Читать книгу Die Schmugglerin des Lichts - Esther Chang - Страница 6
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Zwischen zwei Welten
Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
Jesaja 43,1
Einem Besucher, der einen bestimmten Ort auf dem Land im chinesischen Grenzgebiet zu Nordkorea erreicht, würde sofort auffallen, wie anders es hier zugeht als irgendwo sonst in China. Die Bewohner sind vor allem Koreaner, die in China geboren wurden. Alle Schilder und Plakate sind zweisprachig – chinesisch und koreanisch. Die koreanische Kultur prägt das Dorfleben. Taxifahrer und Kellnerinnen sprechen nur Koreanisch – sehr zum Missfallen chinesischer Besucher. In dieser Region kann man tatsächlich leben, ohne sich je mit der chinesischen Sprache zu befassen.
Die koreanischen Chinesen hier sind alle chinesische Staatsbürger. Aber sie unterscheiden sich deutlich von der Mehrheit der Han-Chinesen und sind eine von Chinas zahlreichen ethnischen Minderheiten. Speisen, Sprache, kulturelle Gebräuche und Feste sind in dieser Region eindeutig koreanisch. Aber gleichzeitig sehen sich diese koreanischstämmigen Chinesen als vollwertige Chinesen an. Am dramatischsten hat sich das daran gezeigt, dass viele dieser koreanischen Chinesen im Koreakrieg für China gekämpft und ihr Leben gelassen haben. Ihre Rolle in diesem Krieg hat ihnen großen Respekt der chinesischen wie auch der nordkoreanischen Regierung eingebracht.
In vieler Hinsicht leben die koreanischen Chinesen zwischen den Welten – sie sind weder ganz chinesisch noch ganz koreanisch. Sie bilden eine eigene Kultur, in der sich das chinesische und das koreanische Element verbinden.
Esther Chang
Im Jahr 1967 wird in diesem Dorf ein kleines Mädchen geboren, das Gott einmal in besonderer Weise für seine Sache einsetzen würde. Ihr Name war Esther. Wie wir noch sehen werden, spielt ihre Zugehörigkeit zu dieser eigenen Mischkultur heute eine entscheidende Rolle für die Evangelisierung in Nordkorea.
Wer in den 1960er-Jahren in China geboren wurde, hatte es nicht leicht. Die Kulturrevolution war gerade in vollem Gange. Unter Mao Zedong galt es als Hauptziel der Revolution, alles zu verhindern, was das Land möglicherweise wieder in den Kapitalismus zurücktreiben konnte. Große Propagandakampagnen indoktrinierten die chinesische Jugend, den „vier alten Zöpfen“ den Krieg zu erklären: 1. der alten Kultur, 2. den alten Bräuchen, 3. den alten Gewohnheiten und 4. den alten Ideen.
Mao Zedong war überzeugt, dass die Revolution die Wirtschaft des Landes nicht in Mitleidenschaft ziehen würde, weil er seine Roten Garden anwies, die Arbeiterklasse und die dörfliche Landbevölkerung nicht anzutasten. Er irrte sich. Der enorme soziale Umbruch führte dazu, dass Millionen durch Hunger, Gewalt oder Verrat ums Leben kamen. Die Armut, die Mao selbst verschuldet hatte, plagte die ganze Nation.
Esther war das dritte von vier Kindern; sie hatte einen älteren Bruder und eine ältere Schwester und nach ihr kam noch ein Junge. Die Familie hatte schon seit Generationen christliche Wurzeln. Ihr Großvater war in der Sowjetunion aufgewachsen und kurz vor der chinesischen kommunistischen Revolution nach China eingewandert – gerade noch rechtzeitig, bevor in der UdSSR Koreaner wie er in Züge verfrachtet, quer durch Sibirien transportiert und zwangsweise in Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan angesiedelt wurden. Sein Medizinstudium in der Sowjetunion war im ländlichen China eigentlich hochwillkommen. Aber als Christ traf ihn und seine Familie immer wieder die Verfolgung. Sie bekamen auch den flammenden Hass jener Tage auf die gebildete Bevölkerungsschicht zu spüren.
