Читать книгу Ready to Eat - Eva von Wyl - Страница 11
Die Entstehung eigenständiger Ernährungskonzepte in den USA
ОглавлениеDer Blick über den Atlantik zeigt, dass auch hier die Forschung von Justus von Liebig zunächst auf sehr grosse Resonanz stiess. Die Ernährung der meisten Amerikaner war seit je stark auf Fleisch-, besonders auf Schweinefleischkonsum ausgerichtet. Während in Europa der Verzicht auf Fleisch aus unterschiedlichen Gründen erfolgte und etwas zugespitzt formuliert bis auf Pythagoras von Samos (570–510) zurückverfolgt werden kann,48 so galten Fleisch und besonders die guten Stücke davon in den USA als Statussymbol. Dies führte dazu, dass bis in die Unterschichten verhältnismässig viel Geld für Fleisch ausgegeben wurde. Eine Ausnahme bildeten religiöse Strömungen mit puritanisch-asketischer Lebensweise wie die Adventisten, die auf Initiative von Ellen G. White (1827–1915) jenes Kurhaus gründeten, das kurze Zeit später zu John Harvey Kelloggs (1852–1943) «Sanitarium» werde sollte.49
Liebigs Eiweisslehre war denn auch ein wichtiges Element der damals einflussreichsten amerikanischen Ernährungsreformbewegung, der «Neuen Ernährung» (New Nutrition). Sie entstand wie verschiedene andere Reformbewegungen (Hygienereform, Frauenemanzipation, Bildungsreformen, Alkoholprohibition) nach dem Sezessionskrieg, als sich die USA rapide zu industrialisieren begannen. Sie war die erste von drei Reformströmungen, die die amerikanischen Ernährungsgewohnheiten bis in die 1960er-Jahre hinein entscheidend prägten und die Grundlagen für die Entwicklung einer modernen, industrialisierten Massenkost darstellten. Die Neue Ernährung, die zwischen 1880 und 1915 anzusiedeln ist und anfänglich noch eng mit vier federführenden Persönlichkeiten und deren Überzeugung und Engagement verbunden war, bevor sie sich allmählich zu einer «amerikanischen» Lehre entwickelte, wurde mit der Entdeckung der Vitamine durch die Neuere Ernährung (1915–1930) abgelöst. Diese zeichnet sich durch eine straffe Verbindung von Nahrungsmittelindustrie, Ernährungswissenschaftlern und Werbefachleuten aus, die, unterstützt durch Medien, Schulen, Behörden und Kirchen, eine preiswerte, gesunde und standardisierte Massenernährung bezweckten. Entscheidende Triebkraft und grösster Nutzniesser war dabei die Industrie. Damit markiert die Neuere Ernährung den Beginn der modernen Massenernährung, wobei sie sich – wie der Name schon andeutet – direkt aus der Neuen Ernährung heraus entwickelte. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und im Zusammenhang mit der Grossen Depression entstand daraus schliesslich die moderne Ernährung (1930–1960), die die Massenproduktion und den Massenkonsum mit einer verwissenschaftlichten Ernährungs- und Präventionslehre verknüpfte und unter anderem ein flächendeckendes Diätfieber auslöste. In dieser Phase bildete sich auch jene Esskultur heraus, die sich durch Standardisierung und Vereinheitlichung auszeichnete und sich in Convenience food und Ready to eat meals niederschlug.50
Briesen zeigt anhand dieser drei Reformbewegungen auf, wie aus den ursprünglich europäischen Ernährungslehren und -paradigmen die modernen amerikanischen Essgewohnheiten entstanden und am Ende ihren Weg (zurück) nach Europa und danach in die ganze Welt fanden.51 Der Autor geht dabei von der These aus, dass sich nach 1900 «der Schwerpunkt des Wandels, welcher die europäische Esskultur betraf, zunehmend in die USA [verlagerte]».52 Die Gründe dafür sieht er in der Bedeutungszunahme der amerikanischen Wissenschaft und Forschung gegenüber der europäischen, in der Entstehung eigenständiger Reformbewegungen in den USA und schliesslich – ganz zentral – in den rapiden Veränderungen der Alltagskost durch die Industrialisierung in den USA. Im Zusammenspiel dieser drei Entwicklungen sei dann eben jene Ernährungsweise entstanden, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch als «internationaler Ernährungsstil» bezeichnet worden sei.53 Kaum Eingang findet bei Briesen dagegen die amerikanische Ausprägung der Lebensreform, die in John Harvey Kellogg ihren prominentesten Vertreter findet. Das mag vor allem daran liegen, dass sich der Vegetarier Kellogg ausserhalb beziehungsweise am Rand der von Briesen diskutierten Gesundheits- und Reformströmungen bewegt. Während sich in Europa die Lebensreform schnell zu einer Massenbewegung entwickelte, erreichte die Lebensreform in den USA im Rahmen der Abstinenz-, Vegetarismus- und Naturheilkundebewegung zwar beachtliche Verbreitung, doch nicht im gleichen Ausmass wie im deutschsprachigen Raum. Dennoch bleibt unbestritten, welch entscheidende Rolle die von den Gebrüdern Kellogg erfundenen Cornflakes bei der Entstehung der modernen amerikanischen Essgewohnheiten und überhaupt bei der Herausbildung der Nahrungsmittelindustrie gespielt hatten. Es ist daher unverzichtbar, zum Schluss dieses Kapitels wenigstens ansatzweise auf die Erfindung von Cornflakes und ihren Wandel von der Diätspeise zum modernen Frühstück in Form eines industriell produzierten Convenience food einzugehen.