Читать книгу Die Schmugglerin des Lichts - Esther Chang - Страница 12
4 Eine Chance zum Neuanfang
ОглавлениеEines Tages kam Esther aus der Schule nach Hause und war in Gedanken damit beschäftigt, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie war dankbar, dass sie zur Schule gehen konnte, aber das allein reichte ihr nicht; sie wollte im Leben mehr erreichen. Sie wollte nicht einfach nur überleben, sie wollte eine Chance ergreifen, um sich auszuzeichnen. Und das würde ganz sicher in ihrer Schule nicht passieren, auch nicht in ihrem Dorf. Also beschloss sie, alles hinter sich zu lassen und sich in der nächsten größeren Stadt eine Arbeit zu suchen.
1986 war Esther neunzehn geworden. In diesem Jahr gab es einen landesweiten Test, mit dem die größten akademischen Talente in China ermittelt werden sollten. Esthers Bruder hatte bereits die Highschool abgeschlossen, aber er machte ebenfalls bei diesem Test mit. Beide erzielten die höchsten Punktzahlen für ihre Region und dieses Ergebnis verschaffte Esther ein Ticket, mit dem sie das Dorf verlassen konnte. Sehr bald fand sie eine Arbeit in einem medizinischen Testlabor in Shenyang.
Der neue Staatsführer in China war Deng Xiaoping und er schien das Land in eine andere Richtung führen zu wollen als Mao Zedong. Nachdem er 1980 an die Macht gekommen war, begann Deng Xiaoping, nach den ökonomischen Katastrophen unter dem Vorsitzenden Mao die Wirtschaft wiederaufzubauen, indem er Kontakte zur internationalen Gemeinschaft aufnahm und Beziehungen zu anderen Staaten knüpfte. In der Provinz im Nordosten Chinas, in der Esther nun lebte, verbreitete sich die Hoffnung, dass die Zukunft heller aussehen könnte als die vergangenen dreißig Jahre, und bald sah man in Shenyang die ersten Anzeichen für diese Entwicklung.
Nach ihrem Umzug nach Shenyang gefiel Esther das Gefühl der Anonymität dort. Shenyang war eine künftige Industrie- und Wirtschaftsmetropole; hier lebten Menschen aus der gesamten Provinz Liaoning. Das bot Esther die Chance, eine neue Identität zu finden. Niemand hier wusste etwas über sie oder ihre Geschichte. Es war die Chance für einen Neuanfang. Sie würde sich durch eigene Arbeit und Anstrengung ihre Zukunft aufbauen, frei von der Last ihrer Familiengeschichte.
Das Leben in der fremden Stadt hatte seine eigenen Herausforderungen. Das Leben war teurer und man konnte niemandem trauen, den man kennenlernte. Jeder war ein potenzieller Dieb. Shenyang war damals ein raues Pflaster. Beinahe jeden Abend konnte Esther beobachten, wie Frauen auf der Straße von Männern belästigt wurden. Diese Erfahrung wollte sie sich ersparen. Sie begriff rasch, dass es am sichersten wäre, wenn sie sich wie ein Mann kleidete. Irgendwo trieb sie ein paar Kleidungsstücke auf, in denen sie aussah wie einer der örtlichen Gangsterbosse. Tagsüber war klar, dass sie eine Frau war, aber sobald es dunkel wurde, tauchte sie im Heer der Männer unter.
Einmal fuhr sie abends mit dem Rad von der Arbeit nach Hause, als eine Gruppe Männer ihr den Weg verstellte. Es war klar, dass sie keine freundlichen Absichten hatten. Esther warf einen Blick auf die Gruppe, pickte sich rasch den heraus, den sie für ihren Wortführer hielt, und schrie ihn an. Die anderen, alles junge Kerle, wichen erschrocken und verblüfft zurück. Esther nahm das Fahrrad und setzte ihren Weg fort. Sobald sie außer Hörweite war, bekam sie einen Lachanfall.