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ОглавлениеJoachim ging auf direktem Weg zu seinem Auto. Es hatte vorerst aufgehört zu regnen. Der böige Wind war geblieben. Die große Uhr, die der Juwelier im Schild führte, stand auf kurz vor halb elf. Um diese Zeit ließ der Autoverkehr meistens für einige Stunden nach. Joachim fuhr zurück zu seiner Wohnung. Nur einige Meter von Joachims Auto entfernt, stand ein silberfarbener Alfa Romeo Spider. Schickes Auto, dachte Joachim und ging ins Haus.
Als Joachim die Wohnung betrat, glaubte er den Geruch von kaltem Zigarettenrauch zu riechen, so wie er sich vorübergehend in Kleidern festsetzt. Joachim schnupperte an seiner Jacke und überlegte, wo in seinem Beisein geraucht worden sein konnte. Weder im Kindergarten noch in der Bäckerei oder bei ihm im Büro, ja noch nicht einmal bei Herrn Rohling wurde geraucht. Er ging den Flur entlang. An der Garderobe war alles wie beim Verlassen der Wohnung heute Morgen. Cornelias Lieblingsjacke hing noch immer an ihrem Haken, genau wie die anderen Jacken. Der Geruch war noch immer da. Joachim glaubte an eine Sinnestäuschung. Er ging von Raum zu Raum. Nirgendwo war eine Veränderung zu erkennen. Nichts sprach dafür, dass sich Cornelia oder sonst irgendjemand mit verqualmter Kleidung in der Wohnung aufgehalten haben könnte. Die Küche war das letzte Zimmer, dass Joachim erkunden musste. Auch hier nichts Auffälliges. Joachim bediente sich wieder an der Wasserleitung und trank ein Glas Leitungswasser. Sein Blick wanderte dabei in der Küche umher, vorbei am Herd, am Esstisch, an der Kreidetafel auf der noch die Besorgungen vom letzten Samstag standen, bis hin zur Balkontür, die nur angelehnt war. Er stellte das Glas auf die Anrichte und ging langsam zur Balkontür. Auf dem Balkon war niemand zu sehen. Joachim trat hinaus und stellte sich an das tropfnasse Geländer. Die Gärten waren wie ausgestorben. Auf den Terrassen unter ihm und auf den Balkonen gegenüber und nebenan waren die meisten Stühle und Tische, die gestern herausgeholt worden waren, wieder abgedeckt, gestapelt oder fein säuberlich zur Seite gestellt. Lediglich eine Katze schlich geheimnisvoll durch einen Garten. Er musste wohl vergessen haben, die Balkontür heute Morgen wieder zu verschließen, dachte Joachim und ging in die Küche zurück. Er wollte noch einmal bei Sandra im Kindergarten anrufen. Vorher schaute er auf sein Handy, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand versucht hatte, ihn zu erreichen. