Читать книгу Ready to Eat - Eva von Wyl - Страница 8
Die Entstehung der modernen Ernährung
ОглавлениеFühren wir uns die vergangen zwei Jahrhunderte der Ernährungsgeschichte im Zeitraffer vor Augen, stellen wir schnell fest, welch enormen Wandel die Ernährung durchlaufen hat: Bis vor rund 200 Jahren war der Speisezettel der Europäer fest an die Jahreszeiten und an regionale Bedingungen gebunden. Überfluss und Mangel unterlagen wiederkehrenden Phasen im Jahresverlauf. Rund 100 Jahre später büssten diese Faktoren an Bedeutung ein, stattdessen entschieden nun finanzielle Ressourcen über den Menüplan. Heute, wiederum ein Jahrhundert später, ist es dank Nahrungsmittelindustrie und vielseitigen Konservierungstechniken gelungen, die saisonale und regionale Abhängigkeit zu überwinden. Für einen grossen Teil der Bevölkerung bestimmen nicht mal mehr die finanziellen Ressourcen die Auswahl der Lebensmittel. Wir essen, wonach uns gerade ist. Seien es Erdbeeren im Winter oder Trauben im Frühling: Modernste Produktionstechniken und ein effizientes globales Verkehrsnetz machen es möglich.14 In der vergleichsweise kurzen Zeit von 200 Jahren veränderten sich die Essgewohnheiten in Europa also nicht nur hinsichtlich der natürlichen Bedingungen, sondern auch in Bezug auf die Nahrungsmittelvielfalt und die Nahrungsmittelherstellung und -verarbeitung. Dabei lässt sich auf der einen Seite ein Wandel von der Selbstversorgung zu einer globalen Marktwirtschaft nachzeichnen, andererseits ist die Ernährung auch Indikator für gesellschaftliche Veränderungen.
Die Entstehung der modernen Ernährung kann bis zur Agrarrevolution im 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden, denn damals wurden die Grundpfeiler für eine ertragreiche Landwirtschaft gesetzt, mit der sich die seit dem 16. Jahrhundert prekäre Nahrungsversorgung in Europa entscheidend verbessert hatte. Die Agrarrevolution ermöglichte eine landwirtschaftliche Produktivitätssteigerung und reduzierte dadurch die Krisenanfälligkeit. Die Verbesserung der Ernährung und der Nahrungsversorgung wiederum waren denn auch eine wichtige Grundlage für die industrielle Revolution und die Industrialisierung Europas, weil erst die Produktion von Überschüssen in der Landwirtschaft es den Menschen überhaupt ermöglichte, sich von der Selbstversorgung abzuwenden und in die Städte zu ziehen, um dort einer Beschäftigung in den Fabriken nachzugehen.
Die für die vorliegende Studie zentrale Entwicklungslinie beginnt mit dem Aufkommen der Nahrungsmittelindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil sich ab diesem Moment die Nahrungsmittelproduktion vom bäuerlich-häuslichen und zumeist ländlichen Umfeld in die städtische Fabrik verschob.15 Gleichzeitig etablierte sich eine standardisierte, rationalisierte und anonymisierte Massenproduktion von Lebensmitteln, wie sie sich in den Vereinigten Staaten am schnellsten und am konsequentesten durchsetzte, bevor sie von dort zurück nach Europa und in die übrige Welt gelangte. Das Attribut «Masse» ist dabei ein zentraler Aspekt und wichtiges Charakteristikum des Terminus «Industrie», denn es impliziert ebendieses standardisierte, rationalisierte Produktionsverfahren, mit dem eine anonyme Masse versorgt werden soll. Damit unterscheidet es sich von der ursprünglich häuslichen, bäuerlichen oder kleinbetrieblichen Herstellung von Einzelstücken, die wiederum persönlich auf dem Markt angeboten werden.
