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Ernährung im Banne der Industrie
ОглавлениеDer Übergang von der Neuen zur Neueren Ernährung wird vor allem beim Bedeutungszuwachs der Nahrungsmittelindustrie deutlich, und zwar in mehrfacher Hinsicht:65 Erstens erfährt die amerikanische Nahrungsmittelindustrie nach 1905 eine «Nationalisierung». Das heisst, die bisher lokal oder regional organisierten Märkte werden nun zu einem landesweiten, nationalen Markt, der von Grosskonzernen bedient wird. Briesen zufolge ist diese Entwicklung in Zusammenhang mit zwei Phänomenen im Kontext neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sehen. Zum einen beeinflusste die Vitaminforschung das Bewusstsein für eine ausgewogene, gesunde Ernährung; zum anderen zog sie eine staatliche Förderung von Milch, Käse, Obst und Gemüse nach sich. Beides liess den nationalen Konsum dieser Nahrungsmittel bedeutend ansteigen. Dieser gesteigerte Bedarf an vitaminhaltigen Nahrungsmitteln konnte nur gedeckt werden, indem die Produktion und der Vertrieb statt von lokalen Bauern und Händlern nun von landesweit agierenden Grosskonzernen und Genossenschaften übernommen wurden.66
Die damit verbundene Anonymisierung begünstigte zweitens das Prinzip des Markenartikels sowie dessen Vermarktung. Das Aufkommen von Lebensmittelwerbung fällt gleichzeitig mit der Ausdifferenzierung der Nahrungsmittelindustrie zusammen. Gerade weil die amerikanische Gesellschaft im Prinzip mehr als ausreichend mit Nahrung versorgt war, mussten für die ständig neuen Lebensmittelkreationen auch entsprechende Absatzmärkte geschaffen werden, und dies erreichte man, indem man die Essgewohnheiten der Bevölkerung veränderte und neue Bedürfnisse schuf. Die Industrie merkte bald, dass sich gerade die Vitamine und die Gesundheit hervorragend als Argumente für die Werbung eigneten.67 Denn weil bis in die 1930er-Jahre hinein weder bestimmt werden konnte, wie hoch der Vitamingehalt in den einzelnen Lebensmitteln war, noch welche Vitaminmengen der Mensch überhaupt brauchte, konnten die Produzenten im Prinzip alles behaupten, was sie wollten.68
Dies führte drittens zu einer Instrumentalisierung der Ernährungswissenschaft durch die Nahrungsmittelindustrie, indem sich immer mehr Ernährungswissenschaftler in den Dienst der Lebensmit telkonzerne stellten. Am Beispiel von Elmer McCollum (1879–1967), einem Vitaminforscher der ersten Stunde und führenden Ernährungsforscher seiner Zeit, zeigt Harvey Levenstein, wie sich die Reformer ursprünglich für eine ausreichende Ernährung der Unterschicht einsetzten und sich später für ihre Forschung von den Grosskonzernen bezahlen liessen. McCollum seinerseits wies noch in den 1920er-Jahren anhand von Weizenmehl nach, wie durch industrielle Verarbeitung wertvolle Inhaltsstoffe verloren gingen, stellte sich aber schon bald darauf als Berater der General Mills gegen jene Kritiker, die für die Sicherstellung der Nährwerte von Brot und Mehl gesetzliche Vorschriften verlangten.69 Zwar konnten durch derlei Kooperationen auch Fortschritte bei der Nahrungsmittelqualität, -produktion und -forschung erzielt werden, doch dominierten nun zunehmend die Grosskonzerne die Debatte über eine «gesunde» Ernährung. «Gesund» bedeutete bald nicht mehr «ausgewogen», «natürlich» oder auch «wissenschaftlich fundiert», sondern wurde zunehmend zu einem Schlagwort für industriell verarbeitete Kunstprodukte, die nur durch Modifikationen und Zugaben all jene Eigenschaften aufwiesen, die die Wissenschaft grad aktuell als wichtig bezeichnete. Ein typisches Beispiel hierfür ist Kuhmilch. Wurde sie zu Beginn des «Vitamin-Zeitalters» nicht zuletzt wegen des Vitamin-A-Gehalts noch als natürliches, vollwertiges «Wunderelixier» gefeiert und gefördert, fügte man der Milch schon bald zusätzliche, künstliche Vitamine hinzu, reicherte sie mit Kalzium an und entzog ihr im Gegenzug das Fett – zuerst teilweise, bald auch vollständig. Die positiven Eigenschaften der Kuhmilch und der Milchprodukte wurden denn auch in Europa betont. In der Schweiz waren es insbesondere die Vertreter der rationellen Volksernährung, die sich bereits im 19. Jahrhundert für den Konsum von Milch und Käse einsetzten, wie bei Tanner nachzulesen ist. Milch und Käse lieferten in diesem Kontext jedoch nicht nur die viel gelobten tierischen Proteine, sondern galten auch als willkommene «Verbindung von ‹national› und ‹rationell›», indem sie mit denjenigen «Nährstoffen» aufgeladen wurden, die der junge Bundesstaat dringend benötigte: einem Nationalmythos – hier als ideologische Stilisierung der «kerngesunden Hirten in der hehren Alpenwelt» – und einer produktiven Volkswirtschaft, die man in der «Proteinproduktion» als «kollektive Fiktion für den Wohlstand» fand.70
