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Vorwort zur Ausgabe von 2002

Dem 1950 in Dresden geborenen Diplomphysiker Erik Simon wird oft nachgesagt, daß er einen beachtlichen Einfluß auf die Entwicklung der Science Fiction in der DDR gehabt habe. Dieser Einfluß wird meist zuerst an seiner Tätigkeit als Lektor im Verlag Das Neue Berlin 1974 bis 1991, als Herausgeber von Anthologien sowie als SF-Theoretiker festgemacht: Er brachte den DDR-Lesern u. a. amerikanische und bulgarische SF näher, konzipierte mit Lichtjahr einen auch international beachteten SF-Almanach, war einer der beiden Herausgeber des Lexikons Die Science-fiction der DDR – Autoren und Werke und trug mit zahlreichen Essays und Rezensionen zur kritischen und theoretischen Aufarbeitung des Genres bei; er gilt als der prominenteste deutsche Kenner des Werkes der Brüder Strugazki.

Als Lektor war er vor allem für SF aus dem seinerzeit sozialistischen Ausland zuständig, er hat aber auch konzeptionell an der Publikation von westlicher und Vorkriegs-SF bei DNB mitgewirkt und gelegentlich (in den siebziger Jahren nur vertretungsweise, später regelmäßiger) DDR-Autoren betreut. In den späten achtziger Jahren war er bei DNB Fachgebietsleiter für SF. Sein besonderes Interesse für die kürzeren Formen äußerte sich auch in Simons Arbeit als Lektor und Herausgeber: Er hat (meist anonym) zahlreiche Erzählungsbände ausländischer Autoren zusammengestellt und von 1978 bis 2001 insgesamt 24 Anthologien herausgegeben (davon einige mit Ko-Herausgebern oder anonym und drei im Ausland). Essays und Kritiken hat er in Lexika und Werkführern, Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und Fanzines des In- und Auslandes veröffentlicht. Er ist – nach Franz Rottensteiner selbst – der dienstälteste noch aktive Mitarbeiter des renommierten Quarber Merkur und hat z. B. für die britische SF-Zeitschrift Foundation, die sowjetische Literaturnoje Obosrenije (Literarische Umschau), für den französischen Antares und für den fünfbändigen Survey of Science Fiction Literature (1979) geschrieben; der größte Teil seiner Publikationen im Westen ist allerdings zu DDR-Zeiten (aus naheliegenden Gründen) unter Pseudonymen erschienen, von denen er heute einige der Tradition halber fortführt.

Seine Leistungen als Übersetzer aus sieben Sprachen und als Autor geraten bei solchen Betrachtungen leicht etwas in den Hintergrund – nicht jedoch bei den Lesern, die nicht in Kategorien wie »Einfluß« und »Beitrag zum Selbstverständnis des Genres« denken: Die Gesamtauflage seiner drei SF-Erzählungsbände (einschließlich des ersten, gemeinsam mit Reinhard Heinrich verfaßten) liegt bei 220 000 in Deutschland, vier Buchausgaben in polnischer, schwedischer, bulgarischer und tschechischer Sprache brachten es zusammen auf über 160 000 Exemplare; Erzählungen und Essays von ihm (und gelegentlich seinen Ko-Autoren) sind in mindestens 14 Fremdsprachen erschienen.

Mit dem Ende der DDR war freilich auch für ihn die Zeit der hohen Auflagen vorbei. Während aber die meisten seiner ostdeutschen SF-Kollegen völlig oder fast völlig verstummten und sich nach einer Weile vor allem einige Romanautoren zurückmeldeten, die auch zu DDR-Zeiten schon besonders produktiv gewesen waren und für die Jugendbuchreihe »Spannend erzählt« geschrieben hatten, blieben auf dem Gebiet der kürzeren Formen praktisch nur Rolf Krohn und Erik Simon regelmäßig aktiv. Daß Simon an seine besten Leistungen aus DDR-Zeiten anknüpfen konnte, bestätigte in den neunziger Jahren auch der zweimalige Gewinn des Kurd-Laßwitz-Preises für die »Beste Kurzgeschichte« bzw. – gemeinsam mit seinen Ko-Autoren, den Steinmüllers – für die »Beste Erzählung«. Da er den Laßwitz-Preis auch zweimal in anderen Kategorien erhalten hat, ist er in dieser Hinsicht der erfolgreichste ostdeutsche SF-Profi, übrigens auch der einzige, der seinen Lebensunterhalt weiterhin mit SF verdient, wenn auch nun vor allem als Übersetzer und Herausgeber.

