Читать книгу Albulapass - Fabian Holting - Страница 6
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ОглавлениеDie Zugtür zischte hinter Joachim zu. Er war der einzige Fahrgast, der hier ausstieg. Er verließ den Bahnsteig und machte sich auf den Weg, um die letzten Meter bis zum Büro zurückzulegen. Es roch nach Urin. Abends war in dieser Gegend viel los. Es gab Kneipen, Restaurants, Swinger Clubs und sogar eine Table-Dance-Bar. Er kam am Schlafplatz einiger Obdachloser vorbei. Zwei schliefen noch in ihren speckigen Schlafsäcken. Ein Dritter kauerte unter seiner schmutzigen Decke und sah ihn mit glasigen Augen an. Eine Flasche Korn, noch halb voll, stand neben ihm. Zwei weitere Schlafsäcke waren leer. Joachim kannte diesen Anblick. Hinter der nächsten Hausecke erhob sich das sechsstöckige Bürohaus, in dem er arbeitete. Er musste in die dritte Etage. Wie jeden Tag nahm er nicht den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Wenn er schon den ganzen Tag sitzen musste, wollte er wenigstens jede Gelegenheit nutzen, sich zu bewegen. Manchmal begegneten ihm im Treppenhaus Junkies, die sich hier gerne in Ruhe einen Schuss setzten. Heute traf er dort niemanden an. Joachim zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Er brauchte seine Legickarte zum Öffnen der Tür. Die Spedition Rohling und Söhne hatte gleich zwei komplette Etagen gemietet, die aber nur über das allgemeine Treppenhaus miteinander verbunden waren.
Im Flur war das leise Rattern des Kopierers zu hören. Die dienstälteste Auszubildende stand davor. Sie war bekannt für ihr aufreizendes Outfit. Die Wettervorhersage hatte sie zum Anlass genommen, einen ihrer kürzesten Röcke auszuwählen. Joachim grüßte sie. Freundlich lächelnd erwiderte sie seinen Gruß. Die meisten Mitarbeiter der Spedition saßen in größeren Büroräumen mit sechs bis zehn Arbeitsplätzen. Joachim bildete hier mit seinem Kollegen Olaf Müller die Ausnahme. Sie teilten sich ein Büro und stellten die sogenannte MFA-Abteilung im Unternehmen dar. Diese Abkürzung hatte sich Olaf Müller ausgedacht, als er während einer Sitzung mit den Mitarbeitern von zwei kooperierenden Speditionen auf seinen Aufgabenbereich angesprochen wurde. Er antwortete MFA-Abteilung und sprach die drei Buchstaben natürlich englisch aus. Dieser Sitzung folgten noch weitere und irgendwann hatte tatsächlich einer der Teilnehmer den Mut aufgebracht, zu fragen, wofür denn die drei Buchstaben ständen. Olaf Müller antwortete trocken »Mädchen für alles« und hatte zahlreiche Lacher auf seiner Seite. Offiziell bildeten sie eine Art Controlling-Abteilung, die aber nicht selten Aufgaben zugewiesen bekam, die in keine der definierten Arbeitsbereiche fielen.
Als Joachim bei der Spedition anfing, hatte er noch viele operative Aufgaben, wie das Erstellen von Transportpapieren und das Buchen von Containerverschiffungen, zu erledigen, schließlich wurde er nicht als Betriebswirt eingestellt, sondern als Speditionskaufmann. Und es sollte noch eine Zeit dauern, bis der Inhaber der Spedition, Herr Rohling, erkannte, dass er mit Joachim einen Mitarbeiter eingestellt hatte, der sehr selbstständig arbeitete und auch für kompliziertere Aufgaben eingesetzt werden konnte. Joachim freute sich über den Tag, als Herr Rohling ihn gewissermaßen in die Controlling-Abteilung beförderte. Noch am selben Abend ging er mit Cornelia indisch Essen, um seinen kleinen Karrieresprung ein wenig zu feiern. Anschließend fuhren sie noch in eine Bar mit dem Namen Cherry Lounge, um bei einem Longdrink und leiser Klaviermusik den Abend ausklingen zu lassen. Sie studierten lange die Getränkekarte. Einige Cocktailnamen kannten sie, andere wiederum waren ihnen völlig fremd und entstammten wohl der Fantasie des Barmixers. Für Joachim brachte die Bedienung einen Sidecar. Cornelia hatte einen Margarita mit Salzrand gewählt. Während sie an ihren Cocktails nippten, erzählte Joachim, dass der Cocktail Sidecar seinen Namen angeblich einem genussfreudigen Pariser Lebenskünstler zu verdanken hatte, der sich im Beiwagen eines Motorrads regelmäßig von Bar zu Bar kutschieren ließ. Cornelia glaubte ihm die Geschichte nicht und vermutete, dass Joachim sie sich gerade ausgedacht hatte.
