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Eine beharrliche neue Großmutter

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Esther blickte jetzt zuversichtlich in die Zukunft. Aber es gab ein großes Problem mit ihrem neuen Leben: ihre Großmutter. Als Esther nach Shenyang gezogen war, war sie bei ihrer Großmutter eingezogen. Und die war eine gläubige Christin. Die Frau war nicht ihre wirkliche Großmutter, sondern eine entfernte Verwandte, die ihr ein Zimmer angeboten hatte. Aber weil sie ebenso alt war wie ihre richtigen Großeltern, nannte Esther sie Großmutter.

Die Einarbeitung in ihren Beruf und das Leben in einer fremden Stadt setzten Esther sehr unter Druck. Sie arbeitete lange Stunden sehr intensiv. Wenn sie von der Arbeit kam, wollte sie meistens nur noch schlafen. Ihre Großmutter lud sie immer wieder ein, in den Gottesdienst mitzukommen, aber Esther lehnte jedes Mal ab. „Esther, möchtest du mitkommen zum Gottesdienst?“, fragte sie. „Nur einmal. Ich glaube, es wird dir gefallen.“ Mit jeder neuen Einladung ihrer Großmutter stieg in Esther der Unmut und nach ein paar Monaten reagierte sie fast hysterisch und aggressiv, wenn das Thema Gottesdienst zur Sprache kam. Schließlich brach ihre Großmutter bei einer solchen Gelegenheit in Tränen aus.

Esther hatte nicht so barsch und schroff zu dieser freundlichen alten Lady sein wollen. Sie entschuldigte sich vor sich selbst damit, dass alles, was mit dem Christentum zu tun hatte, die schlimmsten Erinnerungen in ihr wachrief. Allerdings fühlte sie sich miserabel, dass sie ihre Stimmung an ihrer Großmutter ausgelassen hatte. Als Wiedergutmachungsangebot willigte sie also beim nächsten Mal ein: Sie würde zum Gottesdienst mitgehen.

Seit 1980 gab es wieder eine offizielle christliche Kirche in Shenyang, die Patriotische Drei-Selbst-Kirche. Die Restriktionen von kirchlichen Aktivitäten unter den ansässigen Koreanern aus der Zeit der Kulturrevolution wurden allmählich abgebaut. Ihre Großmutter hatte diese Gemeinde vom ersten Tag an besucht, als sie wieder zugelassen worden war.

Esther war noch nie in einer Kirche gewesen. Die Kirchen waren entweder zerstört oder geschlossen worden, bevor sie geboren wurde. Ihr einziger Berührungspunkt mit dem christlichen Glauben war ihr Großvater gewesen. Als sie sich nun zum ersten Mal einer Kirche näherte, fühlte sie sich ein wenig eingeschüchtert und wusste nicht recht, worauf sie sich einstellen sollte. Sie betrachtete das Kirchengebäude und ein seltsames Gefühl überkam sie. Der düstere Ziegelbau, der die Straße beherrschte, repräsentierte alles, was sie versucht hatte hinter sich zu lassen. Die Kirche war vor langer Zeit gebaut worden und hatte erstaunlicherweise die Kulturrevolution unbeschadet überstanden. Es gab ein Kreuz an der Vorderfront des Gebäudes, das ein schräges Spitzdach hatte, kein Flachdach wie die traditionellen chinesischen Häuser.

In Esthers Vorstellung stand die Kirche für alles, was illegal, rebellisch und nonkonformistisch war. Sie war das Symbol konterrevolutionärer Lehren und Verhaltensweisen und rief in ihr nichts als Hass, Ablehnung und Schmerz wach. Alles, was sie aus ihrem Leben verbannen würde, wie sie sich selbst geschworen hatte, war in diesem Gebäude symbolisch zusammengefasst. Und doch würde sie es gleich betreten.

Sie ging auf die Eingangstür zu, atmete tief durch und trat ein. Drinnen sah sie nichts als freundliche Gesichter, deren Lächeln den Raum erwärmte. Sie begrüßten Esther, als würden sie sie schon lange kennen, und es war offensichtlich, dass all diese Leute Freunde ihrer neuen Großmutter waren und von ihr alles über Esther erfahren hatten.

Esther war überrascht, dass unter den Besuchern auch Ausländer waren. Unter dem Vorsitzenden Mao hatte China alle Ausländer ausgewiesen, aber an dem Tag, als Esther diese Kirche betrat, waren etwa zehn ausländische Besucher aus unterschiedlichen Ländern da. In jenen Tagen war es schon ungewöhnlich, überhaupt einen Fremden zu sehen, geschweige denn neben ihm zu sitzen und mit ihm zu reden.

In einem Moment schmolzen der ganze Schmerz und die Bitterkeit, die Esther jahrelang in sich aufgestaut hatte, dahin. Liebe und Frieden waren in diesem alten Ziegelbau wie mit Händen zu greifen und die Macht dieses Gefühls überwältigte sie. Der Schmerz aus Jahren der Angriffe und Benachteiligungen erschien ihr wie eine blasse Erinnerung verglichen mit der Liebe, die in dieser Kirche spürbar war. Diese Menschen, die sie in die Arme schlossen und so herzlich willkommen hießen, hatten alle ihre eigene Geschichte von Kummer und Verlust. Sie hatten dieselben Angriffe und Verfolgungen erlebt wie sie – meist noch schlimmere –, aber anscheinend trugen sie keine Narben aus den Wunden der Vergangenheit mit sich herum.

Der Kirchenraum war unmöbliert; es gab keine Bänke oder Stühle. Die Leute saßen einfach auf dem Boden und lauschten der Stimme des alten Pastors, der die Tage der Revolution überlebt hatte. Es gab zwar diese spürbare Liebe und Freude an der Gemeinschaft, aber kaum Unterweisung. Fast niemand hatte eine Bibel oder sonstiges Material; das war alles vernichtet worden. Und die meisten der Anwesenden waren zu arm, um sich eine Bibel zu kaufen, selbst wenn diese erhältlich gewesen wäre.

Esthers Großmutter schlug vor, sie solle zuerst einmal das Vaterunser auswendig lernen. Esther war plötzlich neugierig, mehr über den christlichen Glauben zu erfahren. Sie verschlang alles an christlicher Literatur, was ihr in die Finger kam. Ihre Großmutter wusste, dass Lesen für Esther fast wichtiger war als Essen, und nach langem Suchen trieb sie schließlich eine alte koreanische Bibel auf. Die Bibel war von oben nach unten gesetzt, wie das Koreanisch von früher.

Esther vertiefte sich in die Bibel, kaum dass sie sie bekommen hatte. Sie brannte darauf, mehr zu erfahren. Es kam nicht selten vor, dass sie über dem Bibellesen einschlief.

Die Schmugglerin des Lichts

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