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Vom Eiweissdogma zur «Vitamania»
ОглавлениеWährend also in Europa und besonders im deutschsprachigen Raum die Lebensreformbewegung ihren Anlauf nahm, entstand in den USA eine Ernährungsreformbewegung, die auf der Liebig’schen Eiweisslehre basierte und ähnlich wie die rationelle Volksernährung das Ziel verfolgte, die Ernährung der Bevölkerung zu verbessern. Überhaupt weist die Neue Ernährung eine grosse Ähnlichkeit mit der rationellen Volksernährung auf. Beide basierten auf einem rationellen, ökonomischen Grundsatz, nach dem mit möglichst kleinem (finanziellem) Aufwand möglichst viel (an Nährstoffen) herausgeholt werden soll, wobei in beiden Fällen ein «Top-Down-Prinzip» verfolgt wurde.54
Die Neue Ernährung entstand nach dem Sezessionskrieg, als die Industriestädte im Nordosten des Landes eine enorme Einwanderung – sowohl aus den südlichen Bundesstaaten als auch aus (Süd-)Europa – erfuhren. Ursprünglich war die Zielgruppe der Neuen Ernährung denn auch die Unterschicht in den Städten. Die Begründer der Neuen Ernährung waren Eduard Atkinson (1827–1905), Wilbur O. Atwater (1844–1907), Mary Hinman Abel (1850–1938) und Ellen S. Richards (1842–1911). Eduard Atkinson war ein typischer Selfmade-Geschäftsmann aus Boston und Mitglied der Demokratischen Partei. Er war davon überzeugt, dass man die Lage der Arbeiter nicht durch Erhöhung der Löhne, sondern durch eine gesunde und preiswerte Ernährung verbessern konnte. Aus diesem Grund nahm er Kontakt auf mit Wilbur Atwater, einem Chemiker der Wesleyan University in Connecticut, der zudem im Beirat des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sass und nachgewiesen hatte, dass die Arbeiter viel mehr für ihre Nahrung ausgaben, als tatsächlich notwendig war. Mary Hinman Abel machte in einem Aufsatzwettbewerb auf sich aufmerksam, indem sie, basierend auf den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Nahrungsbestandteile, forderte, dass sich die amerikanischen Hausfrauen ein Vorbild an den deutschen nehmen sollten, die statt teurem Fleisch preisgünstige Bohnen und billiges Fleisch verwendeten. Ellen Richards ihrerseits war eine bekannte Chemikerin und als erste Frau ans MIT berufen worden. Auch sie war davon überzeugt, dass man durch die Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Unterschicht Alternativen für gesundes, preiswertes und schmackhaftes Essen aufzeigen musste. Sie gehörte der Jury an, die Abel für ihren Aufsatz mit dem Lomb-Preis auszeichnete. Zwischen den beiden Frauen entstand eine jahrelange, intensive Zusammenarbeit, die durch Richards’ Beziehungen zu Atwater über das MIT zur Kooperation mit den beiden Männern führte.55 Bei ihren Überlegungen, die zur Neuen Ernährung führten, gingen sie von zwei Prämissen aus: 1. die amerikanische Unterschicht gibt rund die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus; 2. dieser Anteil ist deutlich höher, als es für eine ordentliche Ernährung nötig wäre. Dies wollten die vier Begründer ändern, und sie entwickelten eine Ernährungslehre, die sich stark an einem europäisch-deutschen Vorbild orientierte: Atwater, der mit den Arbeiten der deutschen Forscher rund um Liebig vertraut war, brachte die Vorstellung einer rationellen und auf die menschliche Physiologie ausgerichteten Ernährung ein, und Abel, die mit ihrem Mann, einem Pharmakologen, fünf Jahre in Deutschland und Österreich gelebt hatte, kannte die deutsche Küche und war überzeugt, dass sich die amerikanischen Hausfrauen ein Beispiel an ihr nehmen sollten. Zudem schienen ihr die deutschen «Volksküchen» nach Graf Rumford mit ihren preiswerten und nahrhaften Gerichten eine ideale Institution, um die Amerikaner mit der neuen Ernährungsweise bekannt zu machen.
Eine zentrale Stellung kam in Zusammenhang mit der sogenannten New England Kitchen dem von Atkinson im späten 19. Jahrhundert entwickelten Aladdin Oven zu. Weil sich die sparsame «Kochkiste» mit Bunsenbrenner-Prinzip jedoch nur langsam erhitzen liess, war ihre Verwendung eingeschränkt; doch sie eignete sich nahezu perfekt für die Zubereitung von Suppen und Eintöpfen. Gerichte also, die nicht nur typisch deutsch waren, sondern sich auch wunderbar mit Liebigs Vorschlag, statt teurem Fleisch billigeres und dafür grössere Stücke zu verwenden, vereinten. Allerdings fanden die Amerikaner wenig Gefallen an diesen ungewohnten Eintopfspeisen. Es habe sich bald gezeigt, dass diese unter wissenschaftlichen Aspekten und als Billigkost konzipierte Ernährung am Geschmack der Massen vorbeigezielt habe, fasst Briesen zusammen.56 Mehr noch: Statt der Unterschicht, die eine dringende Verbesserung ihrer Ernährung benötigte, begann sich die Mittelschicht für die Neue Ernährung zu interessieren. Deshalb setzte die Neue Ernährung von nun an auf die Mittelschicht, der sie gleichzeitig eine Vorbildrolle für die Unterschicht zuschrieb.
