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Europäische Ernährungskonzepte

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Auch wenn die Zusammenarbeit von Schuler und Maggi nicht zum gewünschten Erfolg führte und sich Schuler in der Folge Milch und Käse als Volksnahrungsmittel zuwandte, so ist der Suppenwürfel dennoch in engem Zusammenhang mit einer wichtigen Reformbewegung zu sehen: der rationellen Volksernährung. Deren Bestrebungen sind vor dem Hintergrund einer Verwissenschaftlichung und Normierung der Ernährungsweise der Fabrikarbeiter zu sehen, die zum einen eine Leistungssteigerung des Industriesystems zum Ziel hatten, zum anderen aber auch das Konfliktpotenzial zwischen den sozialen Klassen und Schichten unter Kontrolle zu bringen versuchten. Träger dieses «Ernährungskonzepts» waren sowohl Sozialreformer als auch die bürgerliche Frauenbewegung.33 Wie Jakob Tanner festhält, handelte es sich dabei um «einen sinnstiftenden und zugleich frustrierenden Kampf von oben gegen ‹irrationale› Verhaltensweisen und gegen das Beharrungsvermögen von Gewohnheiten von unten».34

Gerade in Zusammenhang mit dem Aspekt der Leistungssteigerung kam der Eiweisslehre des deutschen Justus von Liebig (1803 bis 1873) eine Schlüsselrolle zu. Liebigs Forschung ist es zwar zu verdanken, dass wir bis heute die Nahrungsmittelgrundstoffe in Eiweiss, Fett und Kohlenhydrate einteilen, doch führten seine Erkenntnisse in der Folge auch zu einer Überbewertung der Eiweissstoffe und liessen Fleisch in Zusammenhang mit Muskelkraft zu einem «industriellen Supernahrungsmittel» avancieren.35 Dieses liess sich jedoch nur schwer mit dem Budget einer Arbeiterfamilie in Einklang bringen. Indes zeigte der Blick auf die nördlichen Nachbarn und ins Tierreich, dass auch pflanzliche Eiweisse ihren Zweck erfüllten. Als Beispiele herangezogen wurden etwa das deutsche Kornbrot und Pumpernickel sowie die Haferdiät der Pferde und die reine Pflanzenkost der Elefanten, wie bei Tanner zu lesen ist.36 Doch mit dieser Idee mochte man sich hierzulande nicht wirklich anfreunden. Zwar gelang es dem deutschen Mediziner, Physiologen und Hygieniker Max Rubner (1854–1932) mit seiner Forschungsarbeit zu Energiehaltung und Energieverlust, auch in der Schweiz die Bedeutung der Pflanzenkost zu rehabilitieren oder zumindest aufzuwerten, doch rein pflanzlich sollte die Volksernährung dennoch nicht werden.37 Einen Kompromiss, der sich im jungen Bundesstaat zugleich nationalistisch instrumentalisieren liess, bildeten daher die scheinbar urschweizerischen Produkte Milch und Käse: Sie waren preiswerter als Fleisch und gehörten dennoch zur Gruppe der viel gelobten tierischen Proteine.38

Die Grundlage für das Gedankengut der rationellen Volksernährung bildeten die veränderten, durch die Arbeitszeiten in den Fabriken bedingten Lebensweisen und Ernährungsgewohnheiten der Arbeiterklasse. Das Konzept der rationellen Volksernährung verstand sich dabei als eine auf rationalen, wissenschaftlichen Prinzipien aufgebaute «Verbesserung» der Situation der städtischen Unterschicht, wobei eine Maximierung des Outputs (Nährwert, Energie, Leistung) bei gleichzeitiger Minimierung des Inputs (Nahrungsmittelkosten, Zeitaufwand für Zubereitung) angestrebt wurde. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich im Verlauf der 1880er-Jahre das Verständnis von «rationell» durchaus auch veränderte, wie Tanner aufzeigt: «Als rationell wurde nun aus dieser hauswirtschaftlichen – und damit genuin ökonomischen – Sicht nicht mehr das Nahrungsmittel bezeichnet, das am meisten Vorteile auf sich vereinigte, sondern jenes, das mit einem Minimum an Einkommen ein Optimum an Nährstoffen gewährleistete.»39

Die Funktion, die bei der rationellen Volksernährung der – notabene jungen – Ernährungswissenschaft zukam, reichte weit über ein Erklärungs- oder Aufklärungsprinzip hinaus. Es ging bei dieser autoritär geführten Kampagne mitunter darum, die «gute» Wissenschaft beziehungsweise das «gute» Wissen den «schlechten» Gewohnheiten entgegenzustellen.40 Die Unterschicht, die sich in dieser Vorstellungswelt von ihren Gewohnheiten statt vom Wissen und Verstand lenken liess, wurde auf diese Weise durch die (gebildete) Ober- und Mittelschicht «entmündigt» und bedurfte der Erziehung und Belehrung. Diese durch «Wissen» geschaffene Diskrepanz zwischen den sozialen Schichten mag so dazu beigetragen haben, dass die Akzeptanz und Reichweite der verschiedenen Reformkonzepte oftmals sehr gering war. Wie im Fol genden noch gezeigt werden soll, gelang es letztlich erst dann, das Zielpublikum zu erreichen, als man begann, das Wissen um die Ernährung und ihre Bestandteile zu «demokratisieren» und in die Schulbildung zu integrieren. Trotz all diesen Bestrebungen blieben soziale Unterschiede in der Ernährung bestehen.

