Читать книгу ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich - Страница 15
ОглавлениеViele Zeichen und beinahe ein Wunder
Über einen Punkt gab es in der Familie Becker hitzige Aussprachen. Die Mutter wusste, dass die Kinder einiger ihr bekannter Familien verschickt worden waren. Sie sollten eine Weile hinaus aus den dumpfen Städten und gesunde Landluft atmen, hieß es offiziell. Das ist schon mehr als eine schamhafte Umschreibung für Unterernährung, dachte Luise Becker, ohne die erschreckenden Befunde der Schulärzte zu kennen. Ihr genügte das lebende Beispiel ihres Zweiten. Artur war jetzt in dem Alter, wo die Jungen "schießen", oft das Doppelte von dem verputzen können, was ein Erwachsener braucht. Zäh war Artur, aber gottserbärmlich mager, hatte bei Weitem nicht das Normalgewicht. Deshalb meinte die Mutter, er habe Anrecht auf einen Fahrschein in die Gefilde des Sattwerdens. Der Vater bestritt es nicht, doch lächelte er über ihren Eifer. Der Sohn eines Roten, obendrein vom Religionsunterricht abgemeldet, sollte der staatlichen Fürsorge teilhaftig werden?
Luise Becker in ihrem praktischen Sinn ließ nicht locker. Mehrmals im Verlauf des ersten Halbjahres achtzehn ging sie zu Rektor Kunz, er möge Artur wenigstens auf die Liste setzen. Sie war überzeugt, der untersuchende Arzt würde dann die Verschickung verordnen. Doch Woche um Woche verging. Anscheinend hatten es andere Kinder noch nötiger als Artur. So schienen Vater und Sohn recht zu behalten. Ausgerechnet Neblich erwies sich dann als Wundertäter. Er erfuhr von Luise Beckers Bemühungen und setzte sich für Arturs Verschickung ein. Und siehe da, nun ging es. Neblich verschwieg den Beckers keineswegs, dass er der Deus ex Machina gewesen. Er erhoffte wohl durch diese Fürsprache einen Umschwung ihrer Ansichten.
Artur befürchtete, das Märchen werde genau in die Herbstferien fallen, und er wollte doch in diesem Jahr noch mehr Kartoffeln stoppeln als im vorigen.
Seine Befürchtungen waren grundlos. Es wurde Ende Oktober, als Artur endlich nebst dreißig andern Schuljungen aufgeregt auf den Zug wartete, der sie zur Erholung ins Kinderheim nach St. Goarshausen am Rhein bringen sollte.
Wer mochte wissen, welchen Zwecken das Gebäude schon gedient, von welchem letzten Besitzer es der Staat erworben hatte? Jedenfalls gaben die Behörden die Mittel, die geistige und organisatorische Leitung hatten Nonnen. Sie staken bis zum Hals in Schwarz, ihre weißen Hauben liefen aus in mächtige Flügel. Artur, aus dem protestantischen Remscheid kommend, wusste nicht, welchem Orden die Nonnen angehörten. Er fand die peinlich saubere Tracht lustig, weil die Nonnen ihn darin an folgsame Vögel erinnerten, stets auf dem Sprung, sich in die Lüfte zu erheben und geradenwegs in den Himmel zu fliegen.
Schwester Natalie und Schwester Ursula empfingen die Kinder auf dem Bahnhof, der ältlich-mürrische Behördenmensch, der sie hergebracht hatte, fuhr aufatmend zurück. Natalie und Ursula hätten Zwillinge sein können. Ihre gleichartige Kleidung ließ nur die Gesichter sehen, die weder hässlich noch schön waren und meist lächelten. In einer Art Empfangshalle wurden die Kinder von der Frau Oberin begrüßt. Ihr Antlitz war anziehend wie ein Madonnengesicht. Artur betrachtete sie bewundernd und nahm ihre wohlgeformten Worte wie aus weiter Ferne wahr. Sie sollten hier gesund und kräftig werden bei Spiel und Sport. Sie würden es gut haben, wenn sie sich anständig benähmen. Dazu gehöre die Einhaltung der Essens- und Schlafenszeiten. Sonst solle nichts an die Schule erinnern, und man hoffe, alle würden sich freuen, manch neues Lied, manch neues Spiel zu lernen. An die Eltern könnten sie schreiben, wann immer sie Lust dazu verspürten, Karten und Briefe werde ihnen Schwester Ursula geben.
