Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 13

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Schau unter die Pelerinen

Sie waren soeben mit den Schularbeiten fertig geworden. Aufatmend lehnte sich Bruno zurück und sagte enttäuscht: "Ziehst ein Maul wie 'n Alter."

Artur dachte daran, wie lange hin es noch bis zum Abendbrot war. "Wäre ich Laufjunge bei Tosch wie du, könnte ich auch lachen. Braucht der Grünkramfritze nicht noch 'ne Hilfe?"

"Der?" Bruno zog laut die Luft durch die Nase und wollte ausspucken. Die Sauberkeit der beckerschen Wohnung bewahrte die Dielen vor dem Attentat. "Der bezahlt doch keinen Pfennig. Gibt mir bloß immer Sachen, die er selber nicht frisst. Gestern 'n Pfund Linsen mit Maden."

"Linsen mit Maden sind besser als Hunger", sagte Artur.

"Stimmt", höhnte Bruno, "spart man den Speck."

"Und der Pferdekopf war wohl nichts?" bohrte Artur.

Bruno wurde sachlich. "Wenn Tosch davon wüsste, würde er mich achtkantig rauspfeffern."

"Für jede Woche einmal Pferdesülze würde ich ohne Geld in der Markthalle helfen." Solch ein Angebot, geboren aus dem ständigen Hunger des Kohlrübenwinters 1917, war verständlich.

Bruno fühlte mit Artur. Er bohrte in der Nase und überlegte. "Weißt du was? Du kommst einfach mit."

Gemeinsam zogen sie mit dem Handwagen zum Stadtinnern. Unterwegs instruierte Bruno den Freund. "Wenn einer was will, sagst du, wir beide arbeiten bei Tosch. Und immer wenn sich so 'n dicker Händler beim Auf- und Abladen quält, hin und nichts wie helfen. So kriegst du am ehesten eine Stelle."

Artur -staunte, wie viel es in einer Markthalle zu helfen gab. Manche sagten nicht einmal danke, wenn er für sie geschuftet hatte. Andere drückten ihm einen Groschen in die Hand und taten, als sei es ein Goldstück. Ein Misstrauischer schimpfte: "Hau ab - ihr wollt bloß klauen!"

Der Ertrag des ersten Tages war bescheiden. Erwähnenswert war nur eine Tüte voll angestoßener Äpfel als Lohn für eine halbe Stunde Abrollen mit der Sackkarre. Die fleckigsten Früchte aß Artur heißhungrig auf, den besseren Rest brachte er nach Hause. Mutter war brummig. Artur hatte nicht abgewaschen und aufgefegt, obwohl sie den ganzen Tag plätten gewesen war. Als Artur von seinem 'Glück' erzählte und auf die Äpfel wies, war sie versöhnt,

Einer der umgänglichsten unter den Händlern war Botterbluhm. Beim ersten Mal hatte Artur ihm einen Haufen Säcke sauber auf dem Plattenwagen geschichtet und geholfen, das Pferd anzuschirren. Dafür gab ihm Botterbluhm einen Weißkohlkopf, der nur an einer Stelle angefault war. "Kannst du wegschneiden", sagte Botterbluhm, "bleibt immer noch 'ne Menge Karnickelfutter." Er wusste ja nicht, dass Beckers einziges Kaninchen an Unterernährung krepiert war.

Bereits nach einigen Tagen rief Botterbluhm, als wäre Artur sein Hausdiener: "Wo bleibst du bloß, kannst du dich nicht zeitiger herscheren?"

Artur nahm "Brubbelkopp" die groben Worte nicht übel und fragte im Marktfrauenton, der im Kriege nur noch selten zu hören war: "Was soll's denn sein?"

Botterbluhm grinste: "Trab mit dem ollen Fritz nach Hause, stell ihn in den Stall. Ich hab' noch was Geschäftliches."

