Читать книгу Die Angst vor dem Fremden - Erhard Oeser - Страница 6
|9|Vorwort
Оглавление„Von uns, die wir die Erfahrung der Vergangenheit besitzen, würde es ein großer Fehler sein, diese nicht für die Gegenwart und Zukunft anzuwenden.“
Hernán Cortés 1524
Die europäische Zivilisation wird bis auf den heutigen Tag als die größte Errungenschaft angesehen, mit der sich der Mensch von seinem wilden, beinahe tierischen Zustand zu dem heutigen kulturell gebildeten Europäer entwickelt hat. Doch die so gepriesene Zivilisation ist auf einer Selbsttäuschung aufgebaut. Diese Selbsttäuschung besteht in der Verleugnung eines Phänomens, das sich in seinem historischen Zusammenhang betrachtet als die schrecklichste Verhaltensweise des Menschen in seiner gesamten Geschichte erweist. Es ist die sogenannte Xenophobie in ihrer aggressiven Form der Fremdenfeindlichkeit, die nichts anderes ist als die dunkle Seite der fortschreitenden Zivilisation und Kultur der Menschheit. Nur wenige europäische Gelehrte und Philosophen wie Rousseau und Voltaire haben das erkannt. Aber ihre Erkenntnisse und Ansichten sind vergessen.
Für den gebildeten Europäer waren die Bewohner weit entfernter Länder, auf welche die Forschungsreisenden und Eroberer gestoßen sind, „Wilde“, die jeder Bildung und Kultur entbehrten. Doch einsichtige Forschungsreisende, wie James Cook und Georg Forster, mussten bereits zugeben, dass es für diese Völker besser gewesen wäre, wenn sie von ihrer Entdeckung verschont geblieben wären. Denn sie brachte unendliches Leid über die eingeborene Bevölkerung. In manchen Gegenden rotteten die Mannschaften der Entdecker die ungeschützten Bewohner durch Kriegshandlungen oder Einschleppung ansteckender Krankheiten fast zur Gänze aus. Hinzu kam noch die Verschleppung von Eingeborenen nach Europa, wo sie als Siegestrophäen vorgezeigt wurden; ihre Heimat sahen sie nie wieder, weil sie als Sklaven oder Untersuchungsobjekte zurückbehalten wurden oder auf dem Rückweg den Strapazen unterlagen. Am schrecklichsten war die erbarmungslose Ausrottung der Ureinwohner |10|der Neuen Welt, die in die Geschichte der Menschheit als die „Schwarze Legende“ (Leyenda negra) eingegangen ist.
Am meisten betroffen war jedoch die europäische Zivilisation durch den religiösen Konflikt des christlichen Abendlandes mit dem islamischen Morgenland. Wechselseitiger religiöser Fanatismus erzeugte nicht nur Fremdenangst, sondern auch Fremdenhass und Fremdenfeindlichkeit, die sich in den Kreuzzügen und später in den Türkenkriegen im südöstlichen Mitteleuropa sowie in den Eroberungszügen der Araber in Spanien äußerten. Doch die ursprünglich nicht nur in der Antike von den Griechen und Römern, sondern auch im Mittelalter vom christlichen Abendland und von den europäischen Nationalstaaten der beginnenden Neuzeit als wilde räuberische Stammesgesellschaften verachteten Barbaren der Araber und Türken hatten sich unter dem vereinigenden Band der islamischen Religion sowohl im spanischen Andalusien als auch vor allem im Osmanischen Reich zu einer nicht nur militärischen, sondern auch kulturellen Vormachtstellung entwickelt, von der europäische Gelehrte wie Gustav Weil oder Joseph von Hammer-Purgstall und Dichter wie Goethe oder Rilke nur träumen konnten.
Will man die gegenwärtig angespannte Lage Europas verstehen, die durch Flüchtlingselend, Asylsuche, Einwanderung und daraus hervorgegangene Fremdenfeindlichkeit entstanden ist, so muss man vor allem die jüngere durch Nationalismus und Rassismus gekennzeichnete Geschichte berücksichtigen. Früher waren die Fremden, abgesehen von Türken und Arabern, die bereits am Ende des Mittelalters vor den Toren der „Festung“ Europas standen, Bewohner weit entfernter, für den damaligen Europäer unerreichbarer Länder. Im 19. und 20. Jahrhundert ging es nicht mehr um die Unterdrückung und Ausbeutung oder Missionierung der sogenannten „Wilden“, sondern um den Zusammenstoß der imperialistischen Mächte Europas mit den alten, hoch entwickelten Kulturen Asiens und mit der sowohl im Osten wie im Westen Europas zu einem Kulturträger gewordenen islamischen Welt. Anders verhielt sich die Lage in Afrika. Einerseits war der „dunkle Kontinent“ gekennzeichnet durch den Sklavenhandel, der diese Verdammten der Erde zu einer käuflichen Ware erniedrigte, andererseits war es gerade der europäische Kolonialismus, der zu Fremdenfeindschaft auch zwischen den konkurrierenden europäischen Nationen wie Frankreich und England führte. Aber weder Frankreich noch England konnten das eigentliche Übel Afrikas, den Sklavenhandel, beseitigen. Denn es waren die Eroberer der Neuen Welt, |11|die, nachdem sie die eingeborene Bevölkerung, die Indianer, erbarmungslos ausgerottet hatten, schwarze Arbeitskräfte benötigten, die schlimmer als jedes Vieh unter ungeheuren Verlusten auf eigens dazu eingerichteten Sklavenschiffen von den Küsten Afrikas nach Amerika transportiert wurden.