Erlöst lärmten die Jungen hinaus, als die Begrüßung beendet und eine erste Atzung versprochen war. Artur hätte der wohltönenden Stimme gern noch länger gelauscht. Kaspar, neben Alois der Einzige aus Arturs Klasse, riss ihn aus seiner Nachdenklichkeit. "Ich bin vielleicht gespannt."
"Worauf?"
"Was sie anfahren werden."
Nachdem jedem sein Bett im Saal des zweiten Stocks zugewiesen worden war, mussten sie an der Ausgabe der Küche vorbeigehen. Jeder bekam einen Emaillebecher voll Malzkaffee und Milch. Dann ging es in den Essraum. Die beiden Schwestern schleppten Riesenteller voller Marmeladenschnitten heran. Kaspar schaffte sieben Schnitten. Alois aß nur eine. Seine Grimassen zeigten deutlich, wie er dieses frugale Mahl verachtete. An beiden Enden des langen Tisches residierten Natalie und Ursula, holten noch Brote, gossen Kaffee nach. Dann erklärte Natalie, ab morgen sollten dieses Amt sechs Kinder übernehmen. Viele meldeten sich. Kaspar war selig, zu den Ausgewählten zu gehören. Immer herantragen, um selbst davon einen beliebigen Teil einschaufeln zu können, war für ihn der Gipfel des Glücks. So viel Brot auf einmal hatte er noch nie gesehen, so viel hatte er noch nie essen dürfen. Dieses Kinderheim war ein Paradies mit nur einem dunklen Punkt.
Kaspar stieß Artur an.
"Was will eigentlich der Dicke hier?"
Arturs Blick wanderte zu dem strammen Bäckerjungen.
"Sich endlich mal satt essen."
Kaspar musste so laut lachen, dass Schwester Natalie aufmerksam wurde. "Dürfen wir alle erfahren, worüber du dich freust?"
Verlegen, wie in der Schule, stand Kaspar auf. "Mein Freund, der Artur, hat gesagt, Alois sei im Kinderheim, damit er sich endlich mal satt essen kann."
Milde fragte Natalie: "Geht es dir nicht ebenso?"
"Ja. Aber die Bemmlers haben doch 'n Bäckerladen. Der Alois kriegt so viel, dass er Brötchen gegen Abschreiben verschenkt oder gegen Murmeln verkitscht oder ..."
"Schwindel doch nicht!", rief Alois vom andern Tischende.
"Er schwindelt nicht", widersprach Artur. "Unser Klassenlehrer kriegt öfter Brot ohne Marken von Bemmlers. Deshalb hat er auch dafür gesorgt, dass Alois mitkommt. Und er gibt ihm auch Nachhilfeunterricht, damit er immer versetzt wird."
"Das schreibe ich Neblich, und der wird dir schon!", schrie Alois.
"Brülle nicht wie ein Fuhrknecht", verwies ihn Schwester Natalie, und zu Artur gewandt sagte sie: "Es gibt auch Kinder, die gesund aussehen, aber innerliche Schäden haben. Wer mit durfte, hat der Arzt bestimmt."
Artur hatte es anders erlebt. "Wäre Herr Neblich nicht für mich eingetreten, wäre ich auch nicht hier."
Schwester Natalies blasses Gesicht färbte sich rosa. "Da wundert's mich um so mehr, dass du deinen Lehrer anschwärzt."
"Was wahr ist, ist wahr", murrte Artur.
"Wir zahlen mehr Steuern als ihr", trompetete Alois, "und da habe ich genauso das Recht, ins Kinderheim zu kommen!"
"Kinderheime sind bloß für Unterernährte!" protestierte Kaspar.
Die beiden Nonnen waren verstört, einen derartigen Zusammenprall kindlicher Gegensätze hatten sie noch nicht erlebt. Schwester Ursula fasste sich zuerst. "Nun mal nicht so laut und unziemlich. So böse Worte wünschen wir nie wieder zu hören. Ihr seid alle Kinder Gottes und darum Freunde."
"Seid ihr alle satt?" Schwester Natalie versuchte, die Szene rasch vergessen zu machen. Zufriedenes "Jaaa!" ertönte.
"Dann werden wir jetzt beten." Beide Schwestern erhoben sich, und die Kinder markierten wie bei Neblich. Sie falteten die Hände und taten, als beteten sie innerlich.
