Читать книгу Die Schmugglerin des Lichts - Esther Chang - Страница 11
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Schulalltag
Nachdem sie Esther mit elf Jahren beinahe verloren hatten, wurde ihren Eltern bewusst, was für eine Kostbarkeit dieses Kind war. Sie ermutigten sie auf jede denkbare Weise und sagten ihr immer wieder, dass sie etwas Besonderes war. Esther hatte eine besonders enge Beziehung zu ihren Eltern und wurde oft von den kleinen Haushaltspflichten verschont, die ihre Geschwister übernehmen mussten.
Außerdem war bereits früh deutlich, dass Esther sehr lernbegabt war. Sie galt in ihrer Klasse als Mathe-Genie und war bekannt für ihre zähe Entschlossenheit, alles, was sie sich vornahm, sehr gut zu bewältigen. Sie strengte sich auch an und arbeitete hart für gute Schulnoten, wie ihr Vater und Großvater es ihr beigebracht hatten. Anders als in Industriestaaten, wo die Schule für Kinder oft eine Last ist, war es im ländlichen China ein Privileg, zur Schule gehen zu dürfen. Nicht jedes Kind bekam die Chance, auch nur die Grundschule zu besuchen. Esther jedenfalls wusste das sehr zu schätzen.
Alle Kinder auf Esthers Schule waren Koreaner; für die Han-Chinesen gab es eine eigene Schule. Koreaner und Han trennte vor allem die Geografie. Aber auch wenn es keine Han-Kinder an der Schule gab, so war die Unterrichtssprache doch das Mandarin, die Sprache der Han-Chinesen. Diese hatte Mao Zedong zur Landessprache in ganz China erklärt, als er 1949 an die Macht gekommen war.
Die chinesische Gesellschaft, in der Esther aufwuchs, mochte von der Minderwertigkeit der Koreaner überzeugt sein. Esther war es nicht. Sie war ehrgeizig und erfolgshungrig und nahm jeden neuen Tag in Angriff, als stünde sie in einem Wettkampf und liefe ein Rennen gegen den Rest der Welt.
Zu Hause und in der Schule war Esther für ihre Willensstärke bekannt. Aber auch für ihre Großzügigkeit. Ihre Eltern waren zwar selbst arm, aber sie brachten ihr gute Manieren bei und lehrten sie, einen Blick auch für die Menschen zu haben, die noch schlechter dran waren als sie. Im kommunistischen China war das nicht gerade eine verbreitete Einstellung. Die Kommunisten hatten es zwar geschafft, die Familie gegen Esthers Großvater aufzubringen, aber sie konnten nicht verhindern, dass etliche seiner Lehren und Lebenseinstellungen in die verschiedensten Lebensbereiche seiner Familie überschwappten. Liebe und Mitgefühl sind meist ansteckend und das gilt auch in gottlosen Staaten. So wirkten die Haltung ihres Großvaters und sein Glaube an Jesus Christus in die nächsten Generationen weiter.
Alle Kinder in der Schule kannten Esthers Vater, denn er war der einzige Arzt im Ort. Seine Arbeit hatte ihm das Wohlwollen vieler Dorfbewohner eingebracht und die Kinder gaben dieses Wohlwollen manchmal an Esther weiter. Esther selbst brachte oft eine Extraportion Reis mit in die Schule und teilte sie mit denen, die kein Essen mitbringen konnten. Esthers Familie besaß nicht viel, aber das, was sie hatten, teilten sie mit anderen.
Ein wildes, temperamentvolles Mädchen
Neue Kleider kannte Esther nicht, und anders als viele andere Kinder hatte sie auch keine Schuluniform. Meist trug sie die abgelegten Sachen ihres älteren Bruders, aber das war in Ordnung. Sie mochte die grobe, einfache Kleidung. Und dass es Jungensachen waren, störte sie gar nicht, im Gegenteil, es half ihr dazuzugehören. Ihre Klasse in der kleinen Dorfschule bestand aus rund zwanzig Schülern und neunzehn davon waren Jungen. Manche Lehrer behandelten Esther anders als die Jungen, aber die Jungen taten das nie. Sie war eine von ihnen.
Esthers Bruder war drei Jahre älter und ging auf dieselbe Schule. Er sorgte dafür, dass niemand seiner kleinen Schwester zu nahe trat. Alle Jungen auf der Schule wussten: Wer sich mit Esther anlegte, bekam es mit ihrem Bruder zu tun.
Das bedeutete allerdings, dass Esther sich in den Pausen mit den Jungen messen musste. Wenn sie nicht mit den Jungen spielen wollte, musste sie sich allein die Zeit vertreiben. Aber das machte Esther nichts aus. Sie war sowieso nicht an den Sachen interessiert, die Mädchen sonst taten. Kochen, Putzen, Nähen und gutes Benehmen – all das konnte ihr gestohlen bleiben! Früher hatte Esther sich bemüht, sich anzupassen, wenn sie mit anderen Mädchen oder weiblichen Verwandten zusammen war. Aber mit der Zeit hatte sie diese Versuche aufgegeben und war stattdessen mit den Jungen unterwegs.
