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ОглавлениеGraue Dunstschleier lagerten in der Frühe des nächsten Tages über dem Feld, schwanden aber schnell, als die Sonne höher stieg. Es wurde wieder ein herrlicher Spätsommertag, so wie gestern.
Im Zuckeltrab fuhr Ferdinand auf der Landstraße nach Berlin. Heute war die weite Ebene leer, nur eine Schafherde mit ihrem Hirten in einiger Entfernung zu sehen, und zuweilen klang aus der Gegend der Hasenheide ein Trompetensignal – dort übten Soldaten. Dann und wann ein Lokomotivenpfiff oder das heisere Krächzen einer Krähenschar, die das Peitschenknallen und das Räderrollen des herannahenden Wagens aufgescheucht hatte.
Überall, wohin heute der schöne Ferdinand kam, wunderte man sich, wie eilig er es hatte. Wenn er sonst die Bierfässer in die Gastwirtschaften rollte oder die Achtel- und Vierteltonnen in die Haushaltungen trug, war es immer mit großem Hallo geschehen, und die Dienstmädchen waren nachher noch stundenlang in heller Aufregung gewesen. Heute kniff er sie ja auch in die Backen und bloßen Arme, drückte wohl die eine oder andere an die Lederschürze – aber man merkte, er tat es nur aus Gefälligkeit, ohne selbst ein Vergnügen dabei zu haben.
Nun lenkte er den Wagen um den Belle-Alliance-Platz in die Lindenstraße und hielt vor dem Hause des Töpfermeisters Zibulke. Dieses Haus stammte noch aus der ersten Bebauung der Straße, war zweistöckig mit ehemals rotem, jetzt schwarz gewordenem Ziegeldach, machte aber in seiner schmucklosen Einfachheit einen wohltuenden, gediegenen Eindruck.
Der »olle Zibulke«, wie immer in merkwürdig großkarierten Hosen, stand vor der Haustür und überwachte den Mops seiner angejahrten, etwas verwachsenen Tochter.
»Schon wieder een Achtel?« fragte er verdrießlich, als Ferdinand, das Fäßchen auf der Schulter, mit kaum merkbarem Gruß an ihm vorbeiging.
»Wenn Se nich wollen?« Ferdinand machte kurzerhand kehrt. »Fräulein Aujuste hat bestellt – alle vierzehn Tage soll ick kommen!«
»Wenn meine Tochter det so bestimmt, is’s ooch richtig – also man ’ruff damit!«
Herr Zibulke sah ihm mit kritischen Blicken nach, wie er die weißgescheuerten Treppen nach dem ersten Stock hinaufstieg, wandte sich dann aber wieder der Betrachtung des Mopses zu, der auf dem Rinnsteinbrett vor der Tür stand.
»Wat jlotzte, Mufti? Du fängst im Leben keene Ratte nich! Und wat sollsten ooch mit ’ne Ratte, wo du dein’ Futternapp nich mal leerfrißt!«
Ein Drehorgelspieler kam, von einer Kinderschar gefolgt, in diesem Augenblick aus einem Nachbarhause und wollte an Herrn Zibulke vorbei in den Flur.
»Raus – hier wird nicht jedudelt!« sagte der Alte.
Der Drehorgelspieler zog ergeben weiter, die Kinder aber begannen Herrn Zibulke aus sicherer Entfernung zu beschimpfen:
»Olle Töpperschürze! Jeizkragen!«
Er tat, als hörte er nichts. Da begann die Rotte zu singen:
»Aujuste Zibulke kriejt keenen Mann,
Drum schafft sie beizeiten ’nen Mops sich an,
Da freut sich der Olle und is vajniejt,
Weil er so billig ’nen Schwiegersohn kriejt!«
Herr Zibulke machte unwillkürlich eine Bewegung, als wolle er seine Holzpantinen abziehen und in die Schar schleudern. Doch er überlegte es sich. Schon einmal war ihm auf diese Weise ein Pantoffel abhanden gekommen, weil er nicht getroffen und einer der Jungen das Ding aufgehoben hatte und damit geflüchtet war. So hielt er es für das beste, dem Hunde zu pfeifen und in die Wohnung zu gehen.
Herr Zibulke hatte, weil sie zu viel Lärm machten, die neuen schweren Pantinen auf der Treppe ausgezogen und war in Strümpfen hinaufgegangen. Als er jetzt die nur angelehnte Korridortür aufmachte, sah er, wie Liese, das Dienstmädchen, erschrocken von der Küchentür zurückprallte.
»Nanu, du kiekst woll durchs Schlüsselloch, wat jibt’s denn da drinne so Scheenet – wat?«
»Fräulein Juste hat mir ’rausjeschickt, als der scheene Ferdinand kam!«
»Na – laß doch die beeden, da sollste eben nich bei sind. Wart, ick werd’ dir! Wirste jetz jleich den Mülleimer ’runtertragen!«
Und als das Mädchen verschwunden war, klinkte Herr Zibulke die Tür auf und trat in die Küche.
Fräulein Auguste hatte einen Taler in der Hand, den sie jetzt, als sie ihren Vater erblickte, in die Schürzentasche zu stecken suchte. Sie war aber zu aufgeregt, das Geldstück entfiel ihr, rollte durch die Küche, gerade auf Ferdinand zu. Er trat mit dem Fuß darauf, hob es aber nicht auf.