Kaspar sah Artur an. Der schüttelte nur kurz den Kopf. Und so saßen sie beide still da, ohne die Hände zu falten. Sie bewegten auch nicht die Lippen und schauten eher trotzig als andächtig drein. Die Nonnen sahen es, schwiegen jedoch dazu.
Nach dem Gebet gab Schwester Natalie bekannt, dass jeder selbst sein Bett machen, und dass alle gemeinsam den Saal sauber zu halten hätten. Für das alles solle einer verantwortlich sein. In wohlmeinender Absicht bestimmte sie Alois dazu.
Ein wenig schadenfroh dachte Artur, mit dem Saalersten Alois werden sie ihr blaues Wunder erleben. Die fest umrissene Ordnung dagegen gefiel ihm.
Um neun hieß es schlafen gehen. Es wurde im Dunkeln noch gewitzelt und erzählt, bis Alois herrisch "Ruhe!" brüllte. Um sieben am nächsten Morgen war Wecken, und Alois war im Bewusstsein seiner Würde als Erster aus dem Bett. "Du fegst den Saal!" kommandierte er Artur, und Kaspar sollte die Asche aus dem riesigen Ofen nehmen. Die beiden zwinkerten sich zu, taten aber gewissenhaft ihre Pflicht.
Ein Herbstmorgen mit Raureif und Sonne lockte. Schwester Ursula kündigte eine Vormittagswanderung durch die schöne Umgebung an. In losen Gruppen, plaudernd, gingen die Jungen durch den hallenden Gang über die breite Treppe nach unten. Dort erregte ein großes Bild Arturs und Kaspars Aufmerksamkeit: Seine Majestät, Wilhelm II., in glänzendem Kürass, alles in Weiß und Silber.
Kaspar schüttelte seine Ehrfurcht ab und sagte: "Kann man sich gar nicht vorstellen, dass der so geizig ist."
"Der ist noch viel schlimmer", knurrte Artur, "der ist schuld an unserm dauernden Kohldampf."
Kaspar nickte, seinen Zwiespalt hinunterschluckend. Kohldampf hatten sie wirklich dauernd, und der Kaiser als Oberster musste wohl daran schuld sein.
"In Wirklichkeit hat er auch einen kurzen Arm", verkündete Artur, was er erst vor Kurzem aufgeschnappt hatte.
Kaspar stierte beinah erschrocken auf die beiden wohlgeformten Arme mit den pompösen Stulpenmanschetten. "Hat der Maler aber nicht mitgemalt."
"Der wird sich hüten." Artur fühlte sich erhaben über die Naivität des Freundes. "Die erzählen uns auch nicht, dass er beim Boxerkrieg in China gesagt hat, die deutschen Soldaten sollen rangehen wie die Hunnen. Deshalb nennen die von der Entente uns jetzt Hunnen."
"Die Engländer nennen uns Fritzen", behauptete Kaspar.
"Die Engländer sind auch Entente, und manchmal sagen sie wohl Fritzen."
Jetzt erst bemerkten sie Alois, der hinter ihnen stand und vielsagend grinste.
Die beiden Freunde beachteten ihn nicht. Sie gingen zur anderen Seite der Halle, wo ein zweites Bild hing. "Der letzte Mann", stand auf einem Schildchen darunter. Hoch wogte die graugrüne See und wollte ein kieloben treibendes Unterseeboot verschlingen. Auf dem letzten Rest, bis an die Knie schon im Wasser stehend, barhäuptig und mit aufgekrempelten Ärmeln, stand ein Matrose. In schwieliger Faust reckt er die Reichskriegsflagge gen Himmel. Gleich würde er mitsamt der Flagge untergehen, aber allen Feinden hatte er noch einmal gezeigt, was eine deutsche Harke ist.
"Quatsch mit Soße", sagte Artur betont verächtlich, als er merkte, wie Kaspar das Drama bestaunte. "Wenn du am Abgluckern wärst, würdest du nicht lieber nach 'nem Balken oder Rettungsring sehen, anstatt mit der Fahne rumzufuchteln?"
"Ja", antwortete Kaspar zögernd, "aber manche sind vielleicht so."
"Wenn er wirklich für den Kaiser und seinen Krieg ist, dann muss er sich erst recht zu retten versuchen, damit er auf einem andern Schiff weiterdienen kann." Artur bewunderte sich selbst ein bisschen für diese Antwort.
