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Obwohl die Sonne hinter den hoch aufragenden Dächern der gegenüberliegenden Häuserzeile nur noch etwa zur Hälfte hervorlugte, hielt sich die Wärme des Tages sehr angenehm in der mittlerweile fast komplett zugeparkten Wohnstraße. Auf dem Bürgersteig spielten drei Mädchen Gummitwist. Nur wenige Meter davon entfernt kickten vier Jungen mit einem Fußball, der in ständiger Bewegung war. Sie warteten offenbar auf einen Nachzügler. Die Gehwegplatten vor dem Haus waren mit bunter Kreide bemalt worden. Der außergewöhnlich warme und sonnige Apriltag hatte die Kinder auf die Straße gelockt.

Die gutbürgerlichen Häuser des Viertels, in dem Joachim mit Cornelia wohnte, waren in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut worden. Mittlerweile hatte der gehobene Mittelstand dort Einzug gehalten. Ursprünglich waren die dreistöckigen Häuser für vier Mietparteien entworfen worden. Einige der großzügig geschnittenen Wohnungen waren zu Arztpraxen, Anwaltskanzleien oder Versicherungsvertretungen umfunktioniert. Eigentlich hätte sich Joachim eine solche Wohnung nicht leisten können. Doch der Zufall wollte es, dass der beste Freund seines Onkels für drei Jahre nach Rio de Janeiro zog und einen vertrauensvollen Mieter für diese Zeit suchte. Er machte Joachim ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Mittlerweile waren aus den drei Jahren fünf geworden und eine Rückkehr noch immer nicht geplant. Die Wohnungen hatten die für die Bauzeit typischen hohen Decken. In Joachims Wohnung war sogar die alte Stuckdecke über die Jahre erhalten geblieben. Er konnte sich noch gut erinnern, wie beeindruckt Cornelia ihn angesehen hatte, als sie das erste Mal zu ihm in die Wohnung gekommen war.

Joachim stieg die breite, teppichbespannte Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Jeder Tritt auf der Treppe verursachte ein dumpfes Knarren, das in allen Wohnungen im Haus zu hören war. Im Treppenaufgang hingen überall Bilder, die über die Jahrzehnte von den Bewohnern hier aufgehängt worden waren. Darunter gab es auch ältere Ölgemälde, die überwiegend Naturlandschaften zeigten.

Joachim steckte den Schlüssel in die Wohnungstür. Sie war abgeschlossen. Cornelia konnte also noch nicht zu Hause sein. Vielleicht war sie tatsächlich noch beim Einkaufen. Joachim stellte seine Fahrradtasche unter der Garderobe ab. Das Jackett hängte er in den antiken Dielenschrank, der im Flur neben der Garderobe stand. Der Vermieter hatte ihm die meisten Möbel zu treuen Händen überlassen. Joachim hatte damit keine Probleme. Sie passten gut zu der Wohnung und zu den wenigen Möbelstücken, die er selbst mitgebracht hatte.

Langsam ging Joachim den Flur entlang und hielt Ausschau nach der Tasche, die Cornelia immer mit in den Kindergarten nahm. Sie war nirgends zu finden. Im Dielenschrank lag sie auch nicht. Die Küche war noch so, wie er sie am Morgen verlassen hatte. In der Spüle standen ihre beiden Tassen. Die Teller hatte er bereits heute Morgen in die Spülmaschine gestellt. Joachim schaute in den Kühlschrank. Vielleicht war Cornelia doch schon in der Wohnung gewesen und hatte den Pizzateig vorbereitet. Fehlanzeige. Er ging ins Wohnzimmer. Auch hier keinerlei Hinweise darauf, dass Cornelia schon in der Wohnung gewesen war. Joachim ging ins Schlafzimmer und lockerte seinen Schlips, bis er ihn gerade über den Kopf ziehen konnte. Er hatte sich angewöhnt, den Windsorknoten nicht zu lösen, um morgens keine Zeit beim Schlipsbinden zu verlieren. Joachim zog sich um, ging kurz ins Bad, dann ins Wohnzimmer und zuletzt ins Arbeitszimmer, das von Cornelia und ihm gemeinsam genutzt wurde. Die Wohnung hatte knapp einhundertzwanzig Quadratmeter und wirkte nicht nur durch die hohen Decken sehr geräumig.