Ein weiteres, vielleicht das dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte ist der zum Rassismus entartete Nationalismus, der sich vor allem als Antisemitismus in ganz Europa verbreitete und im national-sozialistischen Deutschland seinen schrecklichen Höhepunkt erreichte. Mit dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschen Reichs nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges war jedoch der auf den Nationalismus begründete Fremdenhass der sich neu formierenden europäischen Nationalstaaten noch nicht beendet. Vielmehr hat sich die in der gesamten Geschichte der Menschheit immer wiederkehrende Fremdenfeindlichkeit zwischen den Völkern der Erde heutzutage in unserer globalisierten Welt nicht grundsätzlich verändert. Vorbei sind zwar die heroischen Entdeckungsfahrten der Europäer, deren Phantasie ihnen ein Paradies von friedliebenden guten Wilden vorgaukelte, eine Vorstellung, die bei näherer Bekanntschaft in Entsetzen umschlug über den Kannibalismus und die Grausamkeit von Menschenopfern, mit denen die Ausrottung der alten Kulturvölker in der Neuen Welt durch die christlichen Europäer gerechtfertigt wurde. Aber noch nicht vorbei sind die Glaubenskämpfe zwischen den Anhängern unterschiedlicher Religionen und Konfessionen, von denen auch das christliche Abendland nicht verschont geblieben ist. Diese Glaubenskämpfe sind heutzutage vor allem durch den islamischen Terrorismus wiedererweckt worden, der sich nicht nur durch das Attentat am 11. September 2001 in Amerika gezeigt hat, sondern sich nun auch innerhalb der Länder der Europäischen Union abspielt und dort zu kontroversen, emotional aufgeheizten öffentlichen Diskussionen über die Islamisierung Europas führt.
Wenngleich das hier zusammengetragene historische Material an Grausamkeiten und Gräueln sich nur schwer ertragen lässt, ist eine solche Auflistung und rücksichtslose Darstellung für eine möglichst objektive Beurteilung der Xenophobie, die heutzutage fast ausschließlich zu einer Islamophobie geworden ist, eine absolute Notwendigkeit. Denn Fremdenhass und Fremdenfeindlichkeit waren seit Anbeginn der Menschheit vorhanden und konnten im Laufe ihrer Entwicklung zur Zivilisation nicht beseitigt werden, sondern haben sich vielmehr zu größter Brutalität gesteigert. |12|Mit all den in diesem Buch vorgebrachten Argumenten soll daher keine kritiklose multikulturelle Harmonisierung um den Preis einer Ignorierung oder Verschleierung der bestehenden kulturellen Gegensätze befürwortet werden. Die Entscheidungsfreiheit des Individuums ist zwar ein in der Philosophie des Abendlandes erkämpftes unverlierbares Gut, aber kein Mensch auf dieser Welt wird in einem kulturellen Nichts geboren und wächst wie der einsame Wilde Rousseaus ohne Tradition auf. So sehr die Hoffnung besteht, zumindest zu einer gemeinsamen Vorstellung der allgemeinen Menschenrechte zu kommen, so sind doch die in der Wirklichkeit real vorhandenen traditionellen Religionen, Rechtssysteme und wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse unvereinbare Zwangsjacken, die auf einer jahrhundertealten Tradition beruhen, die man erst kennen und verstehen muss, um über diese Unvereinbarkeiten hinweg zu einer gewaltlosen Verständigung und Anerkennung zu kommen.
Eine philosophisch-wissenschaftsgeschichtlich orientierte Untersuchung wie diese kann nicht den Anspruch erheben, im Streit der Meinungen eine allgemein verpflichtende Lösung vorzuschlagen. Dass ich mich trotzdem mit dem anscheinend unlösbaren Problem der Xenophobie über lange Jahre beschäftigt habe, hat mit meiner Lehrtätigkeit an der Universität Wien zu tun. Meine Lehrverpflichtung für Philosophie und Wissenschaftstheorie brachte mich geradezu zwangsweise in Kontakt mit den Vertretern der unterschiedlichen Disziplinen, bei denen ich in gemeinschaftlichen Seminaren und interdisziplinären Ringvorlesungen eine transdisziplinäre Vermittlungsrolle spielen durfte, was ja auch zu dem traditionellen Geschäft der Philosophie gehört. Zwar bin ich der Meinung, dass die kulturwissenschaftliche Völkerkunde (Ethnologie) in ihrer um die philosophischen Grundlagen erweiterten Form, wie sie mein Freund und Studiengenosse Wolfdietrich Schmied-Kowarzik vertritt, die empirische wie theoretische Grundlage der Untersuchung der Xenophobie darstellt. Andererseits ist aber dabei auch die naturwissenschaftlich orientierte physische Anthropologie mit ihrer heutzutage auf der Evolutionstheorie und vergleichenden Verhaltensforschung beruhenden Grundlage zu berücksichtigen. Denn gerade auf diesem Gebiet wird in der populärwissenschaftlichen Literatur noch immer ein längst obsolet gewordener genetischer Determinismus vertreten, für den fälschlicherweise Darwin verantwortlich gemacht wird.
