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Das Vermächtnis eines Patriarchen

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Esther verstand zwar nicht, warum ihr Großvater tat, was er tat, aber sie liebte ihn innig. In dieser Zeit wurde er älter und zunehmend schwächer und schließlich konnte er nicht mehr sprechen. Zuzusehen, wie jemand, den sie liebte, bewunderte und respektierte, immer älter und schwächer wurde, war für Esther sehr schwer. Sie hasste es mitanzusehen, wie er immer mehr verfiel. Sie war doch Großvaters kleines Mädchen und er hatte doch immer auf jede Frage eine Antwort und für jedes Problem eine Lösung gehabt. Und nun brauchte er für die kleinsten Kleinigkeiten die Hilfe anderer. Es brach ihr fast das Herz.

Während der letzten Monate seines Lebens konnte ihr Großvater nicht mehr sprechen. Er machte sich mit Blicken und mit Handzeichen verständlich. Auf diese Weise ließ sich allerdings schlecht Liebe und Emotion weitergeben. Aber irgendwie war die Sprache seiner Augen doch ausreichend. Sein Blick war fest und hatte eine solche Tiefe, dass er seine Gefühle hineinlegen konnte und keine Worte brauchte. In seinen Augen konnte man lesen: Er wusste, dass seine Zeit auf Erden zu Ende ging. Er war auf dem Weg, seinem Erlöser zu begegnen, und er wusste es. Immer wieder schlug er sich auf die Brust und wies dann zum Himmel. Stundenlang hielt er den Blick zur Decke gerichtet, nach oben, ins Jenseits, wohin er unterwegs war. Die leidvollen Tage seines Lebens in China gingen zu Ende. Er hatte „den Lauf vollendet und den guten Kampf gekämpft“, wie Paulus einmal schrieb, und jetzt rief sein himmlischer Vater ihn zu sich nach Hause.

Einmal bekam er keine Luft. Wieder schlug er sich auf die Brust und wies zum Himmel. Alle sahen, dass es diesmal anders war als sonst. Esthers Mutter holte sofort ihren Mann und die Arzttasche.

Esther blieb bei ihrem Großvater. Sie hatte versprochen, bei ihm zu bleiben, bis ihr Vater kam, aber mit jedem Moment, den sie dort saß, stieg die Angst in ihr und die Augenblicke dehnten sich ins Unermessliche. Sie hatte vielleicht nur kurz an seinem Bett gesessen, aber es kam ihr vor wie Stunden. Ganz plötzlich fühlte sie sich unwohl. Ein scharfer Schmerz schoss ihr durch den Kopf und im selben Moment tat ihr Großvater seinen letzten Atemzug. Der Schmerz war augenblicklich verschwunden. Ihr Großvater war tot.

Esther saß bei ihm und beobachtete, wie die Farbe langsam aus seinem Gesicht wich. Die Hand, die sie gehalten hatte, wurde kalt und schlaff. Der Mann, zu dem sie ihr ganzes Leben lang aufgeschaut hatte, lag leblos da. Sein Körper war nur die Hülle des willensstarken Arztes, der einmal eine Antwort auf jede Frage gehabt hatte.

Ihr Großvater verließ diese Welt nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. In seinem Leben hatte er vielen Menschen von Jesus erzählt. Auch seiner Familie. Und er hatte den Stempel „Jesus Freak“ auch seiner Enkelin eingeprägt. Alle in der Familie trauerten sehr um ihn. Aber sie wussten auch, sie müssten weiter darunter leiden, dass er diesen Jesus so geliebt hatte. Der Einzige in der Familie, der wirklich an Jesus geglaubt hatte, war tot – aber sie würde man weiterhin als Christen ächten.

Das war das Einzige, was Esther an ihrem Großvater nie verstanden hatte. Wie konnte er seine Familie so sehr lieben und gleichzeitig zulassen, dass sie für den Namen Jesus so viel ertragen mussten? Hätte er nicht einfach öffentlich seinem Glauben abschwören können und ihn eben heimlich leben? Hätte er nicht im Interesse seiner Familie seinen Glauben geheim halten können? Sie konnte ihm nicht folgen. Er hatte doch gesehen, wie viel Kummer sein Glaube für seine Familie bedeutete. Aber immer, wenn man ihm die Gelegenheit gab, seinem Glauben an Jesus abzuschwören, hatte er sich geweigert. In Esthers Augen hatte ihr Großvater ein großartiges Leben gelebt und war ein nahezu fehlerloser Mensch gewesen. Sein einziger Fehler war sein störrischer Glaube an Jesus gewesen.

Die Schmugglerin des Lichts

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