Zudem machte es die Volkszugehörigkeit ihrem Großvater und seiner Familie nicht leicht. Chinesische Kinder waren nicht sehr freundlich zu koreanischen; sie wurden mit Schimpfworten bedacht und nicht selten mit Steinen beworfen. Esthers Vater erhielt wie die anderen koreanischen Kinder eine Schulausbildung – aber selbst er schaffte es nicht weiter als bis zum Ende der Grundschule. Dann ertrug er die andauernden grausamen Schikanen nicht mehr, der alle Koreaner in der Schule tagtäglich ausgesetzt waren. Die wertvollste Ausbildung, die er erhielt, bekam er nicht durch die Schule, sondern von seinem Vater: Er brachte ihm medizinische Grundkenntnisse bei.
Die Medizin wurde zum Broterwerb der Familie. Esthers Vater, inzwischen erwachsen und Vater von drei Kindern, war der einzige Arzt im Ort. Er hatte keine leichte Aufgabe. Er arbeitete fast für umsonst und hatte kaum irgendwelche Hilfsmittel zur Verfügung. Um seine Familie zu ernähren, musste er eine zweite Beschäftigung annehmen und arbeitete anstrengende Nachtschichten. Er hatte kein medizinisches Umfeld, auf das er zurückgreifen konnte – keine Hebammen, keine professionellen Krankenschwestern, denen er schwer kranke Patienten hätte anvertrauen können.
Die hygienischen Verhältnisse im örtlichen Krankenhaus waren erbärmlich. Es kam vor, dass Patienten gesund kamen und krank wieder gingen. Kleine Schnittwunden entwickelten sich zu ernsthaften Infektionen. Besucher, die Angehörige ins Krankenhaus begleiteten, steckten sich mit Keimen an. Es gab keine Möglichkeit, Räume, Untersuchungsliegen oder medizinische Geräte zu desinfizieren oder zu sterilisieren. Fließendes Wasser oder Elektrizität fehlten ebenfalls. Die Situation war gesundheitsgefährdend.
Aber es gab einfach keine Mittel, um die Lage zu verbessern. Es war verboten, Patienten an den Kosten zu beteiligen, um Medikamente oder Ausstattung zu beschaffen. Die Klinik war völlig abhängig von der Regierung und die stellte keine finanziellen Mittel zur Verfügung. Wenn Kinder starben, dann war die Ursache in diesen Jahren zu 90 Prozent eine Ansteckung mit einer einfachen Krankheit. 1967 lag die allgemeine Lebenserwartung in China bei 57 Jahren.
Durch ein Wunder geheilt
Als Esther drei Monate alt war, steckte sie sich mit Bakterien an, die ihr Vater aus dem Krankenhaus mit nach Hause brachte. Sie erkrankte lebensgefährlich. Ihrem Vater war rasch klar, wie ernst es um seine kleine Tochter stand und dass er sie rasch in ein besseres Krankenhaus bringen musste. Er hätte ein Auto oder einen Krankenwagen gebraucht, um sie in das etliche Kilometer entfernte nächste Krankenhaus zu fahren, aber niemand im Dorf besaß ein Auto oder wusste auch nur, was ein Krankenwagen war. Esthers Vater hatte nur sein Fahrrad. Und er wusste: Ohne entsprechende Behandlung würde sein Kind sterben. Also nahm er die kleine Esther fest in den Arm, schwang sich aufs Fahrrad und fuhr los.
Auf der staubigen Landstraße trat er so kräftig in die Pedale, wie er konnte. Jede Minute zählte, aber mit jedem Kilometer schien er langsamer zu werden. Er war erschöpft, strampelte aber weiter, angetrieben von der Liebe zu seiner Tochter. Er beugte sich fast bis auf den Lenker herunter, um kräftiger treten zu können. Die Zeit lief gegen ihn und er wusste es. Immer, wenn er an Tempo verlor oder ans Aufgeben dachte, pumpte ein Blick auf den Zustand des Kindes ihm neues Adrenalin in die erschöpften Glieder.
Nach Stunden erreichte er schließlich das Krankenhaus. Er ließ das Fahrrad fallen, drückte sein Kind an die Brust und stürmte durch die Tür.
„Meine Tochter! Sie braucht sofort Hilfe! Wo ist der Doktor?“
Die Mitarbeiter, die ihn schreien hörten, sahen sich irritiert an, aber sobald sie das Baby bemerkten, das wie leblos in seinen Armen lag, kamen sie ihm schnell zu Hilfe. Jemand rief nach dem Arzt, der eilig erschien, um zu sehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte.