Cornelia konnte also nach dem Kindergarten noch nicht zu Hause gewesen sein, soviel war klar. Vielleicht war sie gleich nach der Arbeit in die Innenstadt gefahren, um sich etwas zum Anziehen zu kaufen. Das hatte sie schon öfter gemacht. Vielleicht war sie jetzt im Supermarkt, um für das Abendessen einzukaufen, dachte Joachim und ging in die Küche. In diesem Moment musste er an sein Fahrrad denken. Cornelia einen Zettel hinlegen und mit dem Auto eben alleine hinfahren, dazu hatte er keine Lust. Außerdem wollte er zu Hause sein, wenn Cornelia kam.

Im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Er öffnete die Wohnungstür einen Spalt und hörte die Stimmen des älteren Ehepaars, das im dritten Stock wohnte. Er ging in die Küche zurück und nahm die Flasche Cynar aus dem Büfettschrank. Die Gläser waren im Küchenschrank über der Spüle. Joachim schenkte sich großzügig ein und nahm einen kleinen Schluck. Den Aperitif wollte er eigentlich gemeinsam mit Cornelia trinken. Joachim setzte sich an den Küchentisch und grübelte über das nach, was er machen könnte, falls Cornelia nicht nach Hause kommen sollte. Welchen Grund könnte Cornelia gehabt haben, mit dem Zug wegzufahren, ohne ihm Bescheid zu sagen. Vielleicht würde sie noch anrufen und ihm alles erklären, dachte er und nippte an seinem Aperitif. Er musste an heute früh denken, als ihm durch den Kopf ging, wie wenig er doch von Cornelia wusste.

Nachdem er eine ganze Weile nur so dagesessen hatte, stand er auf und ging ins Wohnzimmer. Er wollte bei Cornelias Arbeitskollegin aus dem Kindergarten anrufen. Die Nummer müsste im Telefonbuch zu finden sein. Sie hieß Sandra Fenske, doch er wusste nicht, wie der Nachname genau geschrieben wurde. Das Telefonbuch war nicht im Wohnzimmer. Er fand es schließlich im Arbeitszimmer. Er schlug es auf und suchte unter dem Buchstaben F den Namen Fenske. Der Name kam fünf Mal vor und sogar einmal als Eintrag S. Fenske. Joachim wählte die dort angegebene Nummer. Es war besetzt. Er legte auf und ging ins Wohnzimmer zurück, um seinen Aperitif zu holen, den er auf dem Wohnzimmertisch stehen gelassen hatte. Auf dem Weg zurück durch den Flur trank er aus seinem Glas und verschüttete beinahe etwas. Seit Cornelia bei ihm wohnte, hatte er das schnurlose DECT-Telefon der Strahlung wegen eingemottet. Joachim trank den letzten Schluck aus seinem Glas und wählte die Nummer erneut. Diesmal hörte er ein Freizeichen. Er ließ es mindestens zehnmal klingeln. Niemand nahm am anderen Ende der Leitung ab. Er setzte sich in den Zweiersessel gegenüber vom Schreibtisch und blätterte lustlos in verschiedenen Zeitschriften. Immer wieder horchte er nach der Wohnungstür. Nichts, kein Laut, kein Schlüssel, der ins Türschloss gesteckt wurde und kein Knarren im Treppenhaus. Es verging bestimmt eine Stunde, dann wählte er ein weiteres Mal die Nummer. Es nahm keiner ab. Er hatte Hunger und so ging er in die Küche. Er schaute ins Tiefkühlfach. Frühlingsrollen, Flammkuchen, Backcamembert, hart gefrorene selbst gebackene Kuchenstücke und im Gefrierbeutel erstarrte Bolognesesoße. Die Soße hatte Cornelia letzten Sonntag für sie beide gekocht. Er entschied sich für den Flammkuchen. Nach Kochtöpfen, Bratpfannen, Umrühren und Anbrennen war ihm nicht zumute.