"Schon", sagte Kaspar beinahe traurig und bestaunte weiter das Bild. Es erregte seine Gefühle stärker als die Vernunftargumente Arturs seinen Verstand. Das war doch alles ganz echt: ein Seemann, wie er ihn sich vorstellte, stark, braun gebrannt, hartes Gesicht. War bestimmt ein mutiger Kerl. Mindestens so wie Onkel Richard - wenn der Matrose geworden wäre - und dessen Taschenuhr er noch immer nicht hatte, weil Onkel Richard bisher am Heldentod vorbeigekommen war.
"Nun, Jungens, rasch, rasch!" Schwester Ursula kam und klatschte fröhlich in die Hände.
Sie führte die Schar durch das schöne alte Städtchen und wusste viel Interessantes über historische Stätten zu erzählen. Vermutlich war sie hier aufgewachsen. Einer ihrer dankbarsten Zuhörer war Artur.
Heißhungrig strömten sie zur Mittagszeit in den Essraum und fielen über die Löffelerbsen her, kaum dass die Beterei zu Ende war. Speckstückchen fanden nur einige, aber wer fragte schon danach, durfte man doch von der "kräftigen Hausmannskost" einfahren, so viel nur der Magen fasste.
Mit einem lang gezogenen "Hiii" schnippte Alois von der Löffelspitze etwas auf den Tisch. "Maden!" Entrüstet schob er die Emailleschüssel von sich. Erschrocken hielten dreißig Jungen im Einschaufeln inne.
Artur betrachtete die angebliche Made. "Dämlich wie immer", stellte er fest und gab Alois einen Knuff, "ist doch 'n Erbsenkeim." Er ging wieder zu seinem Platz und aß mit Appetit weiter.
"Bist wieder mal oberschlau", keifte Alois, "ich weiß doch, was Maden sind!"
Ein Junge foppte Alois: "Kneif ihr in den Schwanz, wenn sie quietscht, ist es 'ne Made!"
"Dem passt das ganze Essen nicht", empörte sich Kaspar, "der will Gebratenes und andere Kinkerlitzchen!"
"Dafür wird er schön abgenommen haben, wenn er nach Hause kommt, deswegen ist er doch hier", sekundierte ihm Artur.
"Ihr seid bloß wütend, weil ihr heute ausfegen musstet", setzte sich Alois zur Wehr.
Unverfroren diktierte ihnen der Dicke jeden Morgen die gleiche Arbeit zu. Als die Woche um war und Alois wieder hämisch auf den Besen wies, nahm Artur den und drückte ihn einem Busenfreund Alois in die Hand. "Jetzt bist du mal dran, und dann du, und dann du", eröffnete er der Garde des Dicken, die alle erschrocken die Münder aufrissen.
"Was fällt dir ein?", schnauzte Alois, "eingeteilt wird von mir. Und wer nicht pariert, den melde ich Schwester Natalie."
"Um so besser", entgegnete Artur, "da kann ich ihr sagen, wie ungerecht du einteilst."
Am anderen Morgen, als die Jungen beim Frühstück saßen, kam Schwester Natalie in den Saal. "Artur, komm mit", sagte sie. "Wir gehen zur Frau Oberin. Benimm dich korrekt, sie mag keine unartigen Jungen."
Auf das Klopfen der Schwester ertönte das "Herein!" der wohltönenden Stimme. Als sie dann eintraten, fühlte sich Artur leicht beengt. Der Raum, mit wenigen dunklen Möbeln ausgestattet, erinnerte eher an eine Kapelle als an ein Büro. An der Stirnwand, unter einem fast lebensgroßen Gekreuzigten mit richtigen roten Blutstropfen, stand ein Lehnsessel: Die Frau Oberin thronte dort, auf der Brust ein einfaches Kreuz aus Gold. Sie erhob sich, Schwester Natalie küsste ihr die Hand und sagte: "Da ist der Artur, Frau Oberin."
Frau Oberin machte ein Zeichen, und Natalie verschwand.
"Wie gefällt es dir bei uns, Artur?", begann Frau Oberin zutraulich die Unterhaltung.
"Fein", erklärte Artur ehrlichen Herzens, "bloß, dass der Alois so ungerecht ..."
Würdevoll winkte Frau Oberin ab. "Lass diese läppischen Streitigkeiten. Ich wollte anderes mit dir besprechen." Sie machte eine Pause und fragte dann: "Was hast du gegen uns, Artur?"
