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Joachim wurde wach, öffnete die Augen und richtete sich auf den Ellenbogen abgestützt im Bett auf. Das Fenster im Schlafzimmer stand auf kipp. Draußen war das laute Keckern einer Elster zu hören, die irgendwo auf der Regenrinne oder einem nahe am Haus stehenden Baum ihr morgendliches Spektakel veranstaltete. Nach einer kurzen Pause hörte er wieder das lang anhaltende schäck-schäck-schäck. Cornelia hatte sich einmal über ihn lustig gemacht, als er früh morgens am offenen Fenster versucht hatte, eine Elster durch lautes Klatschen zu vertreiben. Es war ihm nicht gelungen. Die Elster hatte danach noch lauter gekeckert und es hatte den Anschein, als wollte sie ihn verhöhnen.

Joachim schaute auf die Uhr. Es war bereits zwanzig Minuten vor sieben. Draußen regnete es kräftig. Die Fensterscheibe war nass. Aus einer Traufe fiel unentwegt Regenwasser trommelnd auf einen Mülleimer unten vor dem Haus. Joachim sah auf das unbenutzte Kissen neben ihm. Es war also Wirklichkeit und kein Traum. Cornelia war gestern nicht nach Hause gekommen. Sie war mit dem Zug weggefahren und hatte ihn ohne Nachricht allein gelassen. Seit fast sieben Monaten waren sie zusammen und dann so etwas. Joachim konnte es kaum glauben, aber es war nicht zu leugnen. Warum? Er stand auf und ging in die Küche. Vom Flammkuchen hatte er starken Durst. Im Kühlschrank war nur noch eine fast leere Flasche Mineralwasser. Er machte die Balkontür auf. Regentropfen fielen ihm ins Gesicht und eine unangenehm feuchte Luft schlug ihm entgegen. Von dem sommerlichen Wetter des Vortages war nichts mehr zu spüren. Alle Mineralwasserflaschen auf dem Balkon waren leer. Joachim ging zurück in die Küche und machte die Balkontür schnell hinter sich zu. Er nahm sich ein Glas und ließ den Wasserhahn laufen, bis das Wasser kalt genug war. Dann hielt er das Glas unter den Wasserstrahl und füllte es bis zum Rand. Hastig trank er das Glas leer und füllte es ein zweites Mal. Mit dem zur Hälfte ausgetrunkenen Glas setzte er sich an den Küchentisch und dachte nach.

Warum hatte Cornelia nichts von ihren Sachen mitgenommen? Alles war noch an seinem Platz. Von ihrer Zahnbürste bis hin zu ihrer Lieblingsjacke, die sie allerdings nur in ihrer Freizeit trug. Sie konnte lediglich die Sachen bei sich haben, mit denen sie gestern Morgen aus dem Haus gegangen war, um zur Arbeit in den Kindergarten zu fahren, wenn sie denn überhaupt dorthin wollte. Vielleicht war sie auch direkt zum Bahnhof gefahren. Er musste unbedingt mit Sandra besprechen, schließlich kannte sie Cornelia schon länger als er selbst. Sonst gab es wohl niemanden in der Stadt, mit dem Cornelia Kontakt hatte. Zumindest hatte sie nie etwas über Verabredungen mit Freunden oder Bekannten erwähnt.

Er beschloss, sich anzuziehen und noch vor der Arbeit in den städtischen Kindergarten zu fahren, um mit Sandra zu sprechen. Er musste sich beeilen, denn er wollte noch vor dem Begrüßungskreis dort sein. Er ging ins Bad, wusch sich schnell, sprühte Deo auf, putzte Zähne und rasierte sich. Er legte etwas Rasierwasser auf und betrachtete seine Haare an den Schläfen und über den Ohren. Einige graue Haare hatten sich bereits eingeschlichen. Joachim schaltete das Licht am Spiegelschrank aus und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Die Fahrradtasche im Flur erinnerte ihn daran, dass das Fahrrad noch immer vor dem Supermarkt stand. Dann musste er eben das Auto nehmen.

