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Von Birchers Müesli zu Kellogg’s Cornflakes: Reformen in Europa und den USA
ОглавлениеObwohl sich, wie oben skizziert, seit dem Industriezeitalter die Ernährungslage in Europa wesentlich verbessert hatte und dank landwirtschaftlicher Produktivitätssteigerung, leistungsfähigeren Verkehrsnetzen, neuen Produktionstechnologien, naturwissenschaftlichen Fortschritten und neuen Konservierungstechniken Versorgungsengpässe seltener wurden, war die Kost in Europa, aber auch in den USA bis ins 20. Jahrhundert hinein bei Weitem nicht immer ausreichend. Gerade bei den tieferen Schichten in den Städten konnte trotz Nahrungsmittelüberfluss eine Mangelernährung festgestellt werden, wobei unter Mangel nun nicht mehr primär das Fehlen von Nahrung, sondern insbesondere das Fehlen von Nahrungsbestandteilen gemeint war. Gerade in den USA, wo im Vergleich zu Europa seit je Nahrung in Fülle vorhanden war und wo es kaum zu Versorgungsengpässen kam,27 schlug sich dieses Phänomen ab 1912 in einem Begriffswechsel nieder: Aus under-fed wurde under-nourished oder malnourished.28
Auch in der Schweiz war eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, wobei hierzulande im Unterschied zu den Vereinigten Staaten kriegs- und krisenbedingte Versorgungsengpässe hinzukamen. Wie bei Schärer nachzulesen ist, zeigte die erste Ernährungsbilanz in der Schweiz von 1910, dass die Schweizer Bevölkerung vor dem Ersten Weltkrieg im Durchschnitt «grad ausreichend» ernährt war. Schärer schreibt: «Dies bedeutet, dass die Nahrung ärmerer Bevölkerungsschichten nicht immer genügte» beziehungsweise dass «gewisse Risikogruppen unter- und mangelernährt» waren.29
Die Mangel- und Fehlernährung breiter Bevölkerungsschichten war – wenn nicht durch Knappheit bedingt – häufig auf einseitige und ungesunde Essgewohnheiten und auch auf Fälschungen oder verminderte Qualität zurückzuführen. Dies rief verschiedene Ernährungsreformer auf den Plan. Meist aus der (gebildeten) Mittel- und Oberschicht stammend, kritisierten sie die Entfremdung von Natur und Nahrung und die (neue) Unkenntnis der Herkunft und der Produktion der täglichen Kost. Mit den unterschiedlichsten Konzepten und Theorien und nach den jeweils neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen versuchten sie die Ernährungsmuster der Massen und besonders der Unterschicht zu steuern und zu verbessern und das Wissen um eine ausgewogene Ernährung zu erweitern. Aufgrund der Diskrepanzen zwischen den Gesellschaftsschichten gelang dies allerdings nur selten im ersten Anlauf – weder in der Alten noch in der Neuen Welt.
Abb. 3: Maggi-Suppe statt Schnaps: Julius Maggi und Fridolin Schuler kreierten eines der ersten Convenience-Produkte, Werbeplakat von 1920.
Viele der Reformbewegungen im 19. Jahrhundert sind im Kontext der Hygiene- und Abstinenzbewegungen zu sehen, die auf die Mangel- und Fehlernährung – besonders der Unterschichten – ausgerichtet waren. Auch wenn die Hygiene und die Alkoholfrage nicht zu den primären Programmpunkten der Ernährungs- und Lebensreformen zählten, so wirkten sie sich immer mehr oder weniger ausgeprägt darauf aus. Denn sowohl Epidemien, die auf mangelnde Hygienemassnahmen zurückzuführen waren, als auch Alkoholismus stellten für die damalige Gesellschaft, die sich im Zuge der Industrialisierung rasant urbanisierte, ein echtes Problem dar. So gehörten nicht nur Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Typhus und Lungenentzündung zu den häufigsten Todesursachen, sondern auch die Folgen von Alkoholismus. Beides traf zumeist die Paupers der urbanen Industriegesellschaften am härtesten.30 Vor diesem Hintergrund scheint es wenig erstaunlich, dass eines der ersten und bedeutendsten Massenerzeugnisse der Nahrungsmittelindustrie sich der «Schnapsbekämpfung» verschrieb: Der nahrhafte und eiweissreiche Suppenwürfel von Fridolin Schuler (1832–1903) und Julius Maggi (1846–1912), der später unter dem Begriff «Maggi-Würfel» Karriere machen sollte, wurde als Alternative zu den leeren Kalorien des gebrannten Wassers propagiert.31 Das ursprünglich als Leguminosenmehl eingeführte Convenience-Produkt sollte die Ernährung der Arbeiterschaft durch schnelle Zubereitung und erschwingliche Preise mit den nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen wertvollen und notwendigen Proteinen anreichern. Doch der Erfolg blieb aus, wohl, weil der Geschmack ungewohnt war. Möglicherweise waren aber auch die Positionierung als «Volks- und Armennahrung» sowie die unattraktiven Papiertüten nicht zielführend. Erst als Julius Maggi um 1886 das eigentliche Suppenpulver aus Leguminosenmehl entwickelte, gelang der Durchbruch des Produkts. Die erste Fertigsuppe war erfunden.32