Er schob den Flammkuchen in den Ofen, ging zurück ins Arbeitszimmer und wählte die Nummer erneut. Er hörte dreimal das Freizeichen und dann eine tiefe etwas unfreundliche Männerstimme, die sich mit dem Namen Fenske meldete.

»Hallo, hier ist Joachim Magiera. Ich hätte gern Sandra Fenske gesprochen«, sagte er zögerlich.

»Tut mir leid, eine Sandra Fenske haben wir hier nicht«, antwortete die immer noch tiefe aber jetzt freundlich klingende Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

»Entschuldigen Sie bitte, da habe ich wohl die falsche Nummer gewählt«, erwiderte Joachim enttäuscht.

»Macht nichts, kein Problem.«

Joachim überlegte, ob es den Namen Fenske nicht auch mit V gäbe. Er blätterte im Telefonbuch zum Buchstaben V. Hier fand er den Namen mehrfach sowohl mit z in der Mitte als auch mit tz. Der nicht ausgeschriebene Vorname S. kam auch dreimal vor. Zweimal unter Ventzke und einmal in der Schreibweise Venzke. Es schien aussichtslos. Joachim ging zurück in die Küche und schaute nach seinem Flammkuchen. Es war mittlerweile halb acht, aber noch hell draußen. Der Flammkuchen brauchte noch einige Minuten. Joachim nahm eine angebrochene Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank. Es war ein italienischer Merlot aus dem Friaul. Zur selbst gemachten Pizza hätten Cornelia und er heute eine neue Flasche aufgemacht, dachte er traurig, nahm sich ein Weinglas aus dem Büfettschrank und schenkte sich den kalten Rotwein ein. Auf dem Glas schlug sich, genau wie auf der Flasche, die Feuchtigkeit der Raumluft nieder. Es bildeten sich Wassertropfen, die langsam am Glas hinunterliefen. Joachim öffnete die Tür zum kleinen Küchenbalkon und trat hinaus in die immer noch milde Abendluft. Auf dem Balkon stand eine angebrochene Kiste Bier und einige leere Mineralwasserflaschen lagen kreuz und quer in einer Klappbox. Zwischen den Häuserzeilen befanden sich kleine Gärten. Hier war noch leben. Es wurde sogar gegrillt, vermutlich das erste Mal in diesem Jahr. Auf einer Terrasse schräg gegenüber wurde gelacht. Hier standen mehrere Leute mit Proseccogläsern in der Hand und unterhielten sich. Gelegentlich waren die schrillen Stimmen von spielenden Kindern zu hören. Joachim sah hinunter, trank von seinem kalten Rotwein und dachte nach.

Warum hatte Cornelia nicht angerufen? Vielleicht war etwas Unvorhergesehenes passiert und sie hatte nicht die Möglichkeit gehabt, sich zu melden. Aber Telefone gab es doch überall.