Joachim öffnete die Wohnungstür. Er hatte gestern gar nicht mehr abgeschlossen. Unten hörte er die schwere Haustür klappen. Der Schlüssel wurde zweimal im Schloss umgedreht. Es war Herr Huber aus dem Erdgeschoss. Wie jeden Morgen um diese Zeit ging er aus dem Haus, um in seine Kanzlei zu fahren. Er war Rechtsanwalt. Obwohl er es jetzt sehr eilig hatte, stieg er leise die Treppe hinunter, weil er im Haus niemanden wecken wollte.

Der Wind schien noch stärker und kühler geworden zu sein. Nichts erinnerte in der Straße an die sommerliche Stimmung des Vorabends. Auf dem Bürgersteig standen viele Pfützen. Die bunten Kreidemalereien auf den Gehwegplatten waren verwaschen und kaum noch zu erkennen. In der Straße gab es wieder etliche freie Parkplätze. Joachim musste ein Stück zu seinem Auto laufen. Als er mit Cornelia am letzten Sonntag von einem Waldspaziergang zurückgekommen war, hatte er in der Straße keinen freien Parkplatz mehr gefunden. Unter der Woche benutzten sie das Auto nur selten. Es war ein roter Ford Mondeo Kombi, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, aber immer noch sehr zuverlässig war. Joachim warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und fuhr los. Trotz des starken Berufsverkehrs kam er recht gut durch. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Wolken sahen aus, als wären sie jederzeit bereit für neue Regengüsse. Die ersten Kinder wurden bereits von ihren Müttern gebracht. Auf dem Parkplatz direkt vor dem Kindergarten parkten schon die klassischen Familienautos. Kombis und kleine bis mittelgroße Vans mit Kindersitzen auf der Rückbank. Eine Mutter lotste ihr Kindergartenkind und die kleine Schwester aus dem Auto. Vor der Eingangstür standen drei Frauen mit Fahrrädern und leeren Kindersitzen, die über den Gepäckträgern zu schweben schienen. Sie unterhielten sich. Ein Vater verabschiedete sich von seinem Sohn. Vom Auto winkte er nochmals hinüber. Auf den frei werdenden Parkplatz wartete bereits die nächste Mutter mit ihrem Minivan und zwei Kindern auf der Rückbank. Es war bereits zehn nach acht und die ersten Kinder tobten durch die Räume des Kindergartens. Um halb neun fand immer der Begrüßungskreis mit den Kindern statt, das wusste er von Cornelia. Viel Zeit hatte er nicht mehr, um mit Sandra zu sprechen. Im Eingangsbereich und im Flur roch es nach Bohnerwachs, Früchtetee und überreifen Bananen. Eine Mutter kam ihm mit ihrem Baby auf dem Arm entgegen. Das Kind war vielleicht ein halbes Jahr alt und griff nach Joachim. Lächelnd wich er aus und ging vorbei. Im kleinen Aulabereich tobten mehrere Kinder auf großen Schaumstoffwürfeln und Matratzen herum, die mit blauen, roten und grünen Stoffen bezogen waren. Kreischendes Kinderlachen durchzog die Gänge. Joachim musste zur Pinguin-Gruppe. Auf der ersten Tür war eine große bunte Maus aufgemalt. Daneben war ein Schild, auf dem Mäuse-Gruppe stand. Joachim ging weiter. Er kam an der Katzen-Gruppe und der Hunde-Gruppe vorbei. Erst dann entdeckte er den großen Pinguin. Eine Mutter war im Garderobenraum und zog ihrem Sohn die Hausschuhe an. Die Tür zum Waschraum stand offen. Dort standen farbige Becher, in denen bunte Zahnbürsten steckten. Die Waschbecken waren alle auf Joachims Kniehöhe angebracht. Er musste schmunzeln und ging weiter zur Tür des Gruppenraumes. An der Tür stand eine Frau, die wohl Anfang fünfzig war, aber älter aussah. Sie musste eine der Erzieherinnen sein. Joachim begrüßte sie und nannte seinen Namen.

»Ich möchte kurz mit Sandra Fenske sprechen.«

»Sandra ist hier gleich um die Ecke und bereitet eine kleine Geburtstagsfeier vor«, antwortete die Frau. Joachim bedankte sich und ging hinein.