Artur kletterte auf den Plattenwagen und sagte: "Hüh!" Der olle Fritz wanderte gemächlich los. Brav ließ er sich in den Stall führen und abschirren. Artur schüttete ihm Futter vor und brachte den Stallschlüssel zu Frau Höggerath, wie ihm Botterbluhm geheißen. Die Putzfrau öffnete die Tür der großen Wohnung im Vorderhaus und nahm wortlos den Schlüssel. Da hörte Artur eine Frauensumme. "Soll mal herkommen!" - "Hier ist er, Madam!", sagte die Höggerath und schob Artur in eine Stube. Es war schön warm darin, und in der Luft schwebte ein schwer-süßlicher Geruch. Die Möbel hatten Dackelbeine und viele Schnörkel. Betroffen blieb Artur an der Tür stehen. Vor einem Tischchen mit drei Spiegeln saß die Madam. Sie hätte auch Botterbluhms Tochter sein können, so jung war sie. Ein seidenglänzendes Gewand hatte sie an, um den Ausschnitt wunderfeine Rüschen. Sie legte die Nagelfeile hin, dass es auf dem Glas silberhell klirrte und fragte: "Wo ist Botterbluhm?"

"Er hat noch was Geschäftliches", sagte Artur.

"Aha", sagte sie. Botterbluhm war also wieder in der Markthallenkneipe. Dort hoben die Händler öfter einen und noch einen. Vollgehoben war Botterbluhm kürzlich auf seinen Wagen geklettert und gleich darauf eingeschlafen. Der olle Fritz war nach Hause getrottet, vor dem Stall stehen geblieben und auch eingeschlafen. Botterbluhm war erst von der Kälte aufgewacht und hatte einen Hexenschuss weg. Die Kneipe war eine Art Börse; hier wurden die Sachen getauscht, verhökert und verschoben, von denen die Bevölkerung nie etwas sah. Das wusste Artur, und deshalb wunderte es ihn nicht, dass Botterbluhms so fein eingerichtet waren und dass die feine Madam nicht zu arbeiten brauchte.

"Du bist also der Artur?", sagte die junge Frau und trug mit einem Pinsel Lack auf ihre Fingernägel auf.

"Ja", sagte Artur etwas benommen.

"Botterbluhm sagt, du bist sonst nicht schüchtern." Die Madam schien an Arturs Verlegenheit Spaß zu haben. Sie holte eine Kristallschale voller Pralinen, zog einen der goldbeinigen Hocker, mit Seidenblumen auf dem Sitz, näher und sagte: "Setz dich hin und greif zu."

Artur ließ sich auf der Kante des Hockers nieder und nahm gehorsam eines dieser märchenhaften Stücke. Um etwas zu sagen, erklärte er: "Schmeckt wunderbar."

Die Madam lachte, dass die Rüschen ins Zittern kamen.

"Dann lass es dir schmecken." Artur griff noch einmal zu und schaute dann unentwegt in die Luft. Weit weg wünschte er sich, und im nächsten Augenblick, dass er noch lange hier sitzen könne.

"Warum isst du nichts?", fragte sie.

"Ich - äh - würde gern - wenn Sie - kann ich meinen Schwestern 'n paar mitnehmen?"

Erstaunt sah sie ihn an. "Bist ja ein väterlicher Bruder."

Sie kramte eine leere Bonbonniere hervor und schüttete den Inhalt der Schale hinein. "Nimm es mit. Und wenn du wieder hier zu tun hast, melde dich bei mir. Für anstellige Jungen habe ich immer was."

Artur stotterte seinen Dank. Als er wieder in der rauen Winterluft stand, kam ihm als Erstes der Gedanke: Die hat es gut. Sie gehört zu denen, über die sich Vater immer erbost, die das Leben genießen und die andern arbeiten lassen. Deshalb hätte Artur die Madam gern verachtet. Warum gelang es ihm nicht? Weil Frau Botterbluhms Freundlichkeit ihm wohlgetan hatte? Weil sie gut zu ihm gewesen war?