Die Dominanz der amerikanischen Nahrungsmittelindustrie im Rahmen der Neueren Ernährung spiegelt sich auch in Zeitschriften wie Good Housekeeping, Parent’s Magazine, Ladies’ Home Journal und Hygeia, die sich insbesondere an Frauen und Mütter richteten. Als wichtigste Anzeigekunden hatten die Lebensmittelkonzerne grossen Einfluss auf die Berichterstattung. Die Zeitschriften berichteten nicht nur in den höchsten Tönen über die Industrieprodukte, sie widmeten auch ganze Reportagen, Kolumnen und Porträts ihren «Geldgebern» und verwendeten in ihren Rezeptvorschlägen deren Produkte, sodass die industriellen Erzeugnisse über die scheinbar unabhängigen Zeitschriften Glaubwürdigkeit gewannen. Wie Levenstein aufzeigt, hat das Magazin Good Housekeeping besonders eng mit der Lebensmittelindustrie zusammengearbeitet. Es hat gar ein Good Housekeeping Seal of Approval, eine Art Gütesiegel, für diejenigen Massenerzeugnisse ausgestellt, die das Magazin als unbedenklich einstufte: «You may safely rely on those articles of food which are advertised in GOOD HOUSKEEPING», versprach der Kolumnist für Gesundheitsthemen 1928 seinen Leserinnen.71
Zwar wurde die Neuere Ernährung von ähnlichen Gruppierungen vertreten wie ihre Vorgängerin, nämlich von Ernährungswissenschaftlern, Medien, Schulen, Kirchen und Behörden, doch arbeiteten diese im Unterschied zur Periode der Neuen Ernährung weniger in Richtung einer sinnvollen Massenernährung als mehr oder weniger bewusst für die Nahrungsindustrie. Diese durchaus fragwürdige Interessengemeinschaft funktionierte deshalb, weil alle dasselbe Ziel verfolgten: eine preiswerte, gesunde und standardisierte Massennahrung. So bildete sich bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein einheitlicher amerikanischer Ernährungsstil heraus.72 Gemäss Briesen entstand in den 1920er-Jahren derjenige Ernährungsstil, der bis heute die amerikanischen Essgewohnheiten präge: «ein Frühstück mit Zitrusfrüchten, Müsli, Eiern und Toast; ein leichtes Lunch, das oft nur aus einem Sandwich bestand; gebratenes Fleisch mit Gemüse und Kartoffeln abends als Hauptmahlzeit». Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «Amerikanisierung» beziehungsweise «Assimilierung», bei der – beschönigend ausgedrückt – «endlich eine typisch nationale und gesunde Küche» entstanden sei.73
Eine gewichtige Rolle bei dieser «Vereinheitlichung» der Ernährung spielten auch Fertiggerichte, Schulkantinen und die Ausbreitung von Kettenrestaurants in Form von Cafeterias, Milchbars, Sandwich- und Snackshops. Die Fertiggerichte der landesweiten Konzerne bedeuteten eine Erleichterung im Haushalt, was umso wichtiger wurde, je weniger attraktiv der Beruf des Haus- und Küchenmädchens war und je weniger Leute überhaupt Hausangestellte einstellen konnten. In den Schulen machte sich der Assimilationsdruck spürbar. Hier lernten die Kinder von Einwanderern die amerikanische Küche kennen und wollten auch zu Hause dasselbe essen – wohl auch, um nicht durch fremdländische Essgewohnheiten aufzufallen. Die Kettenrestaurants schliesslich zeichneten sich durch nationsweite, identische Angebote aus, die häufig auf vereinfachten Rezepten beruhten und das eigentliche Fastfood begründeten.74
Vereinheitlicht wurden die Essgewohnheiten damit aber nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Die Esskultur der Unterschicht begann sich aufgrund des zunehmenden Wohlstands und der steigenden Kaufkraft derjenigen der Mittelschicht anzugleichen. Wie bereits erwähnt, wird nun immer deutlicher, dass nicht mehr die Kaufkraft für die Qualität der Ernährung entscheidend war, sondern zunehmend das Wissen. Am Beginn der (amerikanischen) Konsumgesellschaft entsteht mit der Neueren Ernährung damit erstmals eine Art «demokratisierte Massenesskultur», in der die sozialen Unterschiede nicht mehr primär durch die Quantität, sondern vermehrt durch die Qualität der Nahrungsmittel zum Ausdruck kommen.75