Читать книгу Sternbilder - Erik Simon - Страница 20
ОглавлениеDie Cherubim und das Rad
Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her mit einer großen Wolke voll Feuers, das allenthalben glänzte; und mitten in demselben Feuer war es lichthelle;
Und darinnen war es gestaltet wie vier Tiere, und dieselben waren anzusehen wie Menschen;
Hesekiel 1; 4, 5
An jenem Abend hatte ich bis in die Nacht hinein an meiner Monographie geschrieben. Ich war schrecklich müde, und langsam machten sich die Kopfschmerzen wieder bemerkbar. Meine Frau sagt immer, daß ich nicht so viel arbeiten soll, und ein Mann in meinem Alter müsse langsam anfangen, etwas mehr auf seine Gesundheit zu achten. Manchmal tut sie, als sei ich schon ein schwacher Greis, dabei bin ich erst 38 und fühle mich blendend. Außerdem ist sie selbst andauernd beschäftigt, vor allem seit dem Umzug in unsere neue Wohnung.
An dem Tag, von dem ich erzähle, wollte sie eigentlich schon früh mit unserer Tochter zur Großmutter fahren, aber dann fiel ihr ein, daß sie seit über einer Woche keine Fenster geputzt hatte und die Außentemperatur nur wenig über dem Gefrierpunkt lag. Man sah zwar noch keinen Schmutz an den Fenstern, aber es war Spätherbst und daher ungewiß, ob sie in den folgenden Tagen zum Putzen kommen würde, also tat sie es gleich und fuhr erst gegen Mittag.
Nachmittags dauerte es dann doch ziemlich lange, bis die Zimmer wieder warm waren, und erst am Abend konnte ich mich in Ruhe meiner Arbeit widmen. Ich schrieb gerade an einem Kapitel meiner Monographie, in der ich nachweise, daß die Erde einmal oder sogar mehrmals von außerirdischen Raumfahrern besucht worden ist. Es gibt so viele Legenden und Überlieferungen, die darauf hinweisen, ja die es geradezu beweisen, daß man schlechthin nicht daran zweifeln kann. So viele Sagen und Mythen konnten sich unsere Vorfahren gar nicht selbst ausdenken! Ich kann es schließlich auch nicht.
Außerdem habe ich noch einen anderen Grund zur Gewißheit, doch davon später.
Leider treffen meine Forschungen aber nicht überall auf das nötige Verständnis, und es ist auch noch ungewiß, welcher Verlag die Monographie schließlich drucken wird; vorerst habe ich nur eine Artikelserie in einer Zeitung veröffentlichen können. Und selbst da war ich heftigen Angriffen ausgesetzt, zum Beispiel hat man die Folge über Hesekiel gleich in mehreren zentralen Zeitschriften verrissen und sie eine Schande für unsere Presse genannt, eine Verhöhnung der Vernunft, ein eklatantes Beispiel einer Ersatzreligion und so weiter.
Das konnte ich nicht einfach hinnehmen, denn gerade der Hesekiel ist einer der Eckpfeiler in meiner Theorie. Schlagen Sie doch einmal die Bibel auf (Sie können sich ja eine leihen), so etwa in der Mitte, und lesen Sie das erste Kapitel des Hesekiel. Was, frage ich Sie, ist dort beschrieben, wenn nicht die Landung eines Raumschiffs? Die vier »Tiere« sind natürlich die fremden Raumfahrer, und wenn von vier Rädern die Rede ist, die aussehen, als wäre ein Rad im anderen, so ist zweifellos ein Universalfahrzeug mit Schraubenwalzen gemeint. Die vier Astronauten saßen darin, denn »wenn die Tiere gingen, so gingen die Räder auch neben ihnen«, und oben hatte das Fahrzeug eine halbkugelförmige, durchsichtige Kanzel. Schließlich erscheint über dem Universalfahrzeug sogar ein fünfter Raumfahrer in einem Ein-Mann-Flugapparat mit Rückstoßantrieb. Hesekiel hat die Fremden für Engel gehalten, es waren aber offensichtlich außerirdische Besucher, die ihn übrigens auch mehrmals bei ihren Reisen auf der Erde mitgenommen haben, wohl als eine Art Übersetzer, denn Hesekiel erhält immer wieder den Auftrag, Botschaften an verschiedene Menschengruppen im Vorderen Orient zu übermitteln. – Wahrscheinlich konnten die Ankömmlinge auch Antigravitation oder etwas ähnliches erzeugen, denn sie nahmen Hesekiel nicht in ihrem eigenen Fahrzeug mit, dessen fremde Atmosphäre ihm ja sicher nicht bekommen wäre, sondern er wird jedesmal von einem Windstoß davongetragen, also von einem Kraftfeld, das selbstverständlich auch die umgebende Luft erfaßt.
Kurzum, die Fakten sprechen für sich; ich mußte sie nur noch schlagkräftiger formulieren, um von vornherein jeden mißgünstigen Einwand auszuschließen. Damit war ich an jenem Abend beschäftigt, doch nach einer Weile wurden die Kopfschmerzen zu stark, und ich ging zu Bett. Ich fürchtete schon, ich würde wie so oft nach zu großer geistiger Anstrengung schlecht und unruhig schlafen; doch es hatte zu regnen begonnen, die Tropfen schlugen eintönig gegen die Fensterscheiben, und ich schlief sofort ein. Das muß kurz vor Mitternacht gewesen sein.
Bald wurde ich wieder geweckt. Jemand klingelte in kurzen Abständen. Eine Weile ließ ich ihn klingeln, dann sah ich zum Fenster hinaus: Niemand. Die Straße war leer, und es regnete. Verflixte Lausejungen, dachte ich, aber da klingelte es schon wieder, obwohl bestimmt niemand vor dem Haus stand. Ich zog mir meinen Morgenrock über, ging zur Wohnungstür und öffnete.
Vor der Tür stand ein ziemlich kleiner älterer Mann. Er verschwand fast völlig unter einem viel zu großen altmodischen Regenmantel, von dem das Wasser auf ein Paar hohe schwarze Schuhe tropfte, die schon eine kleine Pfütze umgab. Ein grauer breitkrempiger Hut hüllte das Gesicht des Fremden in Schatten. In der linken Hand trug er einen kleinen schwarzen Koffer. Er stand da und schwieg.
»Sie wünschen?« fragte ich schließlich.
»Friede sei mit dir«, erwiderte er und nahm den Hut in die rechte Hand. Er hatte scharfgeschnittene Gesichtszüge, braune Hautfarbe, schwarzes, leicht gewelltes Haar. Offenbar ein Ausländer; der seltsame Gruß ließ mich an Arabien denken.
»Guten Abend«, sagte ich, und mit Nachdruck: »Was, bitte, wünschen Sie?«
»Du Menschenkind, ich will mit dir reden … Das heißt, ich hätte Sie gern gesprochen.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?!« fragte ich ungehalten, aber dann fiel mir ein, daß es etwas Wichtiges sein könnte, und ich wollte nicht unhöflich erscheinen. Vielleicht pflegt man dort, wo er herkam, nachts Besuche zu machen – wer kann das wissen? Ich bat ihn jedenfalls herein, zumal ich, wenn ich nachts geweckt werde, sowieso nicht wieder einschlafen kann.
Unter dem Regenmantel trug der Fremde einen dunkelblauen Anzug, der ebenfalls etwas zu groß und ein wenig altmodisch war. Als ich den Mann ins Wohnzimmer führte, hinterließ er eine nasse Spur auf dem Parkettfußboden. Ich blickte zur Uhr: Es war fünf vor eins. Er hielt noch immer den Koffer in der Hand. In der linken. Ich konnte mich nicht erinnern, daß er ihn je losgelassen hätte. Wie aber hatte er dann eigentlich den Regenmantel ausgezogen?
Ich bot ihm Platz an, wir setzten uns. Den Mantel legte er zusammengerollt auf seine Knie, darüber das Köfferchen; die linke Hand hielt unverändert den Griff, die rechte lag obenauf.
»So«, sagte ich.
»Ai-ja. Ja«, erwiderte er. Dann schwiegen wir beide.
»Du Menschenkind …«, begann er schließlich, unterbrach sich und blickte mich mit einem ganz eigentümlichen Gesichtsausdruck an – zugleich verstört, erstaunt und irgendwie mitleidig. Es sah aus, als wäre ihm meine Anwesenheit erst in diesem Augenblick voll zu Bewußtsein gekommen. Dann sprach er mit völlig verändertem Ausdruck weiter – resigniert und betont sachlich, offiziell. Er sprach vollkommen akzentfrei, aber sehr leise. »Sie schreiben eine Abhandlung über … hm … Hesekiel?«
»Woher wissen Sie? … Nicht nur über Hesekiel … Unter anderem. Aber was geht Sie das – bitte – an?! Ist das etwa ein Grund …« Ich war wohl doch nicht so höflich, wie ich es mir vorgenommen hatte. Aber wenn zu Ihnen mitten in der Nacht ein völlig fremder Mann käme, um so eine Frage zu stellen – würden Sie anders reagieren?
Der Fremde blieb völlig ungerührt. Sein Gesicht hatte wieder jenen seltsamen Ausdruck angenommen; er blickte an mir vorbei, gleichsam ins Leere. Dann begann er von neuem: »Sie schreiben also über … na ja, über Hesekiel. Das sollten Sie nicht tun. Es wäre wirklich besser, wenn sie es sein ließen. Denn es ist der blanke Unsinn.«
»Was in der Bibel steht?« fragte ich zurück. »Ich bin ja nicht fromm, aber sehen Sie – kein Rauch ohne Feuer. Man muß den Text nur richtig deuten.«
»Das meine ich ja«, erwiderte er. »Ihre Deutung. Der Text, den Sie da haben – nun, Sie wissen schon, wie das ist, mit den Redakteuren. Aber was Sie erst daraus machen …«
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Schon wollte ich ihm unmißverständlich klar machen, daß ich mir nichts vorschreiben ließe, schon gar nicht von so einem – doch dann sah ich wieder jenen seltsamen Blick aus seinen Augen, an mir vorbei ins Leere, und ich schwieg und folgte seinem Blick. Er schaute die Uhr an, die hinter mir an der Wand hing. Sie zeigte noch immer fünf Minuten vor eins.
Und es regnete in Strömen.
»Die Uhr steht«, sagte ich, und da schien es mir, als wäre ein Lächeln über seine Züge gehuscht – aber vielleicht kam es mir auch nur so vor.
Der Fremde sprach weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben: »Kurzum, es ist kein wahres Wort an dem, was Sie da verbreiten über Boten aus einer anderen Welt und dergleichen. Schreiben Sie, was Sie wollen, aber machen Sie uns nicht lächerlich. Wir können das gar nicht vertragen.«
»Was heißt wir?« erkundigte ich mich sehr beherrscht. »Waren Sie vielleicht dabei?«
»Sie sagen es. Wir wußten, daß Sie schwer abzubringen sein würden von Ihrem Tun, also hat er zu mir gesagt: ›Das bringst du am besten selbst in Ordnung. Wenn sich dieser Menschensohn von dir nicht überzeugen läßt, dann weiß ich auch nicht …‹ Und das will was heißen, er weiß nämlich eigentlich alles.«
Jammerschade, daß mir der richtige Verdacht nicht schon kam, als er so selbstsicher behauptete, dabeigewesen zu sein. Später begriff ich dann; in dem Moment aber hielt ich ihn einfach für einen besonders unverschämten Gegner meiner Theorie. Ich ging also wortlos zur Tür und machte sie demonstrativ auf.
»Oh«, sagte er da, »ich muß jetzt sowieso weg. Wenn Sie erlauben …« Sprach’s, trat ans Fenster und öffnete es. Es begann sehr unangenehm zu ziehen, und ich fragte ihn nun schon gar nicht mehr freundlich, was das solle.
»Nur noch ein paar Augenblicke, bitte«, antwortete er. »Gleich bin ich weg. Ja also dann – ich bitte Sie, ich ersuche Sie: Hören Sie auf, solches Zeug zu schreiben. Er sieht das nicht gern. Und du sollst eine Schmach und Hohn sein, ein Beispiel … Aber das gehört eigentlich nicht hierher, obwohl das wirklich eine Schmach …« Er schien den Faden verloren zu haben wie einer, dessen Gedanken woanders sind; er unterbrach sich, blickte in die Dunkelheit hinaus und murmelte: »Wo er diesmal nur wieder bleibt?«
»Raus!« befahl ich und öffnete die Tür erneut, doch eine unverhofft heftige Bö riß mir die Klinke aus der Hand und schlug die Tür krachend zu. Wie ein Echo ertönte draußen ein Donnerschlag, es kann auch ein Überschalljäger gewesen sein.
»Na endlich«, sagte der Fremde erfreut. Er hatte unterdessen seinen Mantel wieder angezogen, auch dies, glaube ich, ohne sein Köfferchen aus der linken Hand zu nehmen; den Trick hatte ich wegen der Tür nicht mitbekommen, denn mir war Putz auf den Kopf gefallen, und ich sah Ärger mit meiner Frau voraus.