Während aber Rolf Krohn seit der Wende drei neue Erzählungsbände vorgelegt hat, datiert Erik Simons dritter und bisher letzter Band von 1987; etwa die Hälfte seiner Geschichten ist nur verstreut in Anthologien erschienen, weitere sind unveröffentlicht, und seine Neigung, Arbeiten mit Ko-Autoren wie auch Texte, die etwas am Rande der SF liegen, unter Pseudonym zu veröffentlichen, hat ihn als Autor noch zusätzlich »unsichtbar« gemacht. Der Shayol Verlag und die Herausgeber haben es daher unternommen, in einer Werkausgabe die in Erik Simons früheren Bänden enthaltenen Erzählungen wieder zugänglich zu machen und ihnen die bisher nur verstreut oder gar nicht publizierten zur Seite zu stellen.

Der Autor ist seinem Prinzip treu geblieben, seine Bände nach thematischen und stilistischen Gesichtspunkten zu komponieren. Die älteren Bände werden daher innerhalb der neuen als Kapitel bzw. Abteilungen wieder auftauchen, jedoch erweitert um Geschichten, die sich nahtlos in das jeweilige Konzept einfügen, und Seite an Seite mit völlig neu konzipierten Abschnitten. Eine chronologische Gliederung der Bände nach der Entstehungszeit oder der Erstveröffentlichung der Texte kommt daher nicht in Frage. Der vorliegende Band 1 Sternbilder umfaßt mit Simons erster SF-Geschichte »Marsmenschen gibt’s natürlich nicht« aus dem Jahre 1970 und der 2001 abgeschlossenen, bisher unveröffentlichten Erzählung »Spiel beendet, sagte der Sumpf« einen Entstehungszeitraum von gut drei Jahrzehnten, sein Schwerpunkt liegt aber doch bei den älteren Arbeiten.

Erik Simons erzählerisches Werk steht im Kontext einer Blüte der SF-Erzählung in der DDR, die in den 70er Jahren nach langer Vernachlässigung der kurzen Formen umso heftiger einsetzte und mit dem Auftreten einer ganzen Plejade neuer Autoren verbunden ist: Alfred Leman (anfangs mit Hans Taubert), die Brauns, Gert Prokop, Bernd Ulbrich, Erik Simon (anfangs mit Reinhard Heinrich), Rolf Krohn, die Steinmüllers (anfangs nur Karlheinz) – um nur jene von denen zu nennen, die zuerst in den 70er Jahren hervortraten und auch in den 80ern noch SF-Erzählungsbände publizierten. Unter ihnen allen ist Simon vielleicht der konservativste, was das Anknüpfen an Standardthemen der SF angeht, aber zugleich der experimentierfreudigste beim Umdeuten dieser Themen und beim Ausprobieren vielfältiger Formen und Stilmittel; das dürfte auch der Grund sein, warum er sich ausschließlich den kürzeren Formen widmet.

Schon im Abschnitt »Sternschnuppen 1«, wo wir einige seiner Frühwerke präsentieren, die bisher nicht oder nur in Fanzines veröffentlicht waren, sind diese Charakteristika von Simons Schaffen in Ansätzen zu erkennen. Vom Autor selbst als Miniaturen bezeichnet, sind die Geschichten direkt auf eine überraschende Wendung hin geschrieben – ohne die durchdachte, oft tiefgestaffelte Struktur, die seine späteren Erzählungen auszeichnet. Doch schon hier zeigt sich die bei Simon so typische Auseinandersetzung mit Ideen, Erzählmustern und Konventionen der Science Fiction, teils mit ernsthaftem Anspruch, oft aber mit der parodistischen Erzählhaltung, die besonders in seinem ersten Buch, dem zusammen mit Reinhard Heinrich verfaßten Zyklus Die ersten Zeitreisen (1977), vorherrscht. Auch wird schon in seinen Frühwerken die Neigung Simons deutlich, sich nicht nur mit allgemeinen SF-Themen auseinanderzusetzen, sondern manchmal auch ganz konkret auf Werke anderer Autoren Bezug zu nehmen: deren Grundidee aus anderem Blickwinkel zu beleuchten, weiter oder auch ad absurdum zu führen. Die Erzählung »Der Schuttabladeplatz« geht auf eine Idee von Wolfgang Köhler zurück, in »Die Sitzung« – hier im Abschnitt »Sternschnuppen 2« abgedruckt – greift er die gleichnamige Erzählung von Rolf Krohn auf, sein Erstling »Marsmenschen gibt’s natürlich nicht …« ist von einer Episode aus Heines »Harzreise« inspiriert. In seinem späteren Schaffen sollten aus dieser Motivation heraus einige seiner besten Geschichten entstehen: »Der Omm« – eine Inversion von Maupassants »Horla« – oder »Der schwarze Spiegel« nach Meyrinks »Die schwarze Kugel«.