Artur war in der Markthalle bald eine gesuchte Kraft. Häufig half er Frau Klementowski. An ihrem Fischstand verkaufte sie Stinte und andern Kram, der vor dem Krieg an Schweine verfüttert worden war. Salzheringe waren schon etwas Seltenes, und es gab sie nur auf Karten. Für jede Arbeit packte Frau Klementowski Artur etwas ein. So ein Stück Dörrfisch oder ein paar Schellfischköpfe ergaben immer eine schmackhafte Suppe. Da konnte man sogar angefrorene Kartoffeln ranquetschen, das Süßliche schmeckte kaum durch. Als Albertine Klementowski sechzig Jahre alt wurde, gratulierte ihr Artur mit einem Blumenstrauß. Den gab ihm Frau Pumpert vom Blumenstand, der er das Tannengrün für Kränze zurechtschnitt. Albertine war so gerührt, dass sie Artur einen Karpfen schenkte, den sie eigentlich für sich reserviert hatte. Er war zwar nicht sehr groß, doch Artur war entzückt, als hätte er einen Wal erobert. Selig, den Fang in grauem Packpapier unter dem Arm, zog Artur ab. Er malte sich schon die Freudenrufe der Mutter aus, als plötzlich der Blaue, der immer in der Halle für Ordnung sorgte, vor ihm stand. Mit geübtem Griff hatte er das Paket in der Hand und wickelte es auf. "Wo hast du den her?" erkundigte er sich barsch.

Vorerst war Artur sprachlos. Er hätte nur die Spenderin zu nennen brauchen. Doch sollte er die gute Frau hineinziehen? Karpfen hatte es in den letzten Wochen überhaupt nicht gegeben. Weiß der Teufel, auf welchem Weg Albertine ihn ergattert hatte. Artur begann eine Antwort hervorzustottern, doch der Blaue ließ ihn nicht ausreden. "Jaja, mein Freundchen, geklaut! Jetzt kommst du mit, und ab geht's ins Zuchthaus."

Artur sah rote Kreise, und in seinem Kopf brauste es. Er wäre dem Blauen an die Kehle gegangen, wenn der ihn nicht derb gepackt hätte. Widerwillig erst, dann apathisch, ging Artur mit. Ein Stück von der Markthalle weg sagte der Blaue: "Gib es zu, dass du ihn geklaut hast."

"Nein", schrie Artur, "und außerdem können Sie mich mal, im Zuchthaus hänge ich mich sowieso auf!"

Der Blaue blieb stehen und ließ Artur los. Tief betrübt sah er ihn an. "Ein Menschenleben werde ich nicht auf mein Gewissen laden. Mach, dass du nach Hause kommst."

Schwupp, war der Karpfen unter seiner Pelerine verschwunden.

Zu Hause schimpfte sich Artur das Herz frei. Die Mutter hörte ihm zu und dachte: wie der Alte. Nun wird es wohl aus sein mit der nahrhaften Markthallenbeschäftigung. "Ich kann dich schon verstehen", sagte sie und seufzte.

Artur fuhr auf. "Ich gehe nicht mehr in die Halle arbeiten, lieber verrecke ich vor Hunger!" Dann lief er in die Kammer.

Von dort holte ihn der Vater. "Komm essen, Artur." Er packte seinen Zweiten beim Kopf, und sie schauten sich in die Augen. "Es muss auch so gehen, Junge. Deine Markthallenarbeit hat mir nie recht gefallen. Glaub mir, der Kladderadatsch kommt bald. Bis dahin müssen wir die Ohren steifhalten. Hast wieder was gelernt."

In der Stube holte der Vater den Schuhkarton mit den Familienpapieren. "Bist verständig genug, wirst nichts ausquatschen", sagte er zu Artur. Aus dem Stammbuch schüttelte er einen zusammengefalteten Zettel. "Hier, ist weidlich rumgegangen in unserer Werkstatt. Morgen geb' ich ihn weiter an die zweite Schicht."