»Halt warten Sie bitte, Sie müssen noch ihre Schuhe ausziehen.« Joachim blieb wie ertappt stehen und entschuldigte sich. Im Garderobenraum zog er seine Schuhe aus. Jetzt fiel ihm auch der Name der Erzieherin ein, die ihn begrüßt hatte. Sie hieß Frau Langhans und half im Kindergarten gelegentlich aus. Es war also schon eine Vertretung für Cornelia da, denn die Gruppen waren so groß, dass sie in der Regel nur von zwei Erzieherinnen betreut werden konnten. Sandra Fenske kniete in der Mitte des Gruppenraumes und breitete eine bunte Geburtstagsdecke aus. Neben ihr lagen eine dicke orangefarbene Kerze und eine herzförmige Schachtel. Als sie Joachim sah, stand sie auf und sah ihn freundlich an. Sandra Fenske war schlank und groß. Sie musste etwa Mitte zwanzig sein, wirkte aber deutlich jünger. Ihre hellblonden Haare gingen ihr bis zu den Schultern. Sie hatte sie beim Aufstehen wieder fein säuberlich hinter ihre zierlichen Ohren gelegt. Ihre Haare waren gescheitelt und hingen seitlich im Bereich der Schläfe weit ins Gesicht hinein. Sie trug über ihrem gelben Rolli, dessen Kragen fast bis zu ihrem Kinn reichte, eine anthrazitfarbene Pepita-Weste und dazu eine schwarze Röhrenjeans. Ihre etwas ausgetretenen Turnschuhe passten nicht zu diesem Outfit.

»Hallo, ich bin Joachim Magiera, der Freund von Cornelia«, sagte Joachim und streckte Sandra Fenske die Hand entgegen. Ihr Händedruck war weich.

»Was ist denn mit Cornelia? Sie wollte sich doch gestern Nachmittag noch bei mir melden«, fragte Sandra besorgt und strich sich dabei erneut mit beiden Händen ihre hellblonden Haare hinter den Ohren glatt.

»Ich weiß es nicht. Sie ist gestern nicht nach Hause gekommen und hat auch nicht angerufen«, sagte Joachim erstaunt. Plötzlich hingen zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, an Sandras Handgelenken und sprangen aufgeregt von einem Bein auf das andere.

»Sandra, Sandra wer hat denn heute Geburtstag?«, kreischten sie.

»Immer mit der Ruhe. Tobias feiert heute seinen Geburtstag. Geht doch schon mal die Sitzkissen hinlegen, ich muss mit dem Mann noch etwas besprechen.« Die Kinder sprangen davon.

»So, noch mal langsam. Sie haben von Cornelia seit gestern Morgen nichts mehr gehört?«

»Nein«, antwortete Joachim und öffnete dabei den Reißverschluss seiner Jacke. In dem überheizten Raum war es unerträglich warm.

»Und ich dachte, Cornelia hätte Sie bei der Arbeit noch erreicht.«

»Wann soll das denn gewesen sein?«

»Vielleicht kurz vor neun.«

Aus den zwei Kindern, die Kissen für den Sitzkreis auf den Fußboden zurechtrückten, waren mittlerweile sechs geworden. Der Geräuschpegel begann allmählich zu steigen. Die Kinder legten ein Kissen nach dem anderen um sie herum.

»Um diese Zeit war ich noch gar nicht bei der Arbeit und mein Kollege, mit dem ich zusammensitze, wahrscheinlich auch noch nicht.«

»Auf jeden Fall ist Cornelia dann gleich, es war vielleicht kurz nach neun, gegangen.«

»Fühlte sie sich nicht gut?«

»Nein, das war es nicht. Sie wirkte auf einmal durcheinander und sehr nachdenklich und sagte ...« Sandra wurde unterbrochen. Eines der Kinder fing laut an zu weinen, es hatte ein Kissen mitten ins Gesicht bekommen und lief ihr weinend in die Arme.