Neben der rationellen Volksernährung kommt am Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Bewegung auf, die eine Veränderung der Ernährungs- und Lebensweise propagierte: die Lebensreformbewegung. Sie entsteht in den 1880er-Jahren und gehört im deutschsprachigen Raum zu den bekanntesten und einflussreichsten Reformbewegungen. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt auch der Erfinder des Müeslis, Maximilian O. Bircher-Benner (1867–1939).41 Die Lebensreformbewegung war in erster Linie eine Gesundheitsbewegung, die die Reform des Lebensstils und die Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise propagierte. Neben körperlicher Bewegung, Kaltwasserbaden und natürlichen Therapien gehörte auch die Ernährung zu den zentralen Programmpunkten. Je nach Ausrichtung umfasste sie einen reduzierten Fleischkonsum oder sogar den Verzicht auf Fleisch sowie den Verzehr von rohem und gekochtem Gemüse und allgemeiner Pflanzenkost, wie Nüssen, Obst und Beeren.

Trotz Fleischverzicht und Rohkost ist diese Ernährungsreformbewegung nicht mit der sogenannten Rohkostbewegung und dem Vegetarismus gleichzusetzen. Die Lebensreform unterschied sich gemäss Detlef Briesen insofern vom Vegetarismus, als sie den Ernährungsstil und den Fleischverzicht als ein Element der gesundheitlichen Prävention betrachtete und weniger als eine Lebensphilosophie mit ethisch-moralischen Überlegungen. Zudem ist sie, wie angesprochen, als Reaktion auf die entstehende urbane Industriegesellschaft zu sehen, in der sich die Menschen von ihrer natürlichen Lebensweise entfremdeten.42 Obwohl die Ernährungsreformbewegung bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand und bald schon zu einer Massenbewegung avancierte, erfuhr sie ihre grössten Erfolge erst, nachdem mit der Entdeckung der Vitamine um 1910 das bis dahin geltende Eiweissdogma widerlegt wurde und langsam an Bedeutung verlor.

Als Verbindung von rationeller Volksernährung und Ernährungsreformbewegung könnte die auf den bereits erwähnten deutschen Wissenschaftler Max Rubner zurückgehende gemischte Kost angesehen werden.43 Kurz vor seinem Tod (1932) veröffentlichte er eine Schrift,44 in der er zur «Rückkehr zur gemischten Kost» aufrief und sich gegen die einseitigen Lehren der unterschiedlichsten «Ernährungssekten»45 aussprach. Den Reformversuchen der «Kleiebewegung», «Proteinphobisten», Vegetarier, «Nährsalzsekten», «Fletscher-» und Rohkostbewegung wirft er vor, dass sie auf Missverständnissen oder ethischen Grundsätzen fussten, und manche gar gesundheitlichen Schaden oder wirtschaftliche Nachteile brächten. Auch bei der Vitaminlehre, die zwar noch keine Sekte hervorgebracht habe, mahnt er zur Zurückhaltung: «Im Volksglauben weiter Kreise sind die Vitamine zu Substanzen geworden, die allein über Leben und Gesundheit entscheiden.»46 Im Wesentlichen ist Rubners gemischte Kost eine auf Vernunft und Genuss basierende Symbiose aus der wissenschaftlichen Ernährungslehre und den Prinzipien verschiedener Ernährungsreformen. Bei seinen Ratschlägen und Ideen verliert insbesondere die Eiweisslehre zugunsten eines ausgewogenen Mischverhältnisses von Proteinen, Fetten, Kohlenhydraten, Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen an Bedeutung. Er sieht die Ernährung nicht mehr bloss rationell, sondern ruft dazu auf, die Gewohnheiten dem persönlichen Geschmack und Lebensstil anzupassen: «Wozu hat uns Gott so viele gute Sachen gegeben, wenn wir uns ihrer nicht bedienen sollen?», fragt er und fügt an: «In dem ‹Klub der Allesesser› sollen solche durch die Ernährungsfanatiker Eingeschüchterte wieder den Mut finden, sich zu nehmen, was ihnen schmeckt, während gleichzeitig aufklärende Vorträge über Ernährungswissenschaft ihnen die Furcht vor den etwaigen Folgen ihrer ‹Übertretungen› nehmen sollen.»47 Das Entscheidende dabei war die «gesunde Mischung».

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