"Gegen wen?" Artur war erstaunt.
"Gegen Schwester Ursula und Schwester Natalie."
"Nichts."
"Und warum betest du dann nicht mit ihnen?"
Daher weht der Wind, dachte Artur. "Ich bin vom Religionsunterricht abgemeldet."
"Du glaubst nicht an Gott?"
Artur überlegte. Soll sie's ruhig erfahren, dachte er und sagte einen Grad unbefangener, als ihm zumute war: "Das hat mir unser Klassenlehrer ausgetrieben."
"Ist er auch ein Heide?"
"Im Gegenteil. Er redet immerzu von Gott. Als der Krieg anfing, hat er gesagt, es sei Gottes Wille und Gott wird machen, dass wir siegen. Jetzt verlieren wir den Krieg, und da redet er sich heraus, Gott hat uns geprüft und zu leicht befunden. Das hätte der allwissende Gott doch vorher wissen müssen. Da hätten wir uns den Krieg gespart, den Kohldampf, die Unterernährung und all das ..."
Der Frau Oberin Madonnengesicht blieb gleichmäßig freundlich, doch ihr hoher Busen hob sich einige Mal, so heftig atmete sie. "Und du meinst nicht, dass du dir Urteile anmaßt, die Gott nur allein zu fällen hat?"
"Nein", erklärte Artur aus tiefstem Herzensgrund, "was man weiß, weiß man, und man soll die Wahrheit sagen, auch - auch wenn's schwerfällt."
Die Heilige auf dem Thron hätte bei dieser Unbefangenheit beinahe laut herausgelacht. Es gelang ihr, diese unmögliche Gefühlsaufwallung in ein nachsichtiges Lächeln umzuwandeln, "Dann wirst du auch die Wahrheit nicht verschweigen in dem, was du über unsern Kaiser denkst."
Diese Petze, dieser Alois, empörte sich Artur innerlich, das hat er also auch hinterbracht. Aber ich werde ihr schon meine Meinung sagen. "Vom Kaiser denke ich schlecht. Wenn er sich so stark fühlt, hätte er ja mit dem Zaren Zweikampf machen können wie David mit Goliath. Das wäre viel einfacher gewesen. Dann hätte Gerhard seinen Vater noch und Franz und die andern."
Trotz aller Willensübungen konnte Frau Oberin nicht verhindern, dass Röte der Erregung in ihre Pfirsichwangen stieg. Nun konnte sie sich eines sanften Vorwurfs in ihrer Stimme nicht mehr enthalten. "Artur, Artur, spürst du nicht, wie selbstgerecht du bist? Würdest du alles so viel besser machen bei der Sorge für über sechzig Millionen Menschen?"
"Für uns hat er nie gesorgt und für alle, die um uns herum wohnen, auch nicht. Braucht er auch nicht. Wenn er wenigstens geschafft hätte, dass kein Krieg kommt, wo er sich doch selbst mal 'Friedenskaiser' genannt hat."
Der Gedanke an die Obhut über sechzig Millionen Einzelwesen bewegte die Oberin ehrlich, schon gar, wenn sie nur an das eine Exemplar hier vor sich dachte. "Überlege mal s-e-c-h-z-i-g M-i-l-l-i-o-n-e-n, jeder will anders, und das soll so einfach sein?"
"Für den Kaiser: ja. Er ist doch von Gottes Gnaden."
Das ist der Einfluss des Elternhauses, dachte Frau Oberin, bestimmt ist der Vater ein Roter. Schade, dieser Artur ist eigentlich ein netter Junge. Man muss für ihn beten. Doch man muss auch verhüten, dass er die andern Kinder mit seiner Auflehnung, seinem Unglauben, seiner heidnischen Skepsis ansteckt. "Artur, es ist vieles im Leben schwieriger, als du dir vorstellst ..."
"Das sagt Vater auch immer, wenn Lehrer Neblich uns was erzählt hat, was nachher anders ist."
"Wahrscheinlich sieht auch dein lieber Vater manches zu einfach. Und dir, Artur, wird Gott eines Tages begegnen, und du wirst über vieles anders denken lernen. Für die Zeit, die du bei uns bist, bitte ich deine Hand darauf, dass du deine Gedanken über Gott und Kaiser für dich behältst und beim Beten, sagen wir, wenigstens die Hände faltest."
