Читать книгу Albulapass - Fabian Holting - Страница 14
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ОглавлениеDie Wettervorschau stimmte. Es hatte die ganze Nacht über geregnet und auch für den gerade angebrochenen Tag wurden weitere Niederschläge vorhergesagt. Ein Hochdruckgebiet sollte sich erst in zwei Tagen von Südosten durchsetzen.
Joachim stand abfahrtbereit im Flur. Er war früh wach geworden und mit dem festen Entschluss nach Caputh zu fahren, aufgestanden. Er hatte das Nötigste in seine große Sporttasche eingepackt und sie bereits in den Flur gestellt. Er prüfte nochmals den Inhalt der Innentasche seiner Trekkingjacke. Alles, was er zuvor dort hineingeschoben hatte, fand er vor. Lederetui mit Personalausweis, Führerschein, die Maestro-Karte und einen Hunderteuroschein. Er nahm seine gepackte Sporttasche und ging zu seinem Auto.
Am Vorabend hatte er noch spät versucht, Walter und Gisela Pätzold in Caputh zu erreichen. Es hatte niemand abgenommen. Kurz danach hatte sich Sandra Fenske bei ihm gemeldet. Von Cornelia hatte sie immer noch nichts gehört. Auch bei der zuständigen Personaldienststelle hatte Cornelia keine Nachricht hinterlassen. Sandra hatte sich dort noch gestern Nachmittag, unter dem Vorwand einer vermissten Krankmeldung erkundigt. Sollte Cornelia noch einen weiteren Tag unentschuldigt fernbleiben, so könnte dies arbeitsrechtliche Konsequenzen mit sich bringen, hatte Sandra ihm noch mitgeteilt. Joachim erzählte ihr von der Todesanzeige und dass er unbedingt versuchen wollte, mit Cornelias Verwandten in Caputh in Kontakt zu treten, auch wenn er deswegen dort hinfahren müsste. Er war jetzt davon überzeugt, dass Cornelias plötzliches Verschwinden im Zusammenhang mit ihrer Familie stand und dass ihre Eltern wahrscheinlich gar nicht mehr lebten.
Er hielt an einer Tankstelle, um zu tanken. Es war wenig Betrieb. Mit seiner Maestro-Karte bezahlte er die Tankfüllung, eine Tageszeitung, eine Flasche Mineralwasser und zwei Schokoriegel. Bevor er losfuhr, warf er noch einen Blick in den Autoatlas, der im Ablagefach der Beifahrertür klemmte. Er hatte knapp fünfhundert Kilometer vor sich. Am besten auf dem direkten Weg zur A2, dachte er. Im Radio stellte er den Sender mit den verlässlichsten Verkehrsmeldungen ein. Lange Strecken mit dem Auto zu fahren, machte Joachim nichts aus. Er hatte die Gewohnheit, geduldig und ohne zu rasen die Kilometer abzufahren.
Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, als Joachim die Autoabfahrt nahm und durch eine waldreiche Gegend in der Nähe des Schwielowsee fuhr. Den Schildern folgend, steuerte er seinen Wagen von einer gut ausgebauten Straße in die dunkle Caputher Chaussee, die nach wenigen Minuten in die Geltower Chaussee überging und etwas holpriger wurde. Als Joachim schon glaubte, sich verfahren zu haben, entdeckte er den Fähranleger der Seilfähre nach Caputh. Er stellte sich für die kurze Überfahrt an. Die Seilfähre hatte gerade abgelegt und wurde langsam die knapp hundert Meter über die Caputher Gemünde auf die andere Uferseite gezogen. Mittlerweile war er seit über sieben Stunden unterwegs, ohne eine Pause gemacht zu haben. Sein Proviant, welcher aus der Flasche Mineralwasser und den zwei Schokoladenriegeln bestanden hatte, war längst aufgebraucht. Müde und mit leicht schmerzendem Rücken saß Joachim hinter dem Steuer und wartete auf die Fähre. Er musste an Cornelia denken. Wie oft hatte sie hier als Kind gestanden und gewartet? Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder im Auto ihrer Eltern, mit Schulfreunden, mit Margot oder mit Peter Frank. Wie vertraut musste ihr das alles sein. Der See, das Ufer, die Häuser und die Seilfähre. Er dachte an den Tag zurück, als er Cornelia das erste Mal begegnet war:
In jenem Jahr hatte der Sommer dem Herbst nicht weichen wollen. Es war bereits Ende September gewesen. Das Thermometer hatte, nachdem es die Tage zuvor nur knapp gescheitert war, erstmalig die Dreißiggradmarke erreicht. So heiß war es sonst nur im Juli oder allenfalls mal im August. Joachim hatte kurz entschlossen ins Freibad gehen wollen. Die Badesaison, die üblicherweise bereits Mitte September endete, war bis auf Weiteres wegen des guten Wetters verlängert worden. Schon aus der Ferne hatte Joachim das Stimmengewirr gehört, in das sich immer wieder das schrille Kreischen übermütiger Kinder mischte. Es war Samstagnachmittag und vor dem Kassenhäuschen des Freibades war eine beträchtliche Warteschlange. Eigentlich mochte Joachim überfüllte Freibäder nicht und wäre am liebsten zum See hinausgefahren. Doch dafür war es schon zu spät am Tag.
Zwischen den Gitterstangen des Eingangsbereiches konnte er die überfüllten Rasenflächen sehen. Rund um die zwei großen Schwimmbecken lagen die Menschen dicht an dicht. Familien mit Kindern, Teenager in kleinen und großen Gruppen. Alle Generationen waren vertreten. Die beiden Schwimmbecken schienen nicht mit Wasser, sondern mit Menschen gefüllt zu sein. Alles war in Bewegung. Im Sprungbecken stiegen nach jedem Springer Wasserfontänen hoch, die kugelförmig in der glühenden Luft auseinanderbrachen und in der Sonne glitzernd ins Becken zurückfielen.