»Tobias«, rief Sandra Fenske freundlich, aber energisch. »Glaube nicht, dass ich das nicht gesehen habe. Du meinst wohl, nur weil du heute Geburtstag hast, kannst du dir alles erlauben. Komm sofort her und entschuldige dich bei Bianca.«

Joachim wunderte sich, dass aus diesem friedvollen Gesicht diese durchsetzungsstarken Laute dringen konnten.

»Wo war ich stehen geblieben, ach ja, Cornelia hatte mir gesagt, dass sie dringend etwas Privates erledigen müsste und sich später noch einmal melden würde.«

Joachim schwieg für einen kurzen Moment und schaute Sandra nachdenklich an.

»Was könnte das gewesen sein?«, fragte er und blickte Sandra dabei an, als würde er durch sie hindurchsehen.

»Müssten Sie das nicht eher wissen als ich?« In das letzte Wort fiel der helle klare Ton einer Triangel. Frau Langhans kam auf sie zu und setzte zum nächsten Triangelschlag an. Sie schaute dabei erwartungsvoll in die Runde. Mit jedem Ton sank der Geräuschpegel weiter ab. Die eben noch herumtobenden Kinder kamen jetzt, eines nach dem anderen, angelaufen und setzten sich auf die Sitzkissen vor der Geburtstagsdecke. Nach kurzer Zeit herrschte eine erwartungsvolle Stille, die nur gelegentlich durch ein Hüsteln oder leises Kichern durchbrochen wurde. Frau Langhans kam ganz nah an Sandra und Joachim heran.

»Wenn ihr noch etwas Wichtiges zu besprechen habt, mache ich das eben alleine mit dem Begrüßungskreis«, flüsterte Frau Langhans.

»Danke Irene, nett von dir«, sagte Sandra. Schweigend gingen sie zur Tür des Gruppenraumes. Die Kinder im Begrüßungskreis sahen ihnen nach und kicherten leise.

»Kommen Sie, wir setzen uns ins Sekretariat, da sind wir um diese Zeit ungestört.«

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Joachim und bückte sich nach seinen Schuhen.

»Womit recht?«

»Na, dass ich eigentlich besser wissen müsste, was Cornelia dringend zu erledigen hatte. Aber glauben Sie mir, ich weiß es wirklich nicht und was noch viel schlimmer ist, ich kann mir auch nicht vorstellen, was es gewesen sein könnte.« Als Joachim die Schuhe angezogen hatte, gingen sie los.

Sandra schloss die Tür zum Sekretariat auf. Das Sekretariat war ein kleiner Raum mit zwei Schreibtischen und einem Computer. Die Luft war stickig und noch wärmer als im Gruppenraum. Sandra öffnete ein Fenster. Die Tropfgeräusche des Regens drangen in den kleinen Raum.

»Wie lange sind Sie mit Cornelia schon zusammen?«

»Ziemlich genau seit sieben Monaten.«

»Viel länger kenne ich Cornelia auch noch nicht, aber wir haben uns gleich gut verstanden. So lange arbeite ich ja noch nicht in diesem Kindergarten. Wir sind die jüngsten Erzieherinnen hier, das verbindet.«

Sandra zog einen Bürostuhl an die Seite des zweiten Schreibtisches und bot Joachim an, sich zu setzen. Joachim zog seinen Mantel aus und hängte ihn über die Rückenlehne des Stuhls. Dann setzte er sich, und obwohl ihm immer noch warm war, ließ er das Jackett an.

»Gestern, als ich allein zu Hause war und keine Nachricht von Cornelia hatte, ist mir klar geworden, dass ich fast nichts über sie weiß.« Joachim machte eine kurze Pause und blickte nachdenklich auf seine mattschwarzen Businessschuhe.

»Sie und ich sind wohl die Einzigen in der Stadt, die Cornelia kennen. Jedenfalls wüsste ich sonst niemanden. Ich kenne keine Freunde oder Bekannte von ihr. Ich habe keine Adresse oder Telefonnummer, bei der ich mich nach Cornelia erkundigen könnte, nicht mal Ihre Nummer.«

»Sie wollten mich gestern anrufen?«, unterbrach ihn Sandra und strich sich die Haare, die ihr ins Gesicht gefallen waren, behutsam zur Seite.