"Da soll ich heucheln?"
Die Oberin wurde zum ersten Mal streng. "Nein, Artur. Du sollst dich in die Gemeinschaft einfügen. Du störst sonst die andern. Wenn du tust, wie ich dir sage, heuchelst du nicht, weil du mir gesagt hast, dass du nicht an Gott glaubst."
Die Gemeinschaft zu missachten war einer der schlimmsten Vorwürfe, die man Artur machen konnte. Und es fiel schwer, dieser engelsgleichen Frau den Wunsch abzuschlagen. Er gab sich einen Ruck und wurde feierlich: "Frau Oberin, das kann ich nicht!"
"Warum nicht, Artur?" Noch nie hatte ihre Stimme so himmelsrein geklungen.
"Ich störe niemanden", sagte er, "die meisten merken es gar nicht, bloß Schwester Ursula und Schwester Natalie. Die wissen sowieso, was mit mir los ist, sonst hätten sie es Ihnen nicht erzählt."
Frau Oberin versuchte es mit der List. "Du hasst mich also, Artur?"
Er war erschrocken und stotterte: "Nein - nein - wirklich nicht."
"Dann könntest du doch mir den Gefallen tun."
Artur spürte immer deutlicher, dass es hier um eine grundsätzliche Entscheidung ging. Und dies gab ihm die Erwiderung ein: "Da könnte ich doch sagen; dass Sie mich hassen, weil sie meine Ehrlichkeit nicht wollen."
"Und wenn wir nun anordnen würden, du hast mitzubeten?" fragte die Oberin.
Jetzt war Artur in der Falle und schwieg verwirrt. Irgendwer musste ja wohl Befugnisse haben, die Gemeinschaft zu lenken. Glücklicherweise kam ihm die Erinnerung an die Empfangsworte der Oberin. "Dann wäre es ja schlimmer als in der Schule", sagte er.
Die Geduldige verlor die Geduld. Sie wollte Artur treffen, und es gelang ihr, als sie sagte: "Du bist ein aufgeweckter Junge, man hätte von dir mehr Freundlichkeit erwarten können. Aber du bist verstockt. Geh jetzt, ich mag dich nicht mehr sehen."
Stumm wandte sich Artur zur Tür. Diese schöne, freundliche Frau beleidigt zu haben, bereitete ihm Pein, dennoch fand er es richtig, hart geblieben zu sein. Wenn ich Kaspar hätte sagen müssen, ich habe ihr versprochen, wir beten jetzt immer, dachte er, welche Blamage.
Draußen empfing ihn Schwester Natalie. Aus seiner Haltung, aus seinem Gesicht erriet sie das Meiste. Sie war eher verstört als feindselig. Schweigend brachte sie Artur nach oben und sagte leise, als sie ihn in den Saal schickte: "Der Herr wacht über alle."
Noch am selben Tag suchte Frau Oberin um eine dringliche Unterredung mit dem Herrn Prälaten nach. In klaren, kühlen Worten, aber innerlich erregt, berichtete sie vom Erlebnis des Vormittags. Hochwürden erstaunte und verbiss sich ein verwundertes Lächeln. Ein Schulbub hatte es vermocht, die schöne Heilige aus der Fassung zu bringen? So wurde es ihm nicht schwer, überlegen zu bleiben, als Frau Oberin vorschlug, Artur nach Hause zu schicken.
Der Herr Prälat, gut mit dem Leben draußen vertraut, schüttelte nachsichtig den Kopf. Die allein selig Machende habe die Zeichen der Zeit noch immer rechtzeitig zu deuten gewusst. Wenn ihn nicht alles täusche, komme jetzt die große Zeit der Rettung des Vaterlandes durch alle im Glauben. Aber mit Härte dürfe dieser Weg nicht beschritten werden. Der Vater dieses Bürschleins schaue nicht danach aus, dass er sich eine derartige Bestrafung stillschweigend gefallen ließe. Er würde Alarm schlagen in dieser Zeit sich mehrender Alarme. Ob Frau Oberin meine, dies könne der katholischen Lenkung und Leitung des staatlichen Kinderheims von Nutzen sein?
Bei des Herrn Prälaten kluger Rede war die Oberin ruhiger geworden. Mit demütigem Augenaufschlag erkannte sie seine höhere Einsicht. Man einigte sich, den Renitenten besonders zu beobachten und ihn so unauffällig wie möglich zu isolieren.