Herr Zibulke bückte sich schnell und nahm den Taler. »Na – det dauert ja heite hier so lange? Wa’m jeht ihr denn nich in die gute Stube, wenn ihr euch so wat Wichtiges zu sagen habt, det Liese ans Schlüsselloch horcht!«
Ferdinand sah ihn pfiffig an: »Wir hatten janischt Wichtiges. Fräulein Aujuste wollte mir nur ’nen Taler Trinkjeld jeben – ick mach’ mir aber nischt aus ’n Taler Trinkjeld!«
»Sondern?« sagte Herr Zibulke. Und als Ferdinand nur die Achseln zuckte, setzte er hinzu: »Aber aus tausend – wat?« Ferdinand lachte laut auf. »Und wenn Sie fufzigtausend sagen, wird’s mir noch nich heiß!«
»Aber bei hunderttausend, wat?«
»Det käme druff an!«
»So? Ja – da werden die jungen Männer schwach! Kenn’ ick, weeß ick! Da bekommen se jleich Jefühle! Sagen Se mal, wie is denn, woll’n Se nich nächsten Donnerstag ’ne scheene Landpartie mitmachen – per Kremser, wat?«
Ferdinand hatte nicht nein, aber auch nicht ja gesagt, nur nach Fräulein Auguste geblickt – ein Blick, der sie von oben bis unten erfaßte, unter dem sie sich förmlich wand.
Nun war er auf der Rückfahrt. An einem der Chausseebäume auf dem Tempelhofer Feld saß eine merkwürdige Gestalt, ein noch junger Mensch, bekleidet mit Manchesterhosen, schwarzem Rock und großem Schlapphut. Um den Hals hatte er ein rotes Tuch geschlungen, in der Hand hielt er eine Schnapsflasche. Er saß da und sang:
»Kommen Se ’rin, kommen Se ’rin, kommen Se ’rin,
Kommen Se ’rin in die jute Stube ...«
Ferdinand hielt den Wagen an: »Timpe – Anton Timpe, du hast woll blauen Montag jemacht?«
Der Mensch erhob sich schwerfällig, starrte den Bierfahrer ein Weilchen an und sagte: »Ick kenne dir – du bist der scheene Ferdinand! Mein Name is Anton Timpe. Steinmetz Anton Timpe – ein Künstlerer aus die Möckernstraße – Jrabkreuze – Todesengel – jeborstene Säulen.«
»Jawoll – det weeß ick! Und wenn du deine Kusine siehst – Röschen Schmidt –, denn sage ihr man: Der scheene Ferdinand hat ’ne andere.«
Aber der »Künstlerer« Anton Timpe betrachtete diese Mitteilung nur als Aufforderung zum Singen. Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Flasche und hob dann mit lauter Stimme an:
»Herr Schmidt, Herr Schmidt –
Wat bringt det Rösken mit?
’n Schleier und ’n Federhut –
Der steht dem Rösken jar zu jut ...«
Und schwankend setzte er sich in Bewegung und torkelte über das von der Sonne durchglühte Feld. Ferdinand schnalzte mit der Zunge und zog die Zügel an. Die beiden wohlgenährten Braunen setzten sich, schon längst ungeduldig durch die umschwärmenden Bremsen, sofort in Gang, und als sich Ferdinand dann noch einmal umsah, war Anton Timpe mit seiner Schnapsflasche am Horizont verschwunden.
Am Abend aber kletterte Ferdinand durch den lockeren, weißen Sand zum Kreuzberg hinauf und ließ sich neben dem Denkmal des Freiheitshelden nieder. Weltabgeschieden und einsam saß er da und starrte auf das bunte Durcheinander der Dächer.
Ein letzter Sonnenglanz lag über der großen Stadt, aus allen Schornsteinen kringelte blauer oder grauer Rauch. In weiter Ferne leuchtete die goldene Gestalt auf der Siegessäule, Ferdinand erkannte auch die grüne Kuppel des Schlosses, den Turm der Jerusalemer Kirche, in der er eingesegnet worden war – und plötzlich legte er den Kopf an das eiserne Gitter, schluckte und würgte, wischte sich mit dem Handrücken die naßgewordenen Augen und sagte halblaut: »Ja, ja – Ri-Ra-Rösiken – alles is futsch.« Als er sich wieder aufrichtete, war die Dämmerung völlig hereingebrochen, Berlin lag in schweren, grauen Dunstschleiern, nur das fahle Grün der Bäume aus den Gärten am Fuße des Berges schimmerte noch deutlich erkennbar herauf.
Ferdinands Gesicht hatte alle Weichheit verloren. Er erinnerte sich, wie Mamsell Röschen fortgeblickt, als er am Nachmittag am Küchenfenster vorbeigegangen war.
»Zu arm bin ick ihr – na, denn soll se sehen, det der reiche Vater von eener andern froh is, wenn er mir kriejen kann. Da hab’ ick nu mal wirklich eene jeliebt, und da muß es nu so kommen! Und nu will ick ooch nich mehr, nu renne ick in mein Unjlick und mache beede Oojen zu!«