer meiner Besten ist."
"Danke schön, Herr Neblich; auf Wiedersehn."
"Auf Wiedersehn, Frau Becker."
Artur flitzte vor ihm in die Klasse. Neblich war klug genug, sich nichts anmerken zu lassen. Aber seiner Schulmeisterseele hatte diese Begegnung einen Knacks versetzt. Die Erfahrung eines langen Lehrerlebens hatte ihm gezeigt, dass sich Arbeitereltern wenig darum kümmerten, was in der Schule vorging. Und nun hatte eine Arbeiterfrau ihn gezwungen, sich zu korrigieren. Das war ihm noch nicht passiert.
War das ein Zeichen jener Aufsässigkeit, die, noch kaum merkbar, im Lande anstieg?