Begierig überflog Artur den Text. Es war ein abgeschriebenes Flugblatt der Spartakusgruppe. In eindringlichen Worten wurden die Arbeiter zum Kampf gegen die Feinde im eigenen Land aufgerufen, gegen die imperialistischen Kriegsmacher und ihre Helfer, die sozialdemokratischen Durchhaltepolitiker. Da waren Wörter, deren Bedeutung Artur nicht begriff, doch der Sinn des Ganzen ging ihm ein.

Bruno hatte Artur nicht verstehen können, der ihm in der Schule doch stets über war. Wer hatte Artur denn den Tipp mit der Markthalle gegeben? Enttäuscht schimpfte Bruno: "Ehrgefühl! Was 'n Quatsch! Hast doch den Karpfen nicht geklaut."

Aber Artur brachte es nicht über sich, wieder in die Markthalle zu gehen. Um so eifriger stimmte er zu, als ihn die Mutter fragte, ob er mitkommen wolle über Land, Kartoffeln, Möhren oder Kohl aufzutreiben, irgendetwas Essbares.

Samstagmittag traf sich vor dem Bahnhof eine Gruppe Frauen, einige hatten ihre größeren Kinder mitgebracht. Auch die junge Frau Borbach war dabei und Erika. Artur und das Mädchen freuten sich mehr, als sie es zeigten. Die Bahnfahrt wurde ihnen recht kurzweilig. Der Zug war gedrängt voll, wie die Stopplerzüge im Herbst. Jetzt, im Februar des Jahres achtzehn, war die hart gefrorene Erde mit schmutzig-fleckigem Schnee bedeckt, und die goldenen Stoppeltage lagen fern wie ein verlorenes Paradies. Die im Zug nannten sich 'Hamsterer'. Artur gefiel das Wort nicht. Wir wollen, doch keine Vorräte anlegen wie der Hamster, dachte er, sondern nur unsere Hungerrationen aufbessern.

Die Reinshagener Gruppe strebte von der Bahn weg, quer ins Land hinein; überlaufene Dörfer an der Bahnlinie abzuklappern wäre vertane Zeit gewesen. Ein tüchtiger Fußmarsch brachte sie in ein einsames Dorf. Trotzdem gelang es keinem, Brot, Mehl, Eier oder Käse zu bekommen, nicht einmal Kartoffeln. Unter Wehklagen rückten die Bäuerinnen nur ein paar Kohlköpfe heraus, Mohrrüben und rote Rüben. Artur dachte an Nepomuk und dessen Bittgang. Jetzt ging er selbst von Tür zu Tür, um etwas zu kaufen, und es war doch wie eine Bettelfahrt.

Am Ende des Dorfes kam Artur mit einem gleichaltrigen Häuslerjungen ins Gespräch. Hubert beteuerte, sie hätten selbst nur so viel, um nicht hungern zu müssen und Schwein und Ziege über den Winter zu bringen. Dass Artur ihm das glaubte; gefiel ihm so, dass er verschwand und mit einem Maß voll Roggen und zwei rotbäckigen Äpfeln wiederkam: Während er den Roggen in Arturs Joppentasche kippte, meinte er verlegen: "'n bisschen was zu kauen in der Bahn." Artur verstaute die Äpfel in der Hosentasche und sagte seufzend: "Ihr habt's gut."

"Trotzdem würde ich tauschen", antwortete Hubert.

"Höchstens acht Tage würdest du unsern Kohldampf aushalten."

"Und du würdest es hier höchstens acht Tage aushalten, mit 'nem Haufen Langeweile und viel Prügel in der Schule. Wenn ich vierzehn bin, kratze ich aus."

"Besorg dir aber vorher 'ne Lehrstelle. Der Scheißkrieg wird bald aus sein, sagt mein Vater. Dann brauchen sie Arbeiter, weil so viele gefallen sind."

"Mein Bruder ist auch gefallen. - Vater sagt genauso: Scheißkrieg."

