Читать книгу Koblanks - Erdmann Graeser - Страница 4

1

Оглавление

Der Sommer war überreif, der Herbst, an den noch niemand so recht glauben wollte, kam. Wem es nicht die Anzeichen der Natur verrieten – die seltsam klare Luft, die feinen blauen Dunstschleier abends und morgens in den Baumwipfeln –, dem kündete es ein anderes untrügliches Zeichen: die Berliner Jungen zogen zum Drachenfest aufs Tempelhofer Feld hinaus.

Aber nicht mehr allein, die Angehörigen kamen mit, denn die Väter – wieder jung – waren ebenfalls vom Drachenfieber erfaßt worden. Schon von weitem, ehe das freie Gelände da draußen vor dem Halleschen Tor-Bezirk erreicht war, sah man bereits die Drachen unter dem blauen Himmel flimmern – in allen Farben, einen immer höher als den anderen. Überall auf dem ausgedörrten Grase Menschen – die meisten hatten es sich bequem gemacht, lagen auf dem Rücken, blinzelten nach den Drachen, verfolgten jede Bewegung und lachten schadenfroh hinter denen her, die sich in eiligem Lauf vergeblich abquälten, ihren Drachen zum Aufstieg zu bringen.

Wie das Mauerwerk einer Festung ragten die starken Wände der Brauerei Tivoli aus der Ebene. Von dort klangen heute, am Sonntagnachmittag, die Töne der Kapelle, und in den Konzertgarten zog alles, was den Groschen Eintrittsgeld bezahlen konnte und sich nun bei Bier und Gänsebraten oder Jauerschen Würsten mit Meerrettich von der Mühsal einer langen Arbeitswoche erholen wollte.

»Büblein wirst du ein Rekrut,

Merk dir dieses Sprüchlein gut ...«,

tönte es schmetternd. Die Kellner balancierten auf hochgehobenen Händen große Servierbretter, besetzt mit schäumenden Bierseideln, alte, verhutzelte Frauen bahnten sich mühsam durch das Gewühl einen Weg und verkauften, von Tisch zu Tisch humpelnd, Salzbrezeln zum Anreizen des Durstes für die Erwachsenen oder runde, steinharte Pfefferkuchen für die Kinder; zuweilen kam auch ein Händler, an Bindfäden in der Luft hinter sich herziehend ein Gewirr roter, grüner oder blauer Ballons, die den Jüngsten von manchen Vätern gern als Notbehelf für einen Drachen gekauft wurden.

Die Luft war durchbraust vom Rufen, Schreien und Sprechen Tausender von Menschen – ein Berliner Sonntagnachmittag Ende der siebziger Jahre.

Ununterbrochen eilten die Kellner nach dem Bierausschank oder dem Büfett, wo unter Leitung von Mamsell Röschen Schmidt die Portionen Gänsebraten mit Gurkensalat, die Wiener Schnitzel oder Kalbsnierenbraten aufgestellt und an die Kellner abgegeben wurden.

An solchen Tagen war Mamsell Röschen die Munterkeit selbst und konnte wie ein Kapitän im Sturmgebraus kommandieren – immer freundlich und bereit, jeden Augenblick selbst mit Hand anzulegen. Heute aber mußte ihr was verquer gegangen sein, denn in ihrem hübschen frischen Gesicht war ein recht trübseliger Zug, der allen auffiel, die mit ihr sprachen.

Man konnte ja den Anlaß leicht erraten: Der »schöne Ferdinand« hatte es in der letzten Zeit wieder einmal zu arg getrieben. Die Küchenmägde erzählten die tollsten Geschichten von ihm, dem Schürzenjäger. Wenn er, auf dem Kutschbock sitzend, mit dem Brauerwagen über das Tempelhofer Feld jagte, brauchte er nur mit der Peitsche zu winken oder mit der Zunge zu schnalzen, und jedes Mädel, das er da unterwegs traf, war sofort bereit, ein Stück mit ihm zu fahren. Na, und dann ...

Und das, trotzdem sie doch alle wußten, daß er mit der Mamsell so gut wie verlobt war!