Als Joachim die Bürotür öffnete, saß Olaf Müller an seinem Schreibtisch und erwiderte Joachims Guten Morgen mit einem lang gedehnten »Mahlzeit«. Es war einer seiner Späße, die er nur selten anbringen konnte, da er in der Regel immer deutlich später als Joachim ins Büro kam. Olaf war der einzige Mitarbeiter im Unternehmen, den Joachim duzte. Von Anfang an hatte er den Eindruck, dass das zwanghafte Duzen bei Rohling & Söhne nicht so gerne gesehen wurde. Olaf Müller war ein richtiger Spaßvogel, mit rundlichem Gesicht und untersetzter Figur. Mit ihm hatte er schnell Freundschaft geschlossen und schon bald gingen sie zum Du über.
»Du siehst so gut gelaunt aus. Was ist los?«
»Mein Fahrrad hat einen Platten. Ich musste es auf halbem Weg stehen lassen und mit dem Zug das letzte Stück fahren«, antwortete Joachim.
»Es gibt Schlimmeres«, sagte Olaf und stand auf.
»Mir geht nur eine Sache nicht aus dem Kopf. Am Bahnhof war eine Frau, die sah genauso aus wie...... «
»Komm jetzt, das kannst du mir später noch erzählen«, unterbrach ihn Olaf, wir müssen jetzt erst einmal ins Meeting, sonst meckert der Rohling wieder. Der hasst doch Unpünktlichkeit wie die Pest.« Während Olaf das sagte, war er bereits auf dem Weg zur Bürotür. Joachim nahm noch schnell seine Konferenzmappe und einen schmalen Ordner aus seinem gerade aufgeschlossenen Büroschrank und folgte ihm mit großen Schritten in den Flur. Wortlos gingen sie zum großen Besprechungsraum, der sich auf der gleichen Etage befand. Sie mussten zur morgendlichen Besprechung mit Herrn Rohling, die pünktlich um zehn Uhr zu beginnen hatte.
Das Meeting dauerte eine knappe Stunde und damit deutlich länger als sonst üblich. Herr Rohling hielt wieder alle Fäden fest in der Hand und bestach wie immer durch seine scheinbar angeborene Fähigkeit, Mitarbeiter zu führen. Es wurden zahlreiche Aufgaben zur sofortigen Erledigung ausgemacht und verteilt. Wie nicht anders zu erwarten war, landete ein ganzer Haufen von Tasks, wie Herr Rohling zu sagen pflegte, bei der MFA-Abteilung, namentlich bei Müller & Magiera. Joachim und Olaf hatten sich an diesen Zustand bereits gewöhnt und machten sich nach einem kurzen Zwischenstopp in der Küche sofort an die Arbeit. Mit vollen Kaffeebechern kamen sie in ihr Büro zurück. Bei der Arbeit trank Joachim gerne Kaffee. Zum Reden hatten sie jetzt keine Zeit mehr. In einer halben Stunde erwartete Herr Rohling erste Ergebnisse. Joachim hatte erst wenige Schlucke von seinem Kaffee getrunken, als Herr Rohling plötzlich in der Tür stand.
»Heute um vierzehn Uhr kommen die Maersk-Leute, da hätte ich Sie beide gerne dabei«, rief er in den Raum. Olaf und Joachim schauten kurz auf, nickten zustimmend und starrten dann wieder angestrengt auf ihre Flachbildschirme.
Der Vormittag war komplett mit Arbeit ausgefüllt. Zwischendurch gab es noch zwei Anfragen vom Vertrieb, die Joachim umgehend bearbeitete. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, bei Cornelia im Kindergarten anzurufen, doch Cornelia sah es nicht gern, wenn er sie im Kindergarten störte. Es sei immer ungünstig und unkollegial, von den Kindern weggeholt zu werden und außerdem müssten die Kollegen im Sekretariat sie oft erst suchen, hatte sie einmal gesagt. Sie besaß auch kein Handy, weil sie der Meinung war, nicht immer und überall erreichbar sein zu müssen, auch nicht für Joachim.