Joachim stand mit seinem zusammengerollten Handtuch unter dem Arm in der Warteschlange. Skeptisch verfolgte er das Treiben im Freibad. Beim Anblick der überfüllten Liegewiesen und des Schwimmbeckens verging ihm die Lust auf dieses Sommergewühle. Er trat aus der Warteschlange heraus. Die Leute hinter ihm sahen ihn verwundert an. In diesem Moment näherte sich Cornelia zögerlich dem Freibad. Das ganze Treiben und die Geräuschkulisse schien auch sie abzuschrecken. Joachim ging nur wenige Meter an ihr vorbei und lächelte sie schulterzuckend an, als wollte er sich bei ihr für seinen Entschluss entschuldigen.
Er ging stattdessen in Richtung eines bekannten Ausflugslokals ganz in der Nähe. Entlang des eingezäunten Sommergartens standen viele Fahrräder. Die Tische waren alle gut besetzt und ein gleichmäßiges Gewirr aus Stimmen und hellem Lachen lag auch hier in der Luft. Die großen Kastanienbäume am Rand und auch innerhalb des Sommergartens waren bereits herbstlich verfärbt. Mit dem zusammengerollten Handtuch unter dem Arm sah Joachim sich nach einem freien Platz um. Er hatte Glück, weil gerade ein Zweiertisch frei wurde. Er setzte sich und legte seine Badesachen auf den zweiten Stuhl. Er bestellte sich eine Berliner Weiße mit Waldmeister. Cornelia hatte sich ebenfalls gegen das Freibad entschieden und spazierte gemütlich auf den Sommergarten zu. Einige Augenblicke später sah auch sie sich nach einem freien Platz um. Über ihrer linken Schulter hing eine hellblaue Tasche mit langem Schulterriemen. Sie war sommerlich gekleidet und trug ein rotes Baumwollkleid mit tiefem runden Ausschnitt im Vorder- und Rückenteil. Das Kleid reichte ihr etwa bis zu den Knien und betonte ihre gute Figur. Ihre kastanienbraunen Haare waren durchgestuft und in der Form eines ausgefransten Bobs mit kurzem Pony geschnitten. Sie war nicht geschminkt und wirkte dadurch sehr natürlich. Trotz ihres attraktiven Aussehens erweckte sie nicht den Eindruck, als wäre sie auf Flirts aus. Sie hatte einfach das zum heißen Spätsommerwetter Passende angezogen. Dann entdeckte Cornelia den freien Platz an Joachims Tisch. Einige Augenblicke später stand sie auch schon vor ihm und fragte, ob der Platz noch frei wäre. Joachim nahm sein zusammengerolltes Handtuch vom Stuhl und bejahte die Frage. Kurz nachdem Cornelia sich gesetzt hatte, kam die Bedienung und brachte Joachim die Berliner Weiße.
»Gute Idee«, sagte Cornelia und bestellte sich ebenfalls eine Berliner Weiße, allerdings rot statt grün. Aus Cornelias Tasche, die sie über die Rückenlehne des Stuhls gehängt hatte, guckte ihr buntes Handtuch heraus. Beide schwiegen für eine Weile. Dann fragte Joachim sie, ob ihr das Freibad auch zu voll gewesen wäre. An ihrem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass sie ihn noch gar nicht wiedererkannt hatte. Sie überlegte kurz und dann musste es ihr wieder eingefallen sein. Nein, auf solch ein Gewimmel von Menschen hatte auch sie keine Lust gehabt. Während Cornelia ihm erzählte, dass sie viel lieber in einem See schwamm, fuhr sie gelegentlich mit der Hand über ihren Nacken bis hoch zum Hinterkopf, als wollte sie sich vergewissern, dass ihre Haare noch immer kurz geschnitten waren. Die zweite Berliner Weiße wurde serviert und Joachim erzählte, dass es ihm ähnlich ginge. Für den nächsten Tag verabredeten sie sich, mit seinem Wagen an einen schönen See im Umland zu fahren. Joachim war sich am nächsten Tag nicht sicher, ob Cornelia die Verabredung einhalten würde, schließlich hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Gleich nach der ersten Begegnung mit einem Mann einen Ausflug mit dem Auto zu machen, dazu gehörte für eine Frau schon etwas Mut und Vertrauen. Doch Cornelia erschien am nächsten Tag tatsächlich am verabredeten Ort. Als sie dann den ganzen Tag gemeinsam am See verbrachten, wartete Joachim die ganze Zeit darauf, dass Cornelia ihm von ihrem Freund erzählte, um frühzeitig zu klären, dass er mit mehr nicht zu rechnen bräuchte. Doch diese Bemerkung blieb aus.
Am darauffolgenden Tag hatte Cornelia keine Zeit. Sie verabredeten sich einen Tag später zu einem Kaffee nach der Arbeit. Cornelia kannte ein schönes Café. Joachim wartete auch dieses Mal auf eine beiläufige Bemerkung von Cornelia, die ihm mitteilen sollte, dass sie bereits in festen Händen wäre. Doch sie blieb, wie schon am Sonntag, aus. Am Wochenende war das Wetter dann das erste Mal seit Wochen schlecht. Joachim hatte noch gehofft, sie könnten wieder zum See hinausfahren. Sie beschlossen am Samstag in eine Kunstausstellung zu gehen und an diesem Tag wurden sie ein Paar. Nach der Kunstausstellung gingen sie in einem Park spazieren, küssten sich und stellten fest, dass alles sehr schnell gegangen war. Anschließend nahm Cornelia ihn mit in ihr möbliertes Zimmer und sie liebten sich das erste Mal.