Plötzlich zuckte Röschen zusammen – über den freien Vorplatz, der das Wirtschaftsgebäude vom Konzertgarten trennte, kam Ferdinand Koblank, der seinen freien Tag hatte. Auch sonntags ging er stets in dem weißen Drillichanzug, die Hosen steckten in hohen, blankgeputzten Schaftstiefeln, die Mütze saß schräg auf dem braunen Kraushaar, und im Knopfloch glühte eine rote Nelke. Der Mann strotzte von Kraft und Gesundheit – es war schon richtig: mit dem wagte keiner anzufangen, selbst wenn er ihm das Mädel vor der Nase wegnahm.

In der Nähe des Küchenfensters blieb er stehen, griff nach einem der klobigen Schwefelholzbehälter, die dort auf dem runden eisernen Tischchen standen, strich aber das Hölzchen an der Kehrseite seiner Hose an und brannte dann, nachdem sich der Schwefeldunst verzogen, eine Zigarre an. Während der ganzen Zeit schielte er zu Röschen hinüber.

Endlich sah sie zu ihm hin und nickte unmerklich. Da setzte er gelassen seinen Weg weiter fort, trat durch eine kleine eiserne Hinterpforte auf die Straße hinaus und ließ sich wartend in einer Sandgrube dicht neben der Steinmauer nieder.

Hier war es merkwürdig still und einsam. Das Brausen und der Lärm der Blechmusik aus dem Biergarten war kaum zu hören. Die Menschen, die das Feld belebten, kamen mit ihren Drachen nicht her, nur ein paar armselige Existenzen, die sich in ihrer Zerlumptheit abgesondert hatten, lagen da und dort in dem dürren stacheligen Bocksbartgrase, die verbeulten Hüte auf den Gesichtern, und verschliefen die Zeit. Pennbrüder! dachte Ferdinand verächtlich. Vor ihm blühten ein paar Stauden wilder Zichorie, blau wie Kornblumen, Kohlweißlinge flatterten träge vorüber, und ein Goldkäfer irrte verzweifelt durch die unendliche Sandwüste zu Füßen des Wartenden. In der Luft war ein süßlicher Malzduft, vermischt mit dem Geruch der frischgepichten riesigen Biertonnen, die hinter der Mauer zum Trocknen in der Sonne standen.

Da klappte die kleine Eisentür – Röschen kam. Ferdinand stand auf und ging ihr entgegen. Sie gaben sich die Hände, aber Röschen sah fort. Ihre blauen Augen wurden plötzlich naß – sie fuhr mit dem Zipfel der weißen Latzschürze darüber und sagte: »Ick komme dir bloß rasch Bescheid sagen, Nante! Vater will’s nich zujeben!«

Das rote, frische Gesicht des Bierfahrers blieb unverändert, nur die weißen starken Zähne faßten den Zigarrenstummel fester. »Will also nich – Ri-Ra-Rösiken?«

Nun weinte sie bitterlich, achtete nicht mehr darauf, daß die frischgewaschene Schürze beim Abtrocknen der Tränen zerknittert wurde.

»Ick konnt’ mir’s ja denken«, sagte Ferdinand. »Ick hab’ nischt – ebensowenig wie dein Oller hatte, als er dunnemals anfing. Und wenn er nu det Haus in die Möckernstraße hat und den Jroßkotz ’rausbeißt, versteh’ ick ja, det er für seine Tochter eenen anderen Schwiegersohn haben will. Na – denn weene man nich, Ri-Ra-Rösiken, laß dir eenen aussuchen und werde jlicklich mit ihm!«

»Nante – kann ick wat for?« schluchzte sie. »Vater hat sich nach dir erkundigt und jehört, wie du es treibst ...«

Ferdinand Koblank verteidigte sich gar nicht. »Na denn also – Fräulein Röschen – war es woll heute das letztemal, wo Sie mir ...«

Sie hob erschrocken den Kopf, als er sie wieder mit Sie anredete, und starrte ihn an.

Er hielt ihr die Hand hin, aber sie ergriff sie nicht, sondern schlug plötzlich laut aufweinend die Hände vors Gesicht, wandte sich um und ging rasch davon. Gleich darauf schnappte die kleine Eisentür ins Schloß, der Schlüssel wurde umgedreht und abgezogen.

Die Dämmerung kam, die Familien, die auf der Ebene im Sonnenschein gelagert, rüsteten zum Aufbruch. Überall wurden die Drachen aus der Luft geholt und stürzten dann zuletzt, die Spitze nach unten, rauschend und krachend zur Erde. Eine Völkerwanderung nach der im grauen Dunst liegenden Stadt begann – das Feld wurde allmählich einsam.