Es ist wichtig zu betonen, dass der Wandel der Essgewohnheiten zunächst nicht von der Nahrungsmittelindustrie ausging. Vielmehr ist diese im 19. Jahrhundert als Produkt eines viel komplexeren gesellschaftlichen, technischen und strukturellen Prozesses zu sehen, der die nötigen Voraussetzungen für die Herausbildung einer industrialisierten Nahrungsmittelproduktion schuf – und zwar sowohl auf der Produzenten- als auch auf der Konsumentenseite.16 Gleichzeitig hatte sich aber auch die Existenz vorgefertigter, proportionierter und haltbarer Lebensmittel auf die Essgewohnheiten ausgewirkt, quasi nach dem Prinzip, dass das Angebot die Nachfrage schafft. Nach der Jahrhundertwende wird die Ernährungsindustrie im Zuge von Produktionssteigerung, Überfluss und Konkurrenz durch Werbung und Marketing schliesslich gezielt auf die Essgewohnheiten der Bevölkerung Einfluss nehmen und sich – wie noch zu zeigen sein wird – vermehrt in die Ernährungslehre einbringen und bald sogar entscheidenden Einfluss darauf ausüben.
Doch gehen wir nochmals einen Schritt zurück: Welche Bedingungen und Errungenschaften waren überhaupt notwendig, damit sich die Nahrungsmittelindustrie herausbilden konnte? Basierend auf der bereits zitierten Forschungsliteratur17 scheinen vier Voraussetzungen zentral. Als erstes ist die Existenz einer Markt- und Geldwirtschaft zu nennen: Das heisst, es musste genug Menschen geben, die bereit (oder gezwungen) waren, vorgefertigte Nahrung mit Geld zu erwerben. Entscheidend hierfür waren die mit der Industrialisierung einhergehende Urbanisierung und die in den Fabriken arbeitende Bevölkerung. Diese war durch die Arbeit in den Fabriken nicht mehr in der Lage, ihre Nahrung selbst zu erzeugen. Es versteht sich von selbst, dass nur diejenigen fabrikgefertigte Lebensmittel kaufen konnten, die auch über Geld verfügten. Dies traf zur Zeit der Industrialisierung in erster Linie für die Menschen in den Städten zu, die für ihre Arbeit mit Geld entlöhnt wurden.
Als zweite, besonders bedeutende Voraussetzung sind die Errungenschaften im Bereich des Transports zu nennen. Zunächst brauchte es die Eisenbahn und die Hochseeschifffahrt, die es ermöglichten, günstige Rohstoffe (etwa Getreide) in grosser Menge aus der ganzen Welt zu importieren, die in den Fabriken verarbeitet werden konnten. Doch erst das ausgebaute, effiziente Verkehrsnetz schaffte den für die Massenproduktion notwendigen Absatzmarkt im In- und Ausland. Dieser wiederum war von der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit abhängig.
Damit die Lebensmittel aber überhaupt über weite Distanzen transportiert werden konnten, war neben einer geeigneten, raumsparenden Verpackung auch die Haltbarkeit eine Bedingung. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Haltbarkeit der Nahrung sowie im Bereich von Bakterien und Sterilisierung waren demnach eine dritte wichtige Voraussetzung für die Lebensmittelindustrie. Nicolas Apperts Konservierungsmethode, bei der die Nahrungsmittel unter Luftabschluss erhitzt wurden, bedeutete einen ersten Meilenstein in der Haltbarmachung und begründete sozusagen die Konservendose, die geradezu als Sinnbild der modernen Essgewohnheiten angesehen werden kann. Einen zweiten Meilenstein setzte etwas später die Gefrier- und Kühltechnik, die vor allem für die Fleischkonservierung entscheidend war. Wie bei Tannahill nachzulesen ist, waren die Chinesen bereits im 16. Jahrhundert auf die Idee gekommen, Eis als Konservierungsmethode einzusetzen. Sie transportierten so frisches Obst und Bambussprossen auf dem Wasserweg nach Peking.18
Die letzte Voraussetzung ist die Existenz einer Ernährungsforschung, die einerseits die Basis bildete, um die Nahrung auf ihre Bestandteile zu untersuchen, und andererseits die Entwicklung neuer Technologien zur Verarbeitung von Nahrungsmitteln ermöglichte. Von grosser Bedeutung war die Erkenntnis, dass Lebensmittel aus verschiedenen Nährstoffen – sprich aus Kohlenhydraten, Fetten und Proteinen – bestehen. Die Analyse der Nahrung mit naturwissenschaftlichen Methoden wurde bald zu einer eigentlichen Lebensmittelwissenschaft, aufgrund deren Ergebnissen erstmals Kostnormen festgelegt wurden.19 Die Existenz der Ernährungsforschung ist umso wichtiger, als sie eine Diskussion über eine «gesunde Ernährung» in Gang setzte, auf die ich in den folgenden Kapiteln hinsichtlich verschiedener Ernährungsreformen und -lehren in Europa und in den USA noch stärker eingehen werde.