In konkreten Kontakt mit der heutigen chinesischen und arabischen Kultur bin ich in Peking und Tunis durch meine ehrenamtliche Tätigkeit |13|als Präsident des Internationalen Terminologienetzes (TermNet) gekommen. Dieser 1988 in Wien gegründete internationale Verein zur Förderung der Koordination und Kooperation im Bereich der Fachsprachen brachte mich während meiner Funktionsperiode in den Jahren 1989–1993 zu der Erkenntnis, dass in der heutigen globalisierten Welt zwischen den Völkern dieser Erde trotz unterschiedlicher politischer und religiöser Ansichten zumindest auf der wissenschaftlichen Ebene eine Kooperation nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist.
Weitere Anregungen konnte ich in der Türkei im „Philosophischen Kreis Wien–Istanbul/Viyana–Istanbul Felsefe Çevresi“ gewinnen, der in Nachfolge meiner Gastvorlesungen über „Wissenschaftlichen Universalismus“ an der Universität Istanbul mit der Unterstützung des Österreichischen Kulturinstitutes gegründet worden ist. Von türkischer Seite waren es meine Kollegen Teoman Durali und Safak Ural, welche auf diese Weise die traditionsreichen Beziehungen der Universitäten Wien und Istanbul durch mehrere Symposien in Istanbul fortgeführt und verdichtet haben. Zu dieser Zeit, am Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, dominierte noch die für diese philosophisch-wissenschaftliche Kooperation günstige politische Ansicht, dass die Türkei eine Brücke zwischen der europäischen Kultur und der islamischen Kultur des Nahen Ostens bildet, was jedoch heutzutage durch die zunehmende Islamisierung der Türkei und den gleichfalls zunehmenden kulturalistischen Neorassismus in Europa in Frage gestellt ist.
Wissenschaftlicher Universalismus, der seit der Übernahme der klassischen griechischen Philosophie durch die Araber eine lange Tradition hat, ist zwar nicht das Allheilmittel gegen Fremdenhass und Fremdenfeindschaft, aber er könnte zumindest die Basis für eine rationale Diskussion des in der Natur und Kultur der Menschheit tief verwurzelten und deshalb in ihrer gesamten Geschichte immer wiederkehrenden Problems der Xenophobie schaffen. Doch diese Hoffnung könnte auch trügerisch sein. Denn die Auseinandersetzung der Kulturen wird nicht auf der Ebene wissenschaftlicher Rationalität geführt, sondern auf der emotionalen Ebene, die durch Angst, wirtschaftlichen Neid, religiösen Fanatismus und die darauf basierenden politischen Hetzreden gekennzeichnet ist. Dass sich diese Situation durch Aufklärung und Verstehen der historischen Entwicklung dieser dunklen Schattenseite der Menschheitsgeschichte, wie es in diesem Buch versucht wird, ändern lässt, mag sich als eine vergebliche Mühe herausstellen, die aber trotzdem unternommen |14|werden muss, will man nicht in einen radikalen Kulturpessimismus verfallen. Daher kann auch nicht der sich mehr und mehr durchsetzende wissenschaftliche Universalismus in unserer globalisierten Welt die Lösung bieten, sondern es muss vielmehr die allgemeine Anerkennung der ethisch-moralischen Universalität der Menschenrechte die Grundlage für die Bekämpfung der ständig wiederkehrenden Fremdenfeindschaft unter den Völkern und Nationen dieser Erde sein.
Was nun die in diesem Buch verwendete Terminologie betrifft, so werden bei den arabischen Bezeichnungen statt der in den Fachwissenschaften der Arabistik, Orientalistik und Islamwissenschaft gebräuchlichen Transkriptionen die heute üblichen, allgemein verständlichen deutschen Ausdrücke verwendet, also statt „Qur’an“ „Koran“ oder statt „al-Qaida“ „Al-Kaida“. Ältere Originaltexte wurden vorsichtig an aktuelle Schreibweisen und gültige Kommasetzung angeglichen. Und es versteht sich von selbst, dass die heutzutage nicht mehr als politisch korrekt angesehenen Formulierungen wie „Neger“, „Zigeuner“ etc. nur im Kontext ihrer jeweiligen Zeit zitiert werden.
Wien, im Januar 2015 | Erhard Oeser |