»Ja, und ich habe versucht, Sie im Telefonbuch zu finden. Vergeblich, ich wusste noch nicht einmal, wie Ihr Nachname geschrieben wird. Fenske gibt es nämlich mit F oder V am Anfang und mit tz oder nur mit z in der Mitte, wie Sie wahrscheinlich wissen.«

Sandra lächelte verhalten.

»Was meinen Sie, wie oft ich schon meinen Namen buchstabiert habe und er dennoch falsch geschrieben wurde.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte Joachim, der aufgestanden war, um sein Jackett doch noch auszuziehen. Obwohl das Fenster auf kipp stand und das Plätschern des kühlen Regens gut zu hören war, wich die warme abgestandene Heizungsluft nur allmählich aus dem kleinen Büroraum.

»Auf jeden Fall habe ich dann angefangen bei diversen Fenskes, wie auch immer geschrieben, anzurufen. Es war aber alles vergeblich.«

»Mein Name wird mit F am Anfang und s in der Mitte geschrieben. Aber sie hätten schon alle Fenskes im Telefonbuch anrufen müssen, um mich zu erreichen. Ich stehe nämlich als Hartmut Fenske drin. Wissen Sie, ich wohne allein und hatte öfter von irgendwelchen perversen Spinnern Anrufe zu unmöglichen Tag- und Nachtzeiten.« Sandra lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und legte das linke über das rechte Bein.

»Und ich hatte mir schon Gedanken gemacht, nicht hartnäckig genug gewesen zu sein.« Joachim sah Sandra betrübt an und sagte dann:

»Gestern habe ich das erste Mal darüber nachgedacht, dass ich niemanden aus Cornelias Familie kenne, weder ihre Eltern noch irgendwelche anderen Verwandten. Es hatte mich ehrlich gesagt auch gar nicht interessiert. Nicht einmal gefragt habe ich Cornelia danach. Ich weiß lediglich, dass sie in Potsdam geboren wurde und einige Jahre ihrer Kindheit in Ost-Berlin verbracht hat.«

Sandra saß Joachim sichtbar fröstelnd gegenüber. Sie stand auf und fragte Joachim, ob sie das Fenster wieder schließen dürfe. Obwohl Joachim immer noch zu warm war, willigte er sofort ein und ließ sich nicht anmerken, dass er am liebsten das Fenster weit aufgerissen hätte.

»Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber mir hat Cornelia auch nie viel über sich, ihre Familie oder ihr bisheriges Leben erzählt. Allerdings hatten wir einmal kurz über Frankfurt gesprochen. Bevor sie wieder als Erzieherin anfing, hatte sie dort Kunstpädagogik studiert. Als ich ihr vor Kurzem erzählt habe, dass ich im Sommer für einige Tage nach Berlin und Potsdam fahren möchte, hat sie mir empfohlen, unbedingt an den Schwielowsee zu fahren. Auf die Frage, ob sie dort schon einmal Urlaub gemacht habe, hat sie mir geantwortet, dass sie in Caputh am Schwielowsee aufgewachsen sei. Mehr hat sie mir darüber aber nicht erzählt.«

»Selbst das wusste ich nicht«, stellte Joachim fest und fragte Sandra gleich darauf:

»Hat sie Ihnen gegenüber schon einmal die Stadt Oberhausen erwähnt?«

»Nein, wieso fragen Sie das?«

»Weil ich gestern Morgen am Bahnhof eine Frau gesehen habe, die Cornelia zum Verwechseln ähnlich sah. Wahrscheinlich war sie es sogar. Sie war so schnell im Zug verschwunden.«

»Und war sie allein?«, fragte Sandra und beugte sich dabei weit zu Joachim nach vorne. Joachim schaute Sandra nachdenklich an.