Dass Joachim gar nichts über Cornelia wusste, hatte ihm bisher nichts ausgemacht. Sie hatte nie über frühere Beziehungen mit ihm gesprochen. Wenn sie gelegentlich über die Familie redeten, dann nur über Joachims. Und Cornelia schien froh darüber zu sein, dass sie nicht von ihrem bisherigen Leben erzählen musste. Jetzt hätte er gerne mehr über ihre Familie und ihre früheren Freunde gewusst. Joachim nahm einen großen Schluck von seinem Rotwein und starrte wieder gedankenverloren in die Gärten unter sich. Seine Miene verfinsterte sich. Oder hatte Cornelia einen anderen Mann kennengelernt, zu dem sie jetzt gefahren war? Wäre es möglich, dass sie ihn verlassen hatte; aber ihre Sachen waren noch alle in der Wohnung. Doch das musste nichts heißen, schließlich konnte sie ihren Kram später noch holen, in ein bis zwei Tagen vielleicht, zusammen mit ihrem neuen Freund. Konnte es sein, dass Cornelia ein Mensch war, der es nie lange in einer Partnerschaft aushielt? Joachim musste an die Katze denken, die seine Schwestern und er für eine Weile hatten, als sie noch bei ihren Eltern wohnten. Die Katze war ihnen zugelaufen. Zunächst hatten sie versucht, den Besitzer ausfindig zu machen. Sie fragten überall in der Nachbarschaft herum, wem die Katze gehören könnte, ergebnislos. Die Katze blieb bei ihnen und bekam den Namen Morle. Tagsüber streunte sie in der Gegend herum und kehrte abends immer wieder zurück zur Familie Magiera. Sie hatte einen festen Platz im Wohnzimmer, war sehr anhänglich und anschmiegsam. Das ging ungefähr ein Jahr so, dann war sie plötzlich verschwunden. Der erste Gedanke war, dass Morle von einem Auto überfahren wurde. Wieder fragte Joachim in der Nachbarschaft herum. Niemand hatte die Katze gesehen. Zwei Jahre später entdeckten sie Morle in einer anderen Siedlung, nur wenige Kilometer entfernt. Sie hatte sich ein neues zu Hause gesucht. Sie wohnte jetzt bei einer alten alleinstehenden Frau. Joachim und seine Schwestern unternahmen gar nicht erst den Versuch, die Katze wieder zu sich zu holen. Später hörte er, dass Katzen wie Morle gar nicht so selten waren.

Cornelia war erst seit acht Monaten in der Stadt. Sie war aus Frankfurt hergezogen, um die Stelle als Erzieherin im städtischen Kindergarten anzutreten. In Frankfurt hatte sie zuletzt Kunstpädagogik studiert, aber das Studium dann abgebrochen. Als Joachim Cornelia kennenlernte, wohnte sie noch in einem möblierten Zimmer. Joachim war seit zwei Jahren wieder solo, nach seiner bald dreijährige Beziehung zu Sonja, einer Bankkauffrau. Mit Cornelia fühlte es sich ganz anders an, als damals mit Sonja.

Cornelia schien außer Sandra, ihrer Kollegin aus dem Kindergarten, keinen Menschen in der Stadt zu kennen. Hin und wieder traf sie sich mit ihr abends zum Glas Wein. Es gab also sonst niemanden, den Joachim hätte anrufen können.

Joachim trank das Glas leer. Der kalte Wein schmeckte ihm nicht besonders gut. Er hatte einen kleinen Schwips und trat vom Balkon in die Küche zurück. Der Flammkuchen war schon etwas dunkel geworden. Joachim nahm sich vor, nach dem Essen noch einmal zu versuchen, Sandras Telefonnummer ausfindig zu machen. Er schenkte sich erneut Rotwein ein. Seine Hand wurde von der Flasche nass. Er wischte sie sich an seiner Jeanshose trocken.

Nachdem er den Flammkuchen gegessen und das dritte Glas Wein getrunken hatte, ging er zurück ins Arbeitszimmer und versuchte noch zweimal Sandra zu erreichen. Doch auch diese Venztkes konnten mit einer Sandra nicht dienen. Es war bereits nach zehn Uhr, als sich Joachim auf die Couch im Wohnzimmer legte. Er war vom Rotwein müde geworden. Am dunklen Abendhimmel zogen kaum sichtbar die ersten Regenwolken auf. Für den nächsten Tag waren stärkere Schauer und deutlich kühlere Temperaturen vorausgesagt. Joachim schlief ein. Gegen zwei in der Nacht wachte er auf. Er taperte müde ins Schlafzimmer und legte sich in das französische Doppelbett. Nur seine Jeanshose zog er noch aus und schlief dann sofort wieder ein.

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