Das Adrenalin belebte Esthers Vater, während er zusehen musste, wie das Leben langsam aus seiner Tochter wich. Rasch und präzise berichtete er dem Arzt über ihren Zustand. Der Arzt gab den Schwestern unverzüglich seine Anweisungen.
Verzweifelt bemühten sich alle, Esthers Vitalfunktionen zu stabilisieren. Infusionen wurden gelegt. Aber ihr Zustand verschlechterte sich immer mehr. Der Magen war aufgebläht und die Luft konnte nicht entweichen. Dann blieb der Atem stehen. Voller Entsetzen sah ihr Vater zu, wie der kleine, erst drei Monate alte Körper leblos wurde. Hilflos beobachtete er, wie das medizinische Personal alles tat, um das Leben seiner Tochter zu retten. Er wollte helfen, selbst mit anfassen, aber er wusste, dass sein Kind in professionellen Händen war. Er wusste auch, wie erschöpft er selbst war, kurz davor, vor Schwäche und Flüssigkeitsmangel zusammenzuklappen. Und dass er nichts für seine Tochter tun konnte, wenn er jetzt zusammenbrach.
Während er langsam wieder zu Atem kam, sah er sich im Krankenhaus um. Es war kaum besser als sein kleines Dorfkrankenhaus. Ein Gebäude aus Zementblöcken. Die Beleuchtung zu schwach, die Luft so feucht, dass in den Ecken schwarzer Schimmel saß.
An jedem anderen Tag hätte er in diesem Krankenhaus ein wenig Enthusiasmus verspürt. Er hätte sich die Instrumente angesehen, sich nach den Heilverfahren erkundigt, die diese Mediziner mit einer besseren Ausbildung als seiner anwendeten. In jedem Raum hier gab es medizinische Geräte und Ausstattung, die er auch in seinem Dorfkrankenhaus gut hätte gebrauchen können.
Der leitende Arzt untersuchte Esther noch einmal, kam aber zu dem Schluss, dass man nichts mehr für die Kleine tun konnte. Er beobachtete sie intensiv, ob es irgendwelche Anzeichen einer Besserung gab. Schließlich nahm er ihre Hand und fühlte den Puls. Mit einem Kopfschütteln ließ er sie wieder sinken. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens rief er die Schwestern zu sich. Sie besprachen sich kurz, dann trat eine der Schwestern zu dem Kind und entfernte die Infusionsnadel. Eine andere begann, den Untersuchungstisch für den nächsten Patienten vorzubereiten. Esthers Zustand war hoffnungslos.
Ihr Vater, der in einer Ecke des Raums zusammengesunken war, stand plötzlich hoch aufgerichtet da. „Was soll das? Geben Sie auf? Sie wollen nicht versuchen, mein kleines Mädchen zu retten?“
„Sie ist tot. Wir können nichts mehr für sie tun“, erwiderte die Schwester kühl.
„Gehen Sie mir aus dem Weg! Wenn Sie nicht um sie kämpfen wollen, dann tu ich’s“, sagte er bestimmt.
Auf einmal kamen ihm das große Krankenhaus und das besser ausgebildete Personal gar nicht mehr so beeindruckend vor. Systematisch wandte er alle lebensrettenden Maßnahmen an, die er von seinem Vater gelernt hatte. Eins nach dem anderen schöpfte er bei jedem Schritt alle Möglichkeiten aus. Es war fast, als könnte er hören, wie sein Vater ihm Anweisungen gab. Jede Methode, die er kannte, wandte er an, um sein Kind ins Leben zurückzuholen. Das Krankenhauspersonal hatte noch nie erlebt, dass jemand zu ihnen kam und dann die Behandlung selbst in die Hand nahm. Sie schwankten zwischen Bewunderung und Ärger. Als sie näher traten, um Esther vom Untersuchungstisch zu nehmen, trat er ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen.
„Wenn Sie mir nicht helfen wollen, verlassen Sie den Raum“, befahl er. Die Schwestern wichen zurück und sahen dann zu, wie der verzweifelte Vater versuchte, seine kleine Tochter zu retten. Eine Zeit lang schien sich nichts zu verändern. Aber dann … begann die Kleine wieder zu atmen. Zum übergroßen Erstaunen aller Anwesenden hatte das kleine Mädchen ins Leben zurückgefunden. Es war ein Wunder.
Und wirklich – Gott hatte mit diesem Kind noch viel vor. Dies war nur das erste von vielen weiteren Wundern, die Esthers Familie in den kommenden Jahren noch erleben würde.