Ein Produkt, das die beschriebene Herausbildung der modernen, industrialisierten Essgewohnheiten eindrücklich veranschaulicht, ist die oben angesprochene Konserve. Nicht nur verkörpert – beziehungsweise konserviert – sie die Entstehung und Herausbildung der Lebensmittelindustrie, sondern sie zeichnet gleichzeitig deren «Errungenschaften» nach.20 Als der Franzose Nicolas Appert an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine berühmt gewordene Methode zur Haltbarmachung verderblicher Lebensmittel, die «Appertisierung», entwickelte und verfeinerte, legte er damit den Grundstein sowohl für die Überwindung der jahreszyklischen Ernährung als auch für die Nahrungsmittelindustrie, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausbildete. Die Konserve beziehungsweise die Konservendose wird damit zu einer Art Ikone für die industrielle Produktion, die auf den Prinzipien der Rationalisierung, Uniformierung und des Fliessbands basiert und den Übergang von der manuellen zur maschinellen Verarbeitung darstellt. Gleichzeitig dient die Konserve aber nicht nur als «Vehikel der Zeitüberbrückung»,21 sondern eignet sich auch hervorragend, um weite geografische Strecken zu überwinden. Die Haltbarkeit, die einheitliche, leicht stapelbare Verpackung, aber auch die kompakte Form der Nahrungsmittel eröffneten neue Möglichkeiten für den Transport über lange Strecken, womit sich erstmals nicht nur Kolonialwaren, Gewürze und Getreide, sondern auch die sogenannten verderblichen Produkte wie Fleisch und Gemüse auf dem Weltmarkt verkaufen liessen.
Nach der Jahrhundertwende werden zwei weitere Aspekte der Konserve bedeutsam: Erstens eigneten sich ihre Eigenschaften als stapelbare und lang haltbare Ware nicht nur hervorragend für den Transport, sondern auch für die aus den USA stammende, neue Vertriebsart im Selbstbedienungsladen und Supermarkt. Dort konnten die bereits in der Fabrik abgewogenen und abgepackten Dosen mühelos in Regalen gestapelt werden, von wo sie die Kundinnen und Kunden bequem in den Einkaufskorb legen und am Schluss an der Kasse bezahlen konnten. Zweitens wird die Verpackung in diesem Kontext zu einem zentralen Moment und stellt einen Meilenstein in der Ernährungsgeschichte dar. Denn weil die Büchse den Blick auf die Nahrung versperrte, kam der Gestaltung der Etikette und der Verpackung eine zentrale Rolle zu. Als «stumme Verkäufer»22 ersetzen sie den Händler, der die Ware auf dem Markt anpries und bei Bedarf Auskunft geben konnte. Martin Schärer folgert, dass die Etikette damit zum «wichtigen Bestandteil des Produktes» wurde, denn: «sie benannte und erläuterte den Inhalt der Verpackung, erwähnte deren Grösse und Preis, gab Hinweise über die Verwendung und bezeichnete den Hersteller, der die Qualität garantierte.»23 Die Verpackung der Konserve musste aber nicht nur informieren, sondern besonders auch ansprechend und funktional gestaltet sein, weshalb oft der Inhalt auf der Verpackung abgebildet wurde. Die Verpackung und die Etikette wurden so zum eigentlichen Werbeträger, der gerade bei der Selbstbedienung über den Kauf oder Nichtkauf entscheiden konnte.
Damit ist bereits der nächste Entwicklungsschritt angesprochen: die Geburt und der Aufstieg des Markenartikels.24 Weil mit der industriellen Herstellung und der Selbstbedienung ein Prozess der Anonymisierung und der Entfremdung von Produzent und Endverbraucher, aber auch von Verkäufer und Käufer Einzug hielt, galt es, das Vertrauen der Konsumenten auf einer anderen Ebene zu gewinnen. Der Markenartikel versprach durch seine serielle, standardisierte Verarbeitung eine immer gleich bleibende Qualität.