Entscheidend bei der Verbreitung der Neuen Ernährung war, dass es den Vertretern gelang, ihr Konzept im Rahmen der Hauswirtschaftslehre in die Bildung der Amerikanerinnen zu integrieren. Mit der Gründung der American Home Economics Association schufen Abel und Richards eine Institution, mit deren Hilfe das wissenschaftlich untermauerte Ernährungskonzept systematisch in die College-Ausbildung eingebunden werden konnte. Auch im Schulunterricht sowie in Koch- und Hausfrauenkursen fasste die Neue Ernährung Fuss, sodass noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zahlreiche junge Frauen die chemischen Bestandteile der Nahrungsmittel kannten und ein fundiertes Wissen über Fette, Proteine, Kohlenhydrate und andere Bestandteile der Ernährung hatten, das sie für eine bewusste Ernährung einsetzen konnten. Die Idee, die Volksernährung über staatliche Kanäle wie Schulen und Hauswirtschaftsunterricht auf wissenschaftlicher Basis zu beeinflussen, war natürlich nichts Amerikanisches. Ähnliche Bestrebungen sind auch bei der bereits diskutierten rationellen Volksernährung zu finden. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) hatte hierfür eigens eine Kommission ins Leben gerufen, die Spezialkommission für Förderung von Koch- und Haushaltungskursen. Diese rief insbesondere dazu auf, die Arbeiterfrauen hinsichtlich einer preisgünstigen, aber dennoch guten und rationellen Ernährung auszubilden.57 Wie Tanner aufzeigt, kamen auch aus politischen Kreisen ähnliche Forderungen. Der Zürcher Nationalrat Johann Jakob Schäppi forderte etwa neben einem praktischen auch einen wissenschaftlich-theoretischen Haushalt- und Kochunterricht für die Frauen, damit diese lernten, wie sich der Kostenwert zum Nährwert der Nahrung verhalte und wie viel Nährstoffe der menschliche Körper benötige.58
In Zusammenhang mit der Neuen Ernährung entwickelte sich in den USA aber auch zum ersten Mal eine eigenständige, von Europa unabhängige Ernährungsforschung. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das unter der Leitung von Atwater entwickelte Respirationskalorimeter, das im Bereich der Kalorienverbrauchsmessung einen grossen Fortschritt bedeutete. Mit diesem Gerät konnte aufgrund von Sauerstoffverbrauch und Kohlenstoffdioxidabgabewerten genau ermittelt werden, wie viel Energie die Versuchspersonen und -tiere aufnahmen und verbrauchten. Die Forschergruppe um Atwater untersuchte mit dem Respirationskalorimeter in über 300 Studien die Essgewohnheiten der unterschiedlichsten sozialen und ethnischen Gruppen im In- und Ausland und definierte hieraus gruppentypische Ernährungsmuster. Die aus den Untersuchungen gewonnen Erkenntnisse flossen wiederum in die Hauswirtschaftslehre ein.