»Soweit ich es sehen konnte, ja. Glauben Sie, dass sie mit einem Mann, mit dem sie früher eine Beziehung hatte, weggefahren sein könnte?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Sandra, »als Cornelia hier im Kindergarten angefangen hat, trug sie die Haare die ersten Tage viel länger und meistens zum Zopf zusammengebunden. Doch kurze Zeit später hatte sie sich beim Friseur einen Pagenkopf schneiden lassen und sich auch viele neue Klamotten zugelegt. Das Klischee, das sich Frauen für einen Neuanfang, gerade nach einer gescheiterten Beziehung, eine neue Frisur, ein neues Outfit, zulegen, das stimmt einfach. Nein, mit wem sie auch immer zusammen war, das war endgültig vorbei, da bin ich mir ganz sicher.«

Joachim lehnte sich im Bürostuhl zurück und atmete tief durch.

»Aber was soll ich denn Ihrer Meinung nach jetzt machen?«

»Warten Sie heute noch ab. Vielleicht meldet sie sich noch. Seltsam finde ich allerdings, dass sie sich auch hier im Kindergarten nicht abgemeldet hat. Sie ist in dieser Beziehung sonst sehr zuverlässig.«

»Vielleicht sollte ich nach Frankfurt fahren. Eventuell kann ich jemanden an der Uni finden, der mit Cornelia studiert hat.«

»Ich glaube, da werden Sie wenig Erfolg haben. Die Universität in Frankfurt ist eine der größten in Deutschland und außerdem war Cornelia schon in einem der höheren Semester, soweit ich weiß, verliert man sich da langsam aus den Augen. Sie werden vermutlich Schwierigkeiten haben, dort jemanden zu finden, der Ihnen weiterhelfen kann. Wenn Sie Cornelia nicht am Bahnhof gesehen hätten und sie gestern den Kindergarten nicht Hals über Kopf verlassen hätte, würde ich sagen, gehen Sie zur Polizei und geben Sie eine Vermisstenanzeige auf. Unter diesen Umständen rate ich Ihnen, mit Cornelias Eltern Kontakt aufzunehmen. Vielleicht leben sie oder andere Verwandte noch in Caputh. Schauen sie doch mal im Online-Telefonbuch nach, ich glaube der Name Radeberger kommt nicht sehr häufig vor.«

»Vielleicht haben Sie recht und Cornelia ruft im Laufe des Tages noch an. Auf meinem Handy wird sie allerdings nicht anrufen, die Nummer hat sie sich gar nicht erst notiert. Wie Sie vielleicht wissen, hasst sie Handys.«

Sandra lachte.

»Ja ich weiß, ich mag Handys auch nicht besonders.«

»Vielleicht hat sie ja bereits versucht, mich bei der Arbeit in der Spedition anzurufen. Ich muss gleich weiter, sonst werde ich dort noch vermisst. Aber vielen Dank, dass sie sich die Zeit genommen haben. Frau Langhans wartet bestimmt schon auf Sie.« Joachim stand auf und zog sein Jackett wieder an.

»Woher kennen Sie den Namen meiner Kollegin?«

»Den hat Cornelia irgendwann mal erwähnt; soweit ich weiß, übernimmt sie häufig die Vertretung und ist so eine Art Springer.«

Sandra schob ihren Stuhl an den Schreibtisch. Joachim nahm seine Jacke von der Rückenlehne.

»Herr Magiera, geben Sie mir noch ihre Handy-Nummer, wenn sich Cornelia im Kindergarten melden sollte, dann kann ich Ihnen sofort Bescheid sagen.«

»Ja, Sie haben recht.«

Sandra war bereits dabei, sich einen Stift und einen kleinen Notizzettel vom Schreibtisch zu nehmen.

»So, schießen Sie los.« Joachim nannte ihr die Nummer. Im Flur verabschiedeten sie sich voneinander. Es war mittlerweile zwanzig vor neun. Joachim ging hinaus in den Regen, der wieder etwas schwächer geworden zu sein schien. Auch der böige Wind hatte etwas nachgelassen. Zügigen Schrittes machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. Ihm knurrte jetzt der Magen, schließlich hatte er nichts gefrühstückt. Am Auto angekommen, kramte Joachim als Erstes sein Handy aus der Jackentasche und rief bei Olaf Müller im Büro an. Hin und wieder kam Olaf auch vor neun ins Büro, an diesem Tag allerdings nicht.

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