Nach der Schule spielten sie Fußball. Sie rannte mit ihren Freunden um die Wette, kletterte auf Bäume, spielte Fangen. Wenn sie mal ein bisschen Geld hatte, zog sie mit einer Handvoll Jungen los und kaufte an einem der kleinen Straßenstände gebratenen Fisch. Am liebsten teilte sie sich mit ihren Freunden Kebab. Dass Esther das einzige Mädchen in einer Clique von Jungen war, fiel kaum auf. Sie konnte so schnell rennen und so gut auf Bäume klettern wie jeder Junge.
Diese Umstände bereiteten sie auch auf ihre künftige Aufgabe in Nordkorea vor. Nordkoreaner gelten als rauer und weniger zartfühlend als ihre Landsleute im Süden. Das ist sicher nichts Angeborenes, sondern die Folge der harten Lebensbedingungen unter dem kommunistischen System. Der Kommunismus kann unbarmherzig und herzlos sein. Ein Menschenleben gilt ihm nicht viel und wird rasch weggeworfen wie ein alter Lumpen. Wenn man überleben will, muss man stark sein, zäh und widerstandsfähig.
In seiner Größe und Souveränität gebrauchte Gott sogar die rauen Erfahrungen in Esthers Kindheit und Jugend, um sie darauf vorzubereiten, den herben Nordkoreanern das Evangelium zu bringen. Nordkorea ist ein Agrarland; die Menschen sind es gewohnt, mit den Händen zu arbeiten und sich sehr direkt auch körperlich auszudrücken. Über die lange Zeit der Trennung von Nord- und Südkorea hat der Süden eine andere Entwicklung genommen. In Südkorea gibt es viel weniger Menschen, die von körperlicher Arbeit leben, als im Norden. Die rauen Sitten ihrer Kinderjahre haben Esther in einmaliger Weise darauf vorbereitet, später einmal die Menschen in Nordkorea zu verstehen und zu gewinnen.
Wieder einmal übergangen
Das alles bedeutete nicht, dass Esther nur ein etwas wildes Mädchen vom Lande war. Sie hatte eine natürliche Begabung, komplexe Zusammenhänge rasch zu erfassen. Wie ihr Vater und Großvater war sie ein geistig aufgewecktes Kind und glänzte in allen Schulfächern. Besonders lag ihr allerdings die Mathematik. Sie war fasziniert davon, dass jedes mathematische Problem eine ganz bestimmte, unwiderlegbare Lösung hatte, die absolut und vollkommen logisch war. Eine Mathematikaufgabe begann als kleines Abenteuer, von dem Esther wusste, dass sie sich darauf einlassen konnte und schließlich an einem Ziel ankommen würde, das als absolut richtig zu beweisen war, wenn sie sich an die Regeln hielt.
Esthers Auffassungsgabe war zwar rascher als die ihrer Mitschüler, aber sie sollte bald lernen, dass es auch für das, was sie erreichen konnte, Grenzen gab. Bald legte man ihr Hindernisse in den Weg, die sie in ihren schulischen Erfolgen bremsten – und zwar nicht, weil sie ein Mädchen war. Der Grund war vielmehr der, dass sie aus einer christlichen Familie kam. Sie konnte sich noch so sehr anstrengen, ihre Leistungen wurden kaum je anerkannt.
Esther arbeitete hart, um sich die Achtung ihrer Lehrer zu erwerben. Aber weil ihr Großvater Christ gewesen war, galt auch sie in den Augen ihrer Lehrer und Mitschüler als Christin und damit war sie automatisch benachteiligt. Dieses Etikett verhinderte, dass sie je ein Lob oder eine Auszeichnung für ihre Leistungen oder ihren Arbeitseinsatz erhielt, wie es für andere Schüler üblich war. Was ihre Lehrer anbetraf, hätte Esther ebenso gut ein Schild mit der Aufschrift „Idiotin“ auf der Stirn tragen können. Offiziell war und blieb sie eine Außenseiterin.
Die besten Schüler jedes Jahrgangs durften in die Hauptstadt zu einem Schülerwettbewerb reisen. Obwohl Esther die Klassenbeste war – sie war nie dabei. Jedes Jahr sehnte sie sich danach, mitfahren zu dürfen. Aber sie musste immer zusehen, wie die anderen die Reise antraten. Sie träumte davon, welche Ehre es bedeuten würde, wenn sie ihre kleine Dorfschule in der großen Stadt vertreten dürfte. Es wäre fast so etwas wie ein Ritterschlag und könnte vielleicht sogar, so hoffte sie, dazu beitragen, dass die Leute die „schändliche“ Vergangenheit ihrer Familie vergaßen.
Nachdem sie wieder und wieder übergangen worden war, fand sie es immer schwieriger, sich weiter zu bemühen. Es erschien ihr völlig wertlos, eine gute Schülerin zu sein – nichts, was sie tat, konnte ihre Lehrer zufriedenstellen. Egal, wie sehr sie sich anstrengte: Für ihre Lehrer trug sie das schwarze Zeichen des Christentums. Und so strengte sie sich schließlich auch nicht mehr an.