Aus der Neuen Ernährung entwickelte sich in den darauffolgenden Jahrzehnten in den USA eine moderne, verwissenschaftlichte Massenkost, die kommerzialisiert und industrialisiert war, die aber auch den geltenden wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend die Anforderungen an eine gesunde, effiziente, preisgünstige und hygienische Ernährungsweise erfüllte. Beeinflusst durch die Neue Ernährung, reduzierte sich damit die amerikanische Alltagskost der Mittelschicht nach 1900 auf das nach «wissenschaftlichen Kriterien Notwendige».59
In den Jahrzehnten nach 1900 erfuhr die Neue Ernährung eine gewichtige Wende. Die bis anhin zentrale Eiweisslehre von Justus von Liebig geriet ins Wanken, beziehungsweise sie verlor an Bedeutung. Entscheidende Triebkraft für diesen Paradigmenwechsel war in den USA zum einen Horace Fletcher (1849–1919), der seiner Kautheorie wegen auch den Übernamen The Great Masticator trug. Seine Theorie des «Filterorgans» in der Mundhöhle ist zwar zur Sparte der Pseudowissenschaften zu zählen, doch die daraus resultierende Empfehlung, Nahrungsmittel so lange zu kauen, bis sie geschmacklos sind, hatte eine wichtige Nebenwirkung: die Reduktion der Nahrungsmenge. Zusammen mit Russel H. Chittenden (1856–1943), einem Physiologen der Yale University, setzte sich Fletcher für kleinere Nahrungsmengen sowie für die Reduktion von tierischen Proteinen und Fetten zur Gesundheitsförderung ein. Die beiden hatten erkannt, dass nicht nur die Mangelernährung im Sinn von Unterernährung, sondern auch ein Übermass an Nahrung ungesund sein kann. Im deutschen Sprachraum nannte man Fletchers Kautheorie auch «Fletschern», von Fletcherizing. Grosse Bedeutung erlangte sie allerdings nicht.60
Zum anderen wurden mit der Entdeckung der Vitamine sowie etwas später der Spurenelemente und Mineralien neue wichtige Bestandteile der Nahrung bekannt, die das Verständnis für eine ausgewogene Ernährung noch einmal grundlegend veränderten und dem Begriff «Mangel» eine ganz neue Dimension verliehen. «Mangel» bedeute nun nicht mehr nur «zu wenig», «Mangel» meinte nun das Fehlen bestimmter Substanzen. Die Vitaminforschung hatte gezeigt, dass auch der Mangel an bestimmten Substanzen eine Ursache für Krankheit sein konnte: Vitamin-A-Mangel wurde als Ursache für Sehschwäche erkannt, Vitamin-B-Mangel für die Krankheit Beriberi, fehlendes Vitamin C für Skorbut, zu wenig Vitamin D für Rachitis.61 Als ab den 1930er-Jahren die künstlich hergestellten Vitamine schliesslich erschwinglich wurden, resultierte daraus eine richtige Vitamin-Manie oder «Vitamania».62 Mit der bewussten Einnahme von Vitaminen wollte die amerikanische Mittel- und Oberschicht nicht nur ihre Gesundheit verbessern, sondern auch Krankheiten vorbeugen. Damit verschoben sich in der Ernährungsdebatte die Prinzipien in zweierlei Hinsicht von Wirtschaftlichkeit zu Gesundheit: zuerst, indem erkannt wurde, dass sich auch ein Übermass negativ auf die Gesundheit auswirken kann, und anschliessend bei einer Neudefinition von «Mangel-Ernährung», bei der nicht mehr das Zuwenig an sich, sondern mangelnde Ausgewogenheit eine Rolle spielt. Beide Erkenntnisse gingen mit einem Bedeutungsverlust des Eiweissdogmas einher und markieren so den Übergang von der Neuen zur Neueren Ernährung.
Bevor das Konzept der Neuen Ernährung jedoch seine Bedeutung ganz verlor, verlieh ihm der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nochmals Aufwind. Grund dafür war erstens die Gründung der USFA, der US Food Administration, im Jahr 1917, mit der die Lehre der Neuen Ernährung ab Kriegseintritt staatlich gefördert wurde. Ziel war, die US-Bevölkerung sowohl zu einer kriegswirtschaftlich relevanten als auch zu einer gesunden Ernährung anzuhalten. Allerdings muss hier festgehalten werden, dass die USA nie ernsthaft Rationalisierungsmassnahmen umsetzen mussten, wie dies in Europa der Fall war. Die Bevölkerung war lediglich zur freiwilligen Einschränkung bei Weissmehl, Fleisch, Zucker und Butter aufgerufen.63
Der zweite Grund waren zwei Prämissen der Neuen Ernährung, die zur selben Zeit durch neue Forschungsarbeiten Aufwind bekamen. Die erste der beiden Prämissen behauptete, dass die Mehrheit der Arbeiterfamilien unterernährt sei. Die Behauptung beruhte auf den Berechnungen von Frank Underhill, einem Assistenzprofessor in Chittendens Labor, die auf den bereits überholten und viel zu hohen Standards von Atwater beruhten. Diese Feststellung, die bald auf die gesamte Bevölkerung übertragen wurde, löste zusammen mit einer kurzzeitigen Verknappung der Nahrungsmittelversorgung zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine breite Angst vor Fehl- und Unterernährung aus und leitete in der Zwischenkriegszeit zur erwähnten Vitamania über. Die zweite Überzeugung der Neuen Ernährung, dass es bei einer gesunden Ernährung nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität des Essens ankomme, endete im Argument, dass die Fehl- und Unterernährung nicht primär auf die tiefen Löhne zurückzuführen sei, sondern auf mangelndes Ernährungswissen. Diese vor allem von bürgerlichen Kreisen vertretene Theorie fand nun zunehmend auch bei den Sozialarbeitern Anerkennung und führte zum eingangs erwähnten Begriffswechsel von under-fed zu malnourished. Gleichzeitig rückte in diesem Zusammenhang die Schulspeisung ins Zentrum der Bemühungen. Nach den Prinzipien der Neuen Ernährung sah man in ihr eine Chance, Gegensteuer zu den Auswirkungen der Mangelkost, die die Kinder zu Hause von ihren unwissenden Müttern erhielten, zu geben.64