Auch Ferdinand war, ganz in Gedanken versunken, der Stadt zugeschritten, schließlich ans Hallesche Tor gekommen, überlegte nun einen Augenblick und ging dann am Kanal entlang weiter.

Ick werde Vatern ’mal wieder uffsuchen, dachte er. Der alte Koblank, der seinen Posten als Güterinspektor bei der Potsdamer Bahn kürzlich aufgegeben hatte, lebte jetzt als Witwer einsam hoch oben unter dem Dach eines der ersten Häuser in der Flottwellstraße. Da hatte er einen weiten Überblick über die Bahngleise, sah abends die bunten Signallaternen aufflammen, hörte den Pfiff der Lokomotiven und philosophierte bei seiner Pfeife Rosenblättertabak über Welt und Menschen still vor sich hin. Denn er war ein sinnierlicher Herr.

»Nanu?« fragte er verwundert, als er die Tür geöffnet und den Sohn erkannt hatte. »Nanu, was treibt dich denn her?« Er ließ ihn in die Stube vorangehen und wies auf einen Stuhl am Fenster.

Ferdinand faßte in die Brusttasche und hielt ihm ein paar Zigarren hin. Der Alte schüttelte den Kopf. »Behalt man«, sagte er, »ich rauch’ am liebsten meine Piepe, die Dinger haben ja keine Luft!«

»Aber du hast ja man bloß noch Pollack drinne!«

Ja, die Pfeife war ausgebrannt, gab nur noch Schmirgeltöne von sich. Der Alte zog ein paarmal kräftig, ohne gleich zu antworten. Er ärgerte sich stets, wenn sein Sohn »berlinerte«, denn von Jugend auf hatte er darauf gehalten, daß Ferdinand »ordentlich« spräche – obwohl er, der Alte, sich in der Erregung ebenfalls gehenließ. Aber er war der Sohn eines prinzlichen Leibkutschers, hatte gute Umgangsformen gelernt und hätte es gern gesehen, wenn der Junge einen Beruf ergriffen, der ihn in die Höhe gebracht. »Wenn du bloß beim Militär geblieben wärst, den Zivilversorgungsschein bekommen hättest«, sagte er seufzend.

»Na ja – Vater – ick weeß ja!«

Der Alte hatte nun doch eine Zigarre genommen und sie in der Hand zerbröckelt, während er den Sohn forschend betrachtete. »Wie geht’s dir denn eigentlich?«

»Jott – ick lebe meinen juten Tag! Mir kann keener – ick brauch’ mir nich anranzen zu lassen und strammzustehen – mache, wat ick will!«

»Und was machste dann später–als alter Mann, ohne Pension?«

»Ick pfeif’ uff die paar Jroschen!«

»Ja – jetzt – aber nachher!«

»Denn werd’ ick Totenjräber!«

Der Alte sah ihn mit einem Blick an, in dem die ganze Verdrossenheit lag, die er seit Jahren gegen den widerspenstigen Sohn aufgespeichert hatte – aber er schwieg. Wozu sich den schönen Sonntagabend verderben! Als er dann aber Ferdinand so weltverloren in den Abendhimmel starren sah, durchfuhr ihn plötzlich ein Schreck. »Na, sprich doch, dir is doch was, Nante, haste was ausgefressen, dann sag’s doch!«

»Nee – Vater, mach dir keene Sorge!«

»Denn das würdest du mir doch auch nicht antun?« fragte der Alte, noch immer mißtrauisch.

»Ick mach’ dir keene Schande – also keene Bange – so eener bin ick nu doch nich.«

»Janz richtig kommt mir die Kiste aber nicht vor!«

Ferdinand lachte. »Ick war nur herjekommen, um zu sehen, wie es dir jeht, Vater, nu will ick aber wieder türmen – adje!« Er reichte dem Alten die Hand.

»Adjes, Nante! Du solltest dir ’ne tüchtige Frau nehmen, die tut dir not.«

»Det werde ick ooch – du jlaubst ja nich, wie rasch det jehen kann.«

Er nickte noch einmal zum Abschied und ging davon.

Koblanks

Подняться наверх