"Schreib dir meine Adresse auf. Wenn du mal nach Remscheid kommst, weißt du einen, den du kennst."

"Mann", sagte Hubert, "wir müssten Freunde werden."

Sein Gekrakel auf einer Tüte ging sehr langsam. "Wenn du mich nicht verrätst, verrate ich dir was."

Artur gab ihm die Hand darauf, und Hubert flüsterte: "Ihr müsst raus zum Gutsvorwerk, da sanieren sie Kartoffeln. Sie fahren auch bei Frost ab. Sie sagen, die Städter fressen alles." Er beschrieb den Weg, und sie trennten sich, als kennten sie sich schon lange.

Die Gruppe Landarbeiter war sehr erstaunt, als die Reinshagener bei der leeren Feldscheune auftauchten, auf deren Tenne eine Kartoffelklapper stand und unermüdlich ratterte. Kastenwagen rollten die Kartoffeln von einer Miete heran.

Luise Becker ging auf den Erstbesten zu und sagte: "Wir möchten gern Kartoffeln kaufen."

Der lachte. "Kann glauben - gutt for Chungerr." Es war ein kriegsgefangener Russe. Er wies auf einen älteren Hageren, das sei der Vorarbeiter. Der Hagere tat sehr erstaunt, obwohl er den Trupp schon bemerkt hatte. "Wie habt ihr denn hierher gefunden?"

"Wir' haben einen netten Herrn getroffen, der hat gesagt, Sie würden uns Kartoffeln geben." Frau Hänsgen sagte es so sicher, dass es fast glaubhaft klang.

"Sicher der Inspektor", sagte der Landsturmmann, der die drei Russen bewachte.

"Der Inspektor?" Zweifelnd schob der Vorarbeiter seine Mütze auf dem Schädel hin und her. Einerseits war ihm die junge Frau sympathisch, andererseits hatte sie von einem netten Herrn gesprochen. Das konnte schwerlich der Inspektor sein. "Wie sah er denn aus?", erkundigte er sich.

Der Landsturmmann im Hintergrund machte Zeichen, und Frau Hänsgen beschrieb den nie gesehenen Inspektor. "Och Gott, so genau ist das schwer zu sagen, aber ein bisschen untersetzt, Schnurrbart, Brille, ungefähr vierzig Jahre."

Die Gefangenen, die Landarbeiter und -arbeiterinnen schmunzelten über das schlagfertige Persönchen.

Der Hagere wurde unsicher. "Ich weiß nicht, was die Kartoffeln kosten, Kinders. Eine Waage haben wir auch nicht hier."

"Wir zahlen Ladenpreis!" - "Dreißig Pfund in jedem Sack können wir schätzen", schallte es ihm entgegen.

"Wir würden sie sogar unsortiert nehmen", versicherte Frau Hänsgen.

Die Landarbeiter und die Gefangenen nahmen die letzten Sätze des Vorarbeiters als Zustimmung und begannen den Frauen die Säcke zu füllen. Niemand merkte, dass sich das Verhängnis näherte. Es sah weit biederer aus, als die Junker und ihre Inspektoren immer im "Wahren Jakob" dargestellt wurden. "Was geht hier vor?" Er brüllte es nicht einmal, aber seine Stimme war strenger als die paar Grad Frost.

Des Vorarbeiters lange Gestalt wurde plötzlich demütig. "Ich - äh - Herr Inspektor - verkaufe denen ein paar Kartoffeln, wie - wie Sie's gesagt haben."

"Nein, der Herr nicht, es war ein anderer netter Mann, so ähnlich sah er aus", kam Frau Hänsgen dem Vorarbeiter zu Hilfe.

Doch der echte Inspektor reagierte anders auf den Charme der jungen Frau, als es der Vorarbeiter Krischan getan hatte. "Schütten Sie die Kartoffeln wieder aus", verlangte er.

Bittend, klagend drängten sich die Frauen um ihn. Sein blasses, rundes Gesicht blieb unbewegt. "Ein bisschen schnell, wenn ich bitten darf, sonst müsste ich Anzeige wegen Diebstahls erstatten."

"Wir wollen ja bezahlen!", rief Luise Becker.

"Alles ist abgerechnet, die Lore wartet."

"In der Miete sind viel mehr als 'ne Lore voll", wagte ein Landarbeiter einzuwenden.

Die Reinshagener zögerten noch immer, die Säcke wieder zu entleeren. Der Inspektor blieb sachlich, wurde nur einen Ton strenger: "Halten Sie mich nicht auf, schütten Sie die Kartoffeln wieder aus!"

Arturs Zorn drängte zur Entladung. Er trat auf den Inspektor zu. "In der Religionsstunde haben wir gelernt: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.' Wenn die Russen nach Hause kommen, können sie erzählen, wie sich die Deutschen geliebt haben."

Wortlos stand der Inspektor, sein Gesicht war einen Schein blasser geworden. Schweigend starrten die Menschen und sahen schon den Stock sich heben und auf den Jungen heruntersausen.

Der Inspektor drehte sich auf dem Absatz um und sagte im Fortgehen: "Verschwinden Sie mit Ihren Säcken und lassen Sie sich nie wieder hier sehen!"

Eilig füllte man die letzten Säcke der Reinshagener, band sie zu, und niemand beachtete mehr den Inspektor, der hinter einer Bodenwelle verschwand. Krischan und seine Leute nahmen kein Geld, denn der Inspektor hatte nichts von Bezahlen gesagt. Da ließen die Reinshagener eine gute Summe da, als Tabakgeld, auch für die Gefangenen. Fröhlich huckten alle auf und machten sich auf den Weg zur Bahnstation.

Gewitzt durch bittere Erfahrungen mit Gendarmen marschierten die älteren Jungen voraus, um die andern warnen zu können. Artur schwitzte trotz der Kälte, war aber guter Dinge. Die beiden Äpfel beulten seine Hosentaschen. Einen würde er Erika geben. Ein fernes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Misstrauisch blieb er stehen. Fiete und Wille hörten es auch. Es erinnerte an Trommelwirbel. Es schwoll an und ab, schien näherzukommen. Artur warf seinen Sack hinter einen Strauch und flitzte die Böschung hinauf. So sah er die Graugrünen zuerst. Sie kamen um die Kurve gejagt, hatten jetzt die höchste Erhebung der Chaussee erreicht.

"Lauft, Jungs", brüllte Artur, "berittene Landjäger!" Er selbst blieb oben und hastete am Waldsaum zurück. Öfter sah er sich um. Die Jungen hatten ihre Last mitten auf die Landstraße geworfen und rannten wie um ihr Leben. Das erste Pferd scheute vor den Säcken, ging mit den Vorderbeinen in die Höhe, und der Reiter sauste in den Chausseegraben. Die Anderen preschten weiter, und der herrenlose Gaul trabte ihnen nach. Fast gleichzeitig mit den beiden Jungen langten sie beim Haupttrupp an. Sie rissen ihre Pferde zum Stehen, dass die Funken stoben. Die Frauen und Mädchen schrien auf.

"Lasst das Geplärr", brüllte der Anführer, "kehrt marsch, und die Kartoffeln zurückgebracht!" Als habe er einen Feindtrupp eingebracht, klatschte er sich mit der Reitgerte auf die Schaftstiefel, "Mal 'n bisschen dalli. Zu vieren angestellt und dann ab durch die Mitte! - Hätte euch so passen können, Herrn Inspektor Siemsen auf die Tour zu beklauen."

Vor Wut und Enttäuschung presste Artur die Fingernägel in die Handballen. Was machst du bloß, was machst du bloß, dachte er in seinem Versteck hinter der großen Kiefer.

Die Frauen und Kinder standen neben den Säcken, verbissen, finster, einige weinten leise. "Wird's bald?", schnauzte der Graugrüne mit den silbernen Tressen.

Mit einer einzigen Bewegung riss Luise Becker ihren Rucksack hoch und schleuderte die Kartoffeln in den Chausseegraben. "Da habt ihr sie!" Die junge Frau Hänsgen tat es ihr sofort nach, und dann auch die anderen Frauen. "Bringt sie selbst zurück!" - "Habt ja schöne, starke Gäule!"

Der Betresste riss sein Pferd zu Luise Becker hin und hob die Reitpeitsche. "Wag es nicht!", kam es aus der Höhe, und der Angreifer ließ die Hand sinken. Er schaute nach oben und entdeckte den Jungen. Artur war außer sich und zu allem fähig, um die Mutter vor Schlägen zu schützen. "Frauen zu schlagen ... Knechte, feige Knechte!" Seine Stimme überschlug sich vor Wut.

Der mit der Reitpeitsche schäumte. "Absitzen!", befahl er. "Entsichern!" Nicht sehr schneidig kamen die Landjäger dem Befehl nach. Es ärgerte den Rasenden. Diesem Schreihals musste man einen Schreck einjagen. "Anlegen!", brüllte er.

Ein Landjäger kam von der Stelle des Sturzes geritten.

"Herr Wachtmeister", rief er, "Kamerad Dumski ist tot!"

Plötzlich herrschte Stille. Es war, als könne man das Knistern der zunehmenden Kälte hören. Ohne Befehl preschten die Landjäger zurück. Das Pferd des Gestürzten stand mit schleifendem Zügel und knabberte an einem Kohlkopf.

Die Reinshagener erwachten aus der Erstarrung.

"Kommt rauf, und dann fort!", rief Artur. Hastig krochen alle die Böschung hinauf. Die Jungen halfen den Frauen, die Frauen den Mädchen. "Dicht hintereinander!" Die Arme schützend vor das Gesicht haltend, tauchte Artur als Erster in das Dickicht einer Tannenschonung. Bald kamen sie auf einen Jagenweg, den später ein Fahrsteig kreuzte.

"Unsre schönen Kartoffeln", klagte die junge Frau Hänsgen, "hätten wir nicht ..." Artur unterbrach sie: "Wenn der Landjäger wirklich tot ist, sagen sie, Fiete und Willem haben die Säcke hingeschmissen, damit er sich den Hals bricht."

Es begann zu dämmern. Luise Becker mahnte zur Eile. Borbachs hielten sich bei den Beckers. In Erikas Augen war noch immer der Schreck zu lesen. Artur gab ihr einen Apfel. "Für euch beide." Den andern brach er durch und gab der Mutter eine Hälfte. Erika hängte sich bei ihm ein, presste ihr Gesicht gegen seinen Arm. Verlegen brummelte er: "Iss - nachher sieht alles schon anders aus."

"Ich kann jetzt nicht."

Er legte brüderlich seinen Arm um ihre Schulter. Links und rechts gingen die beiden Mütter und schauten geradeaus.

Ohne Zwischenfälle erreichte die Gruppe den Heimatbahnhof. Als Beckers und Borbachs sich verabschiedeten, hielt Erika noch den Apfel in der Hand. Verstohlen fuhr ihr Artur übers Haar. "Sei nicht mehr traurig."

Bei Beckers war man in Sorge. Längst war die Essenszeit vorüber. Frau Wiesflecker hatte Jenny, die sie öfter verwartete, zurückgebracht. Als Mutter und Sohn in die Wohnung traten, empfing man sie mit aufgeregten Fragen. Luise Becker sank auf ihren Stuhl am Küchentisch, legte den Kopf auf die Arme und weinte.

So hatte Artur die Mutter noch nicht gesehen. Es erschütterte ihn mehr als alles andere an diesem Tag.

Er konnte lange nicht einschlafen. Wachträume quälten ihn. Er sah Karabinerläufe auf sich gerichtet. Die Kugeln töteten ihn lautlos, und als er umsank, erblickte er die weinende Mutter.

... und nicht auf den Knien

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