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Ernährung im Zeitalter von Massenkonsum und American way of life
ОглавлениеNach dem Zweiten Weltkrieg verändern sich die Essgewohnheiten in der Schweiz spürbar. Nach beinahe vier Jahrzehnten des krisen- und kriegsgeprägten Verzichts und Mangels, in denen Lebensmittel rationiert und die Auswahlmöglichkeiten beschränkt waren, öffneten sich nun die Türen in eine neue Zeit, die sich in den USA bereits in den 1930er-Jahren ankündigte und den Beginn der modernen Konsumkultur markierte. In den zwei Prosperitätsdekaden nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich nun auch in Europa eine Kultur des Massenkonsums heraus, die sich zunehmend an einem amerikanischen Leitbild orientierte. Die damit einhergehende neue Wegwerfmentalität, aber auch die Freizeitkultur und die schnelllebigen Modeströmungen schlugen sich nicht zuletzt auch in den Essgewohnheiten nieder.
Während also die amerikanischen Ernährungsgewohnheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert noch stark von den Traditionen und Lehren der Alten Welt geprägt und beeinflusst waren, so greift die moderne Ernährung in der Nachkriegszeit nun auf Europa über und konfrontiert die Menschen mit neuen Produkten, neuen Herstellungsverfahren und Vertriebsmethoden, aber auch mit neuen Zubereitungsarten und Essgewohnheiten, die ganz im Zeichen von Rationalisierung und Convenience stehen und im weitesten Sinne zu einem Bestandteil des American way of life wurden. Der amerikanische Lebensstil übte in der Nachkriegszeit auf viele Europäer eine grosse Anziehungskraft aus und stellte das Mass aller Dinge dar, denn er stand für Wohlstand, Überfluss und Fortschritt. Es erstaunt deshalb wenig, dass viele Firmen in den USA nach neuen Ideen suchten und sich von amerikanischen Produkten wie Cornflakes, Pommes-Chips und Cola sowie der Effizienz der Verarbeitung und Distribution inspirieren liessen.119
Entscheidend für die moderne Konsumgesellschaft war aber auch die mit dem Wirtschaftsaufschwung zusammenhängende Kaufkraftsteigerung.120 Erst das Vorhandensein von finanziellen «Überschüssen» ermöglichte überhaupt eine Veränderung der Ausgabestruktur, bei der die Menschen Geld für Güter und Nahrungsmittel ausgeben konnten, die den lebensnotwendigen Bedarf überschritten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts machte die Nahrung den Hauptteil der Ausgaben einer durchschnittlichen Familie aus. Aber auch ein bürgerlicher Haushalt gab in der Schweiz im 19. Jahrhundert rund die Hälfte des Einkommens für Nahrungsmittel aus, tiefere Einkommensschichten wendeten bis zu drei Viertel der Einnahmen für Lebensmittel auf. Durch die seit der Jahrhundertwende steigenden Reallöhne sowie die aufkommende Lebens- und Genussmittelindustrie sanken die Ausgaben Anfang des 20. Jahrhunderts, sodass das Bürgertum noch rund einen Drittel seines Einkommens für Nahrung ausgab und die tieferen Schichten noch rund die Hälfte.121
