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Kellogg erfindet das Frühstück neu
ОглавлениеEines der prominentesten Beispiele für die assimilierten amerikanischen Essgewohnheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Kellogg’s Cornflakes. Zunächst als «Lebensreformkost» amerikanischer Ausprägung entwickelt,105 werden sie nach der Jahrhundertwende zu einem erfolgreichen Massenprodukt, das – ähnlich wie die Konserve bei der Entstehung der Nahrungsmittelindustrie – zu einem «Konzentrat» der Neueren Ernährung wird und das Frühstück der Amerikaner komplett neu erfindet: Statt der traditionellen, gekochten Mahlzeit mit Oatmeal (Getreidebrei), gebratenem Speck und Brot setzen sich um die Jahrhundertwende zunehmend kalte Frühstückscerealien durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg erobert die «Cerealien-Kultur» schliesslich Europa – naturgemäss zuerst England –, wo sie in eine eigentliche «Frühstücks-Revolution» mündete.106
Abb. 4: Kellogg’s Cornflakes – Lebensreformkost nach amerikanischer Art. Für die Schweiz wurden sie in den 1950er-Jahren von der Getreideflocken AG in Lenzburg unter Lizenz hergestellt, Plakat von 1974.
Die Geschichte von Cornflakes beginnt in den 1890er-Jahren in Battle Creek, einer Kleinstadt im Bundesstaat Michigan. In seinem ursprünglich als Kurhaus für die Mitglieder der Adventistischen Freikirche107 gegründeten «Sanitarium» experimentierte John Harvey Kellogg (1852 bis 1943) mit seinem Bruder Willliam Keith (1860–1951) mit neuen Nahrungsmittelkreationen, die zum Ziel hatten, die Verdauungsorgane vor der Überlastung zu schützen und so «Darmfäulnis» zu verhindern. So entstanden mehr oder weniger zufällig auch Cornflakes.108 John Harvey Kellogg war der Ansicht, dass jedes Lebensmittel seine eigene «Durchlaufzeit» im Verdauungssystem habe. Er war überzeugt, dass die Amerikaner nicht nur das Falsche assen, sondern auch viel zu viel und viel zu eilig. Daher propagierte er eine Art «taylorisierte Verdauung», die bereits beim Kochen und Kauen beginnt. Im Zentrum seiner Überlegungen stand eine Ernährung, die gesund und effizient sein sollte. Dies schlug sich auch in den Lebensmitteln nieder. In den Worten von Albert Wirz zeigte sich dies folgendermassen: «Allen Neuschöpfungen aus Battle Creek gemeinsam war, dass sie ‹vorverdaut›, haltbar, stets gleich in Zusammensetzung und Qualität und einfach zuzubereiten waren, ready to serve, kaum gekauft schon auf dem Tisch und, hopp, verschlungen.»109 Wichtig war dabei die «Vorverdauung», sprich eine verdauungsfreundliche Vorverarbeitung der Lebensmittel, die die Durchlaufzeit in Magen und Darm verkürzte und verhinderte, dass die Nahrung im Verdauungstrakt verfaulte. Die von Kellogg entwickelten Produkte enthielten deshalb hauptsächlich Getreide und Nüsse, woraus sich über 80 Neukreationen ergaben. Die bekanntesten sind Cornflakes und Erdnussbutter. Daneben gibt es zahlreiche weitere, die teilweise eigenartige, beinahe kindlich wirkende Fantasienamen trugen: Bromose, Nuttose, Noko, Koko – um nur wenige zu nennen.110
Kellogg, der wie die europäischen Lebens- und Ernährungsreformer wenig von Fleisch als Nahrungsmittel hielt, erfand auch ein Fleisch-Ersatzprodukt, die Protose. Dieses «vegetabile Fleisch» sehe aus wie Fleisch, schmecke wie Fleisch, habe dieselbe Zusammensetzung und sogar Fasern wie Fleisch, hiess es. Man konnte es zum Beispiel als Braten kaufen und in verschiedenen Geschmacksrichtungen: L-Protose entsprach Kalbfleisch, X-Protose Pouletfleisch, und die Savory-Protose enthielt mehr Würze. Der einzige Unterschied zum Original: Es war «nahrhafter, leichter verdaulich und ‹völlig rein›», weil aus Nüssen und Getreide hergestellt.111 Fleisch war für den Adventisten und Arzt John Harvey Kellogg nicht nur «unrein», es war sogar gefährlich: zum einen, weil das Eiweiss im Dickdarm faulen würde, zum anderen, weil es «Spuren des Todes» enthalte. Diese zweite Begründung ist vielschichtig und ist auch in Zusammenhang mit der damals noch problematischen Haltbarkeit von Frischfleisch sowie Kelloggs Nähe zur Hygienebewegung zu sehen. Kellogg warnte vor den zahlreichen Bakterien, Keimen, Parasiten und «Leichengiften» im Fleisch.112