Ausprobieren und Übernahme von Ideen, die wechselseitige Inspiration durch Geschichten weisen auf Erik Simons Anfänge als Autor hin, die untrennbar mit dem Dresdner Stanisław-Lem-Klub verbunden sind, dem er während seines Physikstudiums an der TU Dresden angehörte. Anfang der siebziger Jahre (bis zum Verbot der Klubarbeit 1973) gab es dort unter anderem eine Gruppe von Amateurautoren, die intensiv über ihre Geschichten diskutierten und zusammen Projekte in Angriff nahmen; dazu gehörten u. a. auch Rolf Krohn, Reinhard Heinrich und Wolfgang Köhler. Mit ihnen allen (und mit anderen) hat Erik Simon gemeinsame SF-Erzählungen verfaßt oder doch zumindest konzipiert, am erfolgreichsten war zunächst die Zusammenarbeit mit Reinhard Heinrich, die zu Simons Debütband Die ersten Zeitreisen führte. (Übrigens kam Simon über den Klub, für den er schon damals auch ausländische SF übersetzte und zu Anthologien zusammenstellte, sowie durch Artikel in Fanzines in Kontakt zum Verlag Das Neue Berlin. Mit den Steinmüllers und Michael Szameit gehörte er zu den wenigen prominenten SF-Profis in der DDR, die auch zu den SF-Klubs der achtziger Jahre enge Kontakte pflegten.)

1979 folgte – nunmehr von Erik Simon allein verfaßt – der Erzählungsband »Fremde Sterne«. Hier begegnet uns ein gereifter Autor, der eine Vielzahl vertrauter Themen und Konventionen der SF wiederum parodiert, abwandelt oder invertiert. Die Erzählungen weisen eine komplexe und sehr durchdachte Struktur auf, mehrere Erzählebenen, Perspektivwechsel oder Verschränkungen der Handlung sind die Regel. Der Humor ist im Vergleich zu Die ersten Zeitreisen leiser und subtiler geworden. Franz Rottensteiner schrieb im Quarber Merkur 53 zu diesem Buch: »Die Erzählungen sind solide durchkonstruiert, gehen methodisch vor und zeigen oft einen ruhigen, aber nachdrücklichen und sehr ironischen Humor, der die Ereignisse relativiert, Zweifel weckt oder dem außerordentlichen Ereignis des kosmischen Kontakts durch betont alltäglichen Kontext eine komische Note verleiht. […] Diese ruhigen Erzählungen hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck und gehören zum besten, was in den letzten Jahren an SF aus der DDR gekommen ist.« In der vorliegenden Ausgabe sind die »Fremden Sterne« um drei Erzählungen erweitert, die bisher nur in Anthologien erschienen waren; zwei davon sind jünger als die von 1970 bis 1978 entstandenen Texte der ursprünglichen Sammlung.

Eng verwandt mit den beiden vorangehenden Abschnitten – und auch mit manchen Erzählungen in Erik Simons späterer Sammlung Mondphantome, Erdbesucher (1987), die in Band 2 der Werkausgabe folgen soll – sind die vier Texte in »Sternschnuppen 2«. Bei Simons allgemeiner Vorliebe für das Spiel mit Genrekonventionen wird das nicht überraschen, denn hier im dritten Abschnitt sind Texte versammelt, die sich ganz explizit – und zwar parodistisch – mit SF-Ideen auseinandersetzen. Zeitlich umfaßt dieser Abschnitt ein weites Spektrum von den frühen siebziger Jahren bis zur Gegenwart.

Deutlich abgesetzt sind hingegen der vierte und fünfte Abschnitt des vorliegenden Bandes: Der eine behandelt den Motivkanon der SF (und in einem Fall der Fantasy) in Gedichten, der andere greift – teils in Versen, teil in Prosa – typische Märchenmotive auf. Zwar sind die meisten Gedichte keine Lyrik im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern erzählen eine Geschichte, wie es üblicherweise Balladen tun; dennoch weisen sie formal und thematisch über das hinaus, was für gewöhnlich unter SF firmiert – in seinen Anmerkungen spricht Erik Simon sich denn auch gegen eine »allzu kleinteilige Verschubkastelung der phantastischen Genres« aus. Er hat schon Anfang der siebziger Jahre begonnen, sowohl SF-Balladen zu schreiben (»Invasion aus dem Weltraum«) als auch mit belletristischen Prosaformen zu experimentieren, die sich als (fiktive) Sachtexte ausgeben; es gibt von ihm übrigens auch eine große Anzahl Gedichte, die nicht unmittelbar phantastische Themen haben, deren Machart aber, wie Karlheinz Steinmüller über seinen Band »Nacht- und Nebelverse« Wenn im Traum der Siebenschläfer lacht (1983) schrieb, »die gleiche spielerisch-ernste Geistesart verrät, die auch Simons SF eignet«. Somit illustrieren die letzten drei Abschnitte der Sternbilder besonders anschaulich die These, daß Erik Simon im Gebrauch von literarischen Formen und Stilmitteln einer der vielseitigsten SF- und Phantastik-Autoren deutscher Zunge sein dürfte.

Hans-Peter Neumann

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