Nach dem Zweiten Weltkrieg sanken schliesslich auch bei den durchschnittlichen Familien die Ausgaben für Lebensmittel. Zum ersten Mal war die Nahrung nun auch für tiefere Einkommensschichten im Überfluss und in bisher unbekannter Vielfalt vorhanden. Rohstoffe und Lebensmittel konnten zu günstigen Preisen aus allen Ecken der Welt importiert werden, und die blühende Lebensmittelindustrie trug dazu bei, dass immer billigere Nahrungsmittel auf den Markt kamen. Durch die unter anderem deshalb frappant ansteigenden Reallöhne sank auch der prozentuale Anteil an Ausgaben für Nahrungsmittel über alle Einkommensschichten hinweg von 37 Prozent (1944) auf 13 Prozent (1978).122 Allerdings muss betont werden, dass dieser Prozentsatz gemäss dem Engel’schen Gesetz, nach dem der Anteil an Nahrungsausgaben umso grösser ausfällt, je kleiner das Einkommen ist, entsprechend auch sehr unterschiedlich hoch sein konnte. Dennoch: Verglichen mit den 75 Prozent, die tiefere Einkommensschichten im 19. Jahrhundert für Nahrungsmittel ausgaben, bedeutet dies einen Rückgang auf einen Fünftel. Das hieraus entstehende Vakuum wird im gleichen Zeitraum etwa mit steigenden Ausgaben für Steuern, Gebühren und Versicherungen, aber auch für Bildung und Erholung sowie für Verkehr und Reisen gefüllt – Budgetposten, die ebenfalls als Indiz für das angebrochene Konsumzeitalter interpretiert werden können.123
Obwohl der Anteil der Lebensmittelkosten an den Gesamtausgaben während der Ära des «Wirtschaftswunders» immer weniger ins Gewicht fiel, so fällt auf, dass verschiedene bis dahin als Luxusprodukte klassifizierte Lebensmittel nun zur Standardernährung breiter Bevölkerungsschichten wurden. Ein Beispiel für eine solche Transformation vom Luxusgut zur Alltagskost ist die Orange. Sie steht in Zusammenhang mit einer allgemeinen Zunahme des Verzehrs von Obst und Gemüse und ist einerseits auf die gestiegene Kaufkraft zurückzuführen und andererseits – ähnlich wie in den USA – auf ein stärkeres Bewusstsein für vitaminreiche Kost. So wandelte sich die vorwiegend aus Italien und Spanien importierte Frucht im Verlauf der 1950er-Jahre von einem Luxusgut zu einer «allgemeinen Vitaminspenderin».124
Ein weiteres Merkmal der modernen Essgewohnheiten sowohl in der Neuen wie auch in der Alten Welt ist die Verbreitung von Convenience food in Form von Konserven und Tiefkühlprodukten. Gerade Tiefkühlprodukte setzten aber einen hohen technischen Aufwand voraus, der der Verbreitung in Europa zu Beginn enge Grenzen setzte. Die Rede ist hier von der Einhaltung einer geschlossenen Kühlkette, die vom Produzenten über den Verteiler bis hin zu den Haushalten eine ununterbrochene Kühlung von minus 20 Grad Celsius ermöglichte.125 Federführend waren in dieser Hinsicht die USA. Als die Vorzüge des Einfrierens als Konservierungsmethode erst einmal entdeckt waren und Lebensmittel nicht mehr erst kurz vor der Ungeniessbarkeit eingefroren wurden, entwickelte sich in den USA bald ein nationales «Kühlkettennetz», das es erlaubte, die verschiedenen Zentren der Lebensmittelproduktion mit den bevölkerungsreichen Gebieten zu verbinden. Früchte und Gemüse stammten aus dem Süden und dem Westen, Fleisch kam aus dem Mittleren Westen, und die Verbrauchszentren lagen im Osten. Bereits in der Zwischenkriegszeit verfügten zahlreiche Haushalte über Kühlschränke und bald schon über Gefriertruhen.126
In Europa liess dieser Trend jedoch auf sich warten. Zunächst ermöglichte der Kühlschrank erstmals, dass leicht verderbliche Ware wie Milch, Joghurt, frisches Fleisch und Fisch überhaupt auf «Vorrat» gekauft werden konnte. Eine wichtige Erkenntnis dabei ist, dass die Kühltechnik nicht in erster Linie die Essgewohnheiten veränderte, sondern vielmehr die Einkaufsgewohnheiten.127 Denn der tägliche und manchmal sogar täglich mehrmalige Einkauf bei den verschiedenen Lebensmittelgeschäften wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend von einem wöchentlichen Grosseinkauf im Supermarkt abgelöst.
