Читать книгу Die Schmugglerin des Lichts - Esther Chang - Страница 8
Wieder sehr krank
ОглавлениеAls Esther elf Jahre alt war, bekam sie beim Spielen mit anderen Kindern plötzlich heftige Bauchschmerzen. Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, sondern in einer abgelegenen Gegend unterwegs. Esther war stark, also versuchte sie, den Schmerz im unteren Bauch so lange zu ignorieren, wie sie konnte. Schließlich musste sie aber anerkennen, dass er nicht verschwand, und sie beschloss, nach Hause zu gehen und sich hinzulegen, bis der Schmerz nachließ.
Langsam und unter Schmerzen ging sie nach Hause und schlich zusammengekrümmt und wortlos zu ihrem Bett. Ihre Schwester stand daneben und sah überrascht zu, wie sie so merkwürdig gekrümmt durch den Raum wankte und ins Bett kroch. Esther sagte nichts von den starken Schmerzen. Wenn sie erst im Bett lag, dachte sie, würde alles in Ordnung sein.
Aber die Schmerzen wurden immer schlimmer. Sie griff nach den Decken auf der Matte und wickelte ihren Kopf darin ein. Die Schmerzen wurden noch stärker und sie wimmerte jetzt. Sie steckte sich einen Zipfel der Bettdecke in den Mund und biss darauf, damit sie nicht vor Schmerz laut aufschrie. Sie verbiss sich so heftig in diese Decke, dass sie schließlich ohnmächtig wurde. Und da begriff ihre Schwester, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Ihr Vater war gerade nach Hause gekommen, als er aus dem Zimmer seiner Töchter einen Schrei hörte. Er stürmte hinein und fand Esther bewusstlos und zusammengekrümmt im Bett. Nach einer kurzen Weile kam sie wieder zu Bewusstsein. Ihr Vater beugte sich über sie und fragte, wo der Schmerz saß. Esther konnte nicht sprechen, zeigte aber auf ihren Unterbauch. Ihr Vater erkannte die Symptome und wusste, dass sie sofort medizinische Hilfe brauchte. Es war ein Blinddarmdurchbruch.
Im Dorfkrankenhaus konnte er wenig für sie tun. Er hatte keine Wahl: Er musste sie – wie damals als Baby – ins nächste größere Krankenhaus bringen. Aber als sie dort ankamen, fanden sie etwas vor, das wie eine Geisterstadt wirkte. Es war Wochenende und niemand schien da zu sein.
„Hallo?“, rief ihr Vater. „Wir brauchen Hilfe! Ist denn hier niemand?“
Keine Antwort. Es gab nicht einmal jemanden am Empfang. Aus dem Augenwinkel sah er einen Wachmann auf sich zukommen. Er lief ihm entgegen und bedrängte ihn, er müsse sofort den Arzt und Krankenschwestern rufen und die müssten ins Krankenhaus kommen.
Wenige Minuten später traf der Bereitschaftsarzt mit einigen Schwestern ein. Esthers Vater lief ihnen entgegen und erklärte, was los war. Der Arzt wollte stehen bleiben und sich anhören, was Esthers Vater zu sagen hatte, aber als er nur kurz zögerte, griff dieser ihn am Arm und zog ihn regelrecht in den Raum, in dem Esther lag, während er seine Erklärung fortsetzte. Die Krankenschwestern folgten ihm auf den Fersen und lauschten auf jedes seiner Worte.
An Esthers Bett nahm der Arzt seine eigene Untersuchung vor. Man musste sofort operieren, entschied er. Die Operation dauerte mehrere Stunden und verlief nicht ohne Komplikationen. Esthers Vater stand vor dem OP, während seine Kollegen um Esthers Leben kämpften, und versuchte, vom Pflegepersonal jedes bisschen an Information zu bekommen, das er kriegen konnte.
Nach zehn Stunden auf dem OP-Tisch schien Esthers Zustand schlechter als zu Beginn der Operation. Der Arzt beugte sich über sie, erschöpft und völlig verausgabt. Die Operation war beendet, aber Esthers Vitalfunktionen wurden immer schwächer. Dann setzte der Atem aus. Der Arzt wollte schon gehen, zögerte dann aber und untersuchte sie noch einmal. Es gab keinen Puls. Er wechselte einen Blick mit der Schwester und bestätigte ihr kopfnickend, was sie beide wussten: Esther war tot.
Ein Blick zur Tür zeigte dem Arzt, dass Esthers Vater mit einem ohnmächtigen Gesichtsausdruck in den Raum spähte. Unruhig hin und her gehend, hatte er vor dem OP auf neue Informationen gewartet. Er wusste, wie es war, selbst am OP-Tisch zu stehen, statt draußen, wo man nichts tun konnte. Und die namenlose Furcht, die mit jeder Minute, die er warten musste, in ihm aufstieg, gefiel ihm ganz und gar nicht.