Dass dieses Versprechen bei Weitem nicht immer eingehalten wurde, zeigen verschiedenste Fälle des Etikettenschwindels und der Nahrungsmittelfälschungen, die das durch die Marke hergestellte Vertrauen wieder zerstörten. Gerade bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stellten Etikettenschwindel und Fälschungen ein echtes Problem dar. Weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitere grundlegende und als gesund geltende Bestandteile der Nahrung wie Vitamine, Mineralien und Spurenelemente zwar identifiziert waren, aber bis in die 1930er-Jahre noch keine Aussagen über deren Menge in der Nahrung und über deren Aufnahme im Körper gemacht werden konnten, eigneten sich diese geruch- und farblosen Bestandteile hervorragend als Werbeargumente. Die Lebensmittelindustrie konnte im Prinzip über ihre Produkte behaupten, was sie wollte.25 Oftmals wurden den Nahrungsmittelkonserven auch unerlaubte oder gar giftige Substanzen zugefügt, sei es zur Streckung, zur optischen Aufbesserung durch Farbstoffe oder auch als (chemische) Konservierungsmethode. Auch Ge schmacksverstärker, oft in Form von Zucker, wurden relevant, womit die in Zusammenhang mit der Industrialisierung kritisierte Entfremdung von natürlichem Geschmack und Aussehen angesprochen ist.
Nahrungsmittelfälschungen und Etikettenschwindel waren in der jungen Lebensmittelindustrie stark verbreitet; jedoch waren sie keine neuen Phänomene. Im 20. Jahrhundert gerieten insbesondere Konservierungs- und Farbstoffe in die Kritik, was dazu führte, dass Nahrungsmittelgesetze eingeführt beziehungsweise verschärft wurden.26
Auch auf der Konsumentenseite kann die Konserve zur Veranschaulichung für eine Reihe von Veränderungen herangezogen werden, die sich ähnlich wie bei der Produktion durch Rationalisierung und Zeiteinsparung auszeichnen. Dadurch, dass die Zubereitung und Vorbereitung der Lebensmittel in die Fabrik verlegt wurde, rückten das sogenannte Convenience food und die Fertiggerichte ins Zentrum – beides war zuerst in der Dose erhältlich. Die Industrie übernimmt dabei eine Reihe von Aufgaben, für die traditionellerweise die heimische Küche zuständig war. Angefangen bei der Ernte, übernimmt sie das Putzen, Rüsten, Kochen und Würzen. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen der Verarbeitung. Gemüsekonserven sind verhältnismässig einfaches Convenience food. Sie bestehen lediglich aus einem, vielleicht zwei Nahrungsmitteln, die gerüstet und vorgekocht werden und von den Endverbrauchern nur noch aufgewärmt werden müssen. Büchsenravioli hingegen sind viel komplexer, sie stellen fixfertige Gerichte dar. Die Herstellung ist sehr aufwendig und geschieht kaum mehr vollständig in einem Haushalt. Zunächst müssen Teig und Füllung hergestellt werden, anschliessend wird beides zu kleinen Teigtaschen verarbeitet. In einem weiteren Arbeitsschritt werden sie gar gekocht, und eine Sauce wird zubereitet. Erst dann kann beides kombiniert und serviert werden. Bei Büchsenravioli geschehen alle diese Arbeitsschritte bereits in der Fabrik. Die Ravioli kommen fixfertig mit Tomatensauce vermischt in die Dose und müssen zu Hause nur noch erhitzt und eventuell mit Käse verfeinert werden – schon ist ein komplettes Menü auf dem Tisch: Ready to eat.
Schliesslich lässt sich anhand der Konserve auch der Übergang vom Luxusgut zum Massenprodukt aufzeigen. Die Nahrungskonserve, die anfänglich als Luxusgut gehandelt wurde, konnte im Verlauf der Industrialisierung dank Transportrevolution, technischen Fortschritten und Rationalisierung immer günstiger produziert werden. Allerdings war die Verbilligung häufig auch mit der Verwendung von preisgünstigeren Surrogaten und damit mit Täuschung verbunden. In Europa vermochte sich die Dosenkonserve – wie viele andere Konsumgüter – erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchzusetzen, während sie in den USA bereits nach der Jahrhundertwende zum Massenkonsumgut avancierte.