Tiefkühlprodukte wurden hierzulande verhältnismässig spät zum Massenkonsumgut. Zwar waren seit 1942 die ersten Nahrungsmittel in Tiefkühlqualität erhältlich,128 den Durchbruch schafften sie aber erst in den 1960er-Jahren. Dies war vor allem auf den hohen technischen Aufwand beim Erhalt der Kühlkette zurückzuführen. Eine Bedingung, die gerade in den privaten Haushalten erst allmählich erfüllt werden konnte. In Tiefkühlqualität wurden zunächst Fisch, aber auch Gemüse, Obst und Glacen angeboten. Bald schon waren jedoch auch verschiedene Fertiggerichte wie Pizza und Fischstäbchen im Angebot. Mit der Tiefkühltechnik wurde die Abhängigkeit von Jahreszeiten und regionalen Bedingungen endgültig aufgehoben. Frische Produkte waren nun ganzjährig erhältlich. Interessant ist, dass bei dieser Technik für einmal nicht die Städte die Vorreiter waren, sondern die Landbevölkerung, die bereits in den 1950er-Jahren in Gemeinschaftsgefrieranlagen das Tiefkühlen als Konservierungsmethode für sich entdeckte. Hier konnte sie die Ernte lagern und das Fleisch aufbewahren.129
Wie Arne Andersen aufzeigt, war die Vervielfältigung des Warenangebots im Bereich der Lebensmittel in Zusammenhang mit der zunehmenden Globalisierung immens. Während beispielsweise das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit in seiner Studie zum Landesindex der Konsumentenpreise im Jahr 1950 fünf verschiedene Obstsorten (Äpfel süss und sauer, Tafel- und Kochbirnen sowie Kirschen) in die Berechnungen miteinbezieht (der übrige Obstkonsum sei unbedeutend), so sind es 1977 bereits 22 verschiedene, darunter insbesondere verschiedene Südfrüchte. Beim Gemüse verhält es sich ähnlich: 1950 besteht die Berechnungsgrundlage in weissen und gelben Bohnen, Spinat, Weisskabis, Karotten, Zwiebeln und Kopfsalat, 1977 kommen rund 20 weitere dazu.130 Auch anhand anderer Beispiele lässt sich zeigen, wie die Auswahl zu einem Merkmal der modernen Ernährung geworden ist, etwa beim Sortiment im Einkaufsladen: Nicht nur weisen moderne Supermärkte ein viel grösseres Angebot an Produkten auf als etwa ein kleiner, traditioneller Quartier- oder Dorfladen, bei dem die Lebensmittel noch vor Ort durch eine Bedienung abgewogen und verkauft wurden. Auch innerhalb einer Produktgruppe hat durch zahlreiche Markenprodukte eine Differenzierung und Erweiterung des Sortiments stattgefunden. Hinzu kommen zahlreiche Industrieprodukte wie Konserven, die vorerst als Luxusprodukte verkauft wurden und erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem eigentlichen Massenprodukt werden.
Allgemein lässt sich festhalten, dass sich in den 1950er- und 1960er-Jahren vor dem Hintergrund der steigenden Kaufkraft und der Wohlstandsdemokratisierung die Konsumpräferenzen der westeuropäischen Bevölkerung allgemein und der Schweizerinnen und Schweizer im Besonderen zugunsten hochpreisiger sowie produktions- und transportaufwendigerer Produkte verschoben haben. Der Verzehr von preiswerten, stärkehaltigen Nahrungsmitteln wie Mehl- und Getreideprodukten sowie Kartoffeln sank. Stattdessen wurden nun mehr Fleischerzeugnisse, aber auch Käse, Schokolade und Südfrüchte konsumiert131 – zumeist in verpackungsintensiver Form.
Dieser Präferenzwandel bestätigt sich, wenn man durch die Illustrierten der damaligen Zeit blättert: Belegte Brötchen werden nun genauso aktuell wie liebevoll mit Cornichons, Spargeln, Silberzwiebeln und Eiern dekorierte kalte Platten, Toast Hawaii, Riz Casimir und ähnlich exotisch klingende Gerichte. Für festliche Menüs schlägt die Annabelle ihren Leserinnen etwa «falsche Austern» aus Kalbsmilke und Kalbshirn, einen Mixed grill mit halbierten Tomaten, Kalbs- und Schweinefilet, Hammelkoteletts, Rindsfiletsteaks und Chipolatawürstchen und einen «Diplomatenpudding» vor. Eine andere Variante wäre auch Hammelrücken mit Sellerie-Apfel-Salat, garniert mit Eier- und Tomatenscheiben und zum Dessert Ananas nach Russenart. Für die Kinder soll es eine «verzierte Sulze» mit Cornichonsfächern, Sardellenröllchen, Spargelspitzen, Krebsschwänzen und Eierscheiben geben, dazu einen «Amerikanischen Salat» mit Ananas aus der Büchse, Feigen, Datteln und Traubenbeeren.132