Der Besucher also, wieder im Mantel, setzte sich rittlings aufs Fensterbrett, sein Köfferchen auf dem Schoß, ließ die Beine in mein Zimmer baumeln und erklärte seelenruhig: »Menschenskind, so nehmen Sie doch Vernunft an! Er hält sich ja jetzt an die Naturgesetze, schon aus Prinzip, er hat sie ja selber gemacht; aber wenn man ihn zum Äußersten treibt … Hören Sie: Es wird Sie gereuen der Bosheit, die Sie durch all Ihre Greuel begangen haben, und Sie sollen erfahren, daß ich nicht umsonst geredet habe, und so weiter. Sie müßten das kennen, Kapitel sechs; ich kann schließlich nichts dafür, daß die Leute so unverbesserlich sind und ich immer dasselbe sagen muß. Wenn Sie glauben, daß mir das Spaß macht, noch dazu bei diesem Wetter … Also ich hoffe, diesmal war’s wirklich nicht umsonst.«
Das waren seine letzten Worte. Haben Sie schon einmal gesehen, wie sich Froschmänner aus ihrem Boot fallen lassen? Es war wohl ein heftiger Windstoß, der ihn hinausgerissen hatte, und doch wurde ich den Eindruck nicht los, er habe sich absichtlich zurückgelehnt. Sagte ich eigentlich schon, daß ich im dritten Stock wohne?
Ich stürzte ans Fenster, was natürlich unklug war, denn ich hätte unverzüglich hinunterlaufen sollen, um vielleicht doch noch Erste Hilfe leisten zu können; ich blickte aber erst einmal hinaus auf die regennasse Straße, und die Straße war leer. Leer, wie blankgefegt, als hätte der Wind den Fremden fortgeweht. Unwillkürlich schaute ich nach oben, doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Nur eine weiße Feder schwebte langsam zur Erde. Dann noch eine …
Nun begann mir die Wahrheit zu dämmern, doch eine plötzliche, unbegreiflich starke Müdigkeit nahm mir den Willen, auch nur einen einzigen Gedanken zu Ende zu denken. Ich schloß das Fenster, dann zog ich mich mechanisch, schon halb schlafend, aus und legte mich zu Bett. Bevor mich der Schlaf endgültig übermannte, warf ich noch einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte fünf vor eins.
Als ich tags darauf erwachte, zeigte die Uhr halb elf. Das Zimmer kam mir heller vor als sonst. Ich trat ans Fenster und sah, daß es über Nacht geschneit hatte. Dann ging ich ins Wohnzimmer, um zu frühstücken und hernach das Kapitel über Hesekiel zu Ende zu schreiben, solange ich allein war. Ich erinnerte mich noch an jede Einzelheit des seltsamen Traums, und mir war der Gedanke gekommen, die Außerirdischen hätten sich vielleicht absichtlich als Engel ausgegeben, um ihre wahren Ziele zu tarnen. Das wollte ich verarbeiten, solange ich ungestört war.
Doch im Wohnzimmer erwartete mich meine Frau. Sie war schon früh am Morgen zurückgekommen und hatte unsere Tochter bei der Großmutter gelassen. So war wenigstens das Kind nicht dabei, als sie mir eine Szene machte, weil ich angeblich Unmengen von Schmutz in die Wohnung geschleppt hätte. Ich bestritt das, doch vergeblich; sie sagte, nur ich könne es gewesen sein, denn die Fußspuren hätten durch den Flur in mein Zimmer geführt.
Hinein, aber nicht wieder hinaus. Endlich hatte ich den Beweis für die Außerirdischen! Es war also doch kein Traum gewesen, vielmehr hatten die Fremden schon ihr Augenmerk auf mich gelenkt und wollten mich nun von meiner Aufklärungsarbeit abhalten, offenbar aus demselben Grund, aus dem sie sich seinerzeit für Engel ausgaben – ihre Eingriffe in unser Leben sollen geheim bleiben. Aber daß ein Außerirdischer mich besucht hat, ist nun gewiß; denn ich war tagelang nicht aus dem Haus gekommen, und überhaupt hätte es kein irdisches Wesen gewagt, ausgerechnet bei uns solche Spuren zu hinterlassen. Das steht außer Zweifel für jeden, der meine Frau kennt; wer sie aber kennt, wird auch meinen Kummer verstehen: Es war nicht nur unmöglich, sie von meiner Unschuld zu überzeugen, ich konnte die Spuren nicht einmal selbst in Augenschein nehmen. Meine Frau hatte sie gleich morgens, als ich noch schlief, beseitigt.