Dass Kellogg einen Fleischersatz herstellte, macht jedoch deutlich, welch zentrale Rolle Fleisch in der amerikanischen Ernährung spielte. Nicht nur verdankte es seinen hohen Stellenwert bis zum «Vitaminturn» der Liebig’schen Eiweisslehre, es galt in der überflussverwöhnten amerikanischen Gesellschaft auch als Statussymbol. Besonders Schweinefleisch wurde in rauen Mengen verzehrt.113 Diesem Fleischparadigma konnte sich auch der Vegetarier Kellogg nicht widersetzen. Im Gegenteil. Wie Wirz feststellt, hätten sich die Produkte von Kellogg letztlich an dem gemessen, was dessen Überzeugung verboten habe – und damit die Bedeutung des Abgelehnten indirekt und ungewollt bestärkt.114
Auch andere Nahrungsmittel hatten bei Kellogg wenig Verwendung – Gemüse zum Beispiel. Auf Gemüse konnte man aus seiner Sicht (und der vieler Zeitgenossen) nicht nur problemlos verzichten, er warnte gar vor rohem Gemüse. Früchte dagegen dienten in seinen Augen vor allem zum Abführen und sollten in jedem Fall sterilisiert werden. Überhaupt war er der Meinung, dass man Nahrung am besten sterilisiere, um die Keime und Mikroben zu töten. In diesem Punkt unterschied er sich deutlich von seinen europäischen Kollegen, die Saft- und Rohkostkuren und frische Nahrungsmittel empfahlen. Erst mit der Entdeckung der Vitamine erkannte auch Kellogg den Wert von (rohem) Gemüse und Früchten.115
Zwar setzte auch Kellogg seit je auf «natürliche Nahrung», doch hatte «Natürlichkeit» bei ihm eine ganz andere Bedeutung als bei seinesgleichen in Europa. Sie bezog sich in erster Linie auf die Rohstoffe der Nahrung, nicht auf den Zustand, in dem diese konsumiert wurden. Er legte weniger Wert auf die Frische von Gemüse, Früchten und Nüssen als auf eine gut verdaubare Vorverarbeitung. Damit ist eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen der europäischen und der amerikanischen Ausprägung der Lebensreform angesprochen: «Der Zürcher Ernährungsreformer wollte die Nahrung so naturbelassen wie möglich, sein Kollege in Battle Creek hingegen entwickelte sich zu einem Pionier der Foodindustrie», schreibt Wirz.116
Weder Bircher-Benner noch Kellogg waren jedoch an der Massenproduktion ihrer Frühstücksflocken direkt beteiligt. Im Fall von Kellogg war es in erster Linie dessen Bruder, der den Cornflakes zum Durchbruch verhalf, indem er ihnen Zucker zufügte und nur noch den Kern statt des ganzen Maiskorns verwendete. Das als Diätkost konzipierte Nahrungsmittel wurde somit zu einem Produkt, das den nun anbrechenden Zeitgeist der Neueren Ernährung in mannigfacher Hinsicht widerspiegelte: Es wurde zu einem typischen Industrieprodukt, das entsprechend den vorherrschenden wissenschaftlichen Überzeugungen von Herstellern wie Vertretern der Neueren Ernährung als gesund verkauft wurde. Gesund nicht nur seiner Inhaltsstoffe wegen, sondern auch, weil die Cornflakes dem Anschein nach sauber und keimfrei verpackt waren. Der hohe Anteil an Zucker wird dabei bis heute erfolgreich ignoriert. Cornflakes eigneten sich aber nicht nur für eine ausgewogene Ernährung, sie versprachen durch ihre Ready-to-eat-Eigenschaft auch Zeitgewinn und Geldersparnis. Darüber hinaus waren diese Frühstücksflocken lange haltbar und von gleichbleibender Qualität – ein typisches Markenprodukt, das sich schon seines Namens wegen verkaufte: Kellogg’s Cornflakes. William Keith Kellogg verstand es gut, sich den gesellschaftlichen Wandel für die Vermarktung seines Produkts zunutze zu machen. Gesundheit wurde in der Werbung mit Genuss verknüpft, und das zunehmende Bewusstsein für Gesundheit und Fitness sowie die immer knapper werdende Zeit für Küchenarbeit waren die idealen Voraussetzungen, um das Bedürfnis nach dem «Sonnenschein-Frühstück» zu wecken und zu steigern.117
Im Sinn von John Harvey Kellogg war diese Entwicklung gewiss nicht. Obwohl nach der Jahrhundertwende die Cerealienhersteller wie Pilze aus dem Boden schossen und offensichtlich genau den Geist der Zeit trafen, gefiel ihm nicht, wie sein Bruder mit den neuen Cornflakes die Prinzipien seiner Ernährungsreform mit Füssen trat. Die beiden Brüder verkrachten sich und prozessierten über Jahre hinweg.118