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden darüber hinaus Nahrungsmittelimporte aus der ganzen Welt immer bedeutsamer. Besonders beim Obst spielten die Importe, insbesondere aus Übersee, eine grosse Rolle. 1977 stammten sogar schon bis zu zwei Drittel des verzehr ten Obsts aus dem Ausland.133 Mit der Zunahme der globalen Früchteversorgung, so stellt Wolfgang König fest, war aber eine Reduktion des heimischen Sortenangebots verbunden. In Deutschland zum Beispiel schrumpfte die Zahl der Apfelsorten im Lauf eines Jahrhunderts von rund 1000 auf gerade mal 10.134 Dieser Entwicklung wird seit einigen Jahren jedoch vermehrt wieder entgegengewirkt. Stiftungen und Labels wie ProSpecieRara haben sich zum Ziel gesetzt, traditionelle, lokale Sorten von Kulturpflanzen (und Nutztieren) vor dem Aussterben zu bewahren und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Aufwind erfahren sie unter anderem durch Partnerschaften mit Grossverteilern.135
Auch beim Diskurs über die «richtige» Volksernährung ist in der Nachkriegszeit ein Richtungswechsel festzustellen. Wie in den USA wurden die Debatten nun nicht mehr primär von Ernährungsreformern und -wissenschaftlern geführt, sondern zunehmend auch durch die Industrie bestimmt. Ferner ist festzustellen, dass sich auch im deutschsprachigen Raum eine Veränderung des Sprachgebrauchs in Bezug auf unzureichende Ernährung bemerkbar macht. Statt von Unterernährung und Unterversorgung spricht man nun von Über- und Fehlernährung.136 Daraus lässt sich schliessen, dass nun, vor dem Hintergrund des Prosperitäts- und Überflusszeitalters, nicht mehr die Nahrungsmittelversorgung an sich als relevant erachtet wird, sondern vielmehr die Qualität und Ausgewogenheit der Ernährung. Anders ausgedrückt: Nicht mehr die Unterernährung aufgrund fehlender Nahrung wird jetzt als gesundheitliches Problem erkannt, sondern zunehmend auch die Über- und Fehlernährung. Albert Wirz bringt diesen Wandel auf den Punkt: «Die Wonnen des Wohlstands und die Sorgen des Masshaltens haben die Gefahren des Mangels abgelöst.»137
Der kritische Diskurs über Ernährung und Überfluss setzte bereits kurz nach Kriegsende ein. Ausdrücke wie «Überfütterung», «Ernährungssünden», «zu gute Ernährung» sowie «falsche Ernährung» fanden Eingang in die ernährungswissenschaftliche Debatte.138 Neu am Diskurs über die Volksernährung war auch, dass er im Unterschied zu früher nicht mehr primär auf die Ernährungsweise bestimmter Gesellschaftsschichten (etwa der Unter- und Arbeiterschicht) ausgerichtet war, sondern sich an ein sehr viel breiteres Publikum richtete. Denn, so begründet Tanner, «die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit war eine Gesellschaft des kollektiven sozialen Aufstiegs».139
Doch obwohl sich der wissenschaftliche Diskurs über die Risiken der Über- und Fehlernährung im Verlauf der 1950er-Jahre zu einem politischen und öffentlichen Diskurs ausdehnte, zeigte er insgesamt kaum Auswirkungen auf die Essgewohnheiten der Gesamtbevölkerung.140 Lag dies daran, dass die Notwendigkeit zur Veränderung der Essmuster angesichts der Abwesenheit von (bisher dominierenden Problemen) Hunger und existenzbedrohendem Mangel schlicht zu gering erschien? Oder hängt es damit zusammen, dass die Menschen die neu gewonnenen Konsummöglichkeiten nicht wieder aufgeben wollten? Womöglich liegen die Gründe irgendwo dazwischen.
Die beschriebene, neue internationale Verflechtung und die zunehmende (Ferien-)Mobilität der Bevölkerung brachten auch Globalisierung und Internationalisierung der Essgewohnheiten mit sich, die hierzulande zunächst insbesondere als «Amerikanisierung» empfunden wurden. Die USA, die bereits in der Zwischenkriegszeit zu einer Wohlstandsund Konsumgesellschaft heranwuchsen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer «Chiffre für die Moderne», die es nachzuahmen galt. Zudem witterten die Amerikaner auf dem europäischen Kontinent auch eine gewichtige Chance für die Absatzerweiterung, die durch den Marshallplan auch staatlich gefördert wurde. Beides führte dazu, dass sich die schweizerischen Essgewohnheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr dem amerikanischen Ernährungsstil annäherten.