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2 Kindheit mit Großvater
ОглавлениеEsthers Opa war der Patriarch der Familie. Er war ein lebendiger Christ, der das Evangelium in seinem Dorf weitergab. Seine Liebe zu Jesus sollte später großen Einfluss auf Esthers Leben haben. Ihr Großvater verkündete das Evangelium bei seinen ärztlichen Besuchen im Dorf. Zwar hatte man ihm seine Bibel weggenommen und vernichtet, aber das hielt ihn nicht davon ab, das Wort weiterzugeben, das ihm ins Herz geschrieben war. Aus der Erinnerung redete er, wo er ging und stand, von der Güte und Liebe Gottes in Jesus Christus.
Ihr Großvater hatte keinerlei persönlichen Besitz, als die Regierung ihn in ein Dorf im Nordosten Chinas entsandte, wo es weder Elektrizität, Schulen, Krankenhäuser noch Trinkwasser gab. Man sagte ihm, er solle sich um die medizinische Versorgung der Dorfbewohner kümmern. Aber er erhielt keinerlei Mittel oder Ausrüstung, um das zu tun. Es wäre so leicht gewesen, einfach die Achseln zu zucken und aufzugeben!
In jenen dunklen Jahren nahmen sich viele Chinesen das Leben; langsam verglomm die Liebe zum Leben in einem ganzen Volk. Aber Esthers Großvater hatte eine größere Vision. Er lebte nicht so, als gäbe es nur dieses Leben. Er wusste, dass Gott ihn nicht vergessen hatte, dass es ein Leben nach dem Tod gab und dass er seinem himmlischen Vater vertrauen konnte, wenn er auch nicht verstand, was vor sich ging.
Die Liebe Gottes lebte in ihm und weckte in ihm den Wunsch, anderen zu helfen. Kaum angekommen, begann er, einen Brunnen zu graben, damit die Menschen frisches Wasser hatten – eine Grundvoraussetzung, um gesund zu sein. Wer heute dieses Dorf besucht, findet immer noch diesen Brunnen.
Esthers Großvater liebte nicht nur Menschen, sondern auch Pflanzen. Er hatte Freude daran, Saatgut in den Boden zu legen und zuzusehen, wie es aufging und wuchs. Pflanzen brauchen ebenso wie Menschen Aufmerksamkeit und Fürsorge, manchmal in besonderem Maß. Aber Esthers Opa wusste, dass die Pflanzen schließlich alle Mühe zurückzahlten – in Form von Nahrung, Schönheit und sauberer Luft. Im ganzen Dorf pflanzte ihr Großvater Obstbäume. Wenn jemand einen Baum oder eine Pflanze besaß, die dahinkümmerten, half er, bis die Pflanze wieder stark und gesund war.
Er war außerdem ein geschickter Handwerker und brachte alles wieder in Ordnung, was ihm die Dorfbewohner brachten. Im Dorf nannten ihn die Leute bei einem Spitznamen, der etwas Ähnliches bedeutet wie „Jesus Freak“. Obwohl darin das Wort für „verrückt, irre“ steckte, war das nicht abfällig gemeint. Für viele war es fast eine Art Ehrentitel. Esthers Großvater hatte viele Eigenschaften – Talent, Zähigkeit, Intelligenz, Demut –, die ihn wertvoller für das Überleben des Dorfes machten als irgendein kommunistischer Offizieller.
Esthers Großvater war verliebt in Jesus und er gab alles für ihn. Den Spitznamen „Jesus Freak“ trug er wie einen Orden. Es war ihm egal, ob die Leute ihn für verrückt hielten, weil er Jesus folgte. Was ihm nicht egal war, war, ob seine Familie Jesus folgte oder nicht.
Der Großvater mochte den Spitznamen „Jesus Freak“ ja lieben, aber seine Familie hasste ihn. Sie konnten tun, was sie wollten, sie wurden ihn nicht los. Sie waren unumgänglich schuldig in Kollektivhaftung. Auch wenn keiner seiner Angehörigen Christ war, nannte man auch sie die „Jesus Freaks“. Der Großvater hatte sich diesen Titel erworben und die Dorfleute liebten ihn. Aber niemand sonst in der Familie wollte so genannt werden und niemand verdiente es. Die Familie sah keinerlei Ehre darin, als „Jesus Freak“ bezeichnet zu werden; im Gegenteil: Es war für sie der verhasste Ausdruck von Erniedrigung und Scham. Es war eine Waffe, mit der die Menschen im Dorf Esthers Familie zwangen, sich anzupassen, und sie zugleich als „anders“ charakterisierten. Wie eine Peitsche wurde dieser Ausdruck ausgespuckt, wenn es nötig war. „Jesus Freak“ hielt sie alle unter der Knute.
Esther hasste den Ausdruck mehr als die übrige Familie. Wenn jemand ihr das nachrief, kochte sie vor Zorn. Es verwirrte sie, dass ihr Großvater einerseits wie ein König vom ganzen Dorf bewundert, andererseits aber oft wie ein Sklave behandelt wurde. Immer wieder war er Opfer gnadenloser Verfolgung, aber irgendwie behielt er immer den Kopf über Wasser.
Die, die ihm das Leben schwer machten, brauchten meistens irgendwann einmal seine Hilfe. Dann klopften sie bei ihm an, überzeugt, er werde es ihnen jetzt heimzahlen, wie sie ihn behandelt hatten – ihnen in der Krankheit seine Hilfe verweigern oder nicht ihr kaputtes Gerät reparieren oder keinen guten Rat geben, wenn ihre Pflanzen neue Lebensenergie brauchten. Aber das lag ihm völlig fern. Esthers Großvater war entschlossen, das, was er von Jesus Christus und seiner Güte wusste, mit anderen zu teilen. So häufte er oft glühende Kohlen auf das Haupt seiner Feinde, indem er ihnen half und ihnen freundlich begegnete, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, was sie ihm angetan hatten.
Auch seine Familie beobachtete dieses Verhalten mit Verwunderung. Wie konnte einer von ihnen sich so behandeln lassen? Wie konnte er zulassen, dass die Leute seine Frau und seine Kinder ausgrenzten, und ihnen im nächsten Moment seine Hilfe anbieten? Esther verstand ihren Großvater nicht und in ihr wuchs eine heftige Ablehnung gegen die Vorstellung, Jesus zu folgen. In ihren Augen war Jesus daran schuld, dass ihre Familie gedemütigt wurde. Und dann verlangte er von ihr, diesen Menschen, die sie beleidigten, lächelnd zu dienen? Das war hundertmal so erniedrigend wie die Ausgrenzung. Sie verstand diesen Jesus einfach nicht. Und die übrige Familie ebenso wenig.
Und so beschloss Esther bereits als Kind, dass sie nie im Leben Christin werden wollte. Sie weigerte sich, sich als Christin zu betrachten, und versuchte auch, vor sich selbst zu leugnen, dass ihre Familie etwas mit diesem Christus zu tun hatte. Sie wollte Gott vergessen und ebenso jeden Gedanken an ein Leben als Christin.
Aber ihr Großvater gab sie nicht auf. Bis zu seinem letzten Tag redete er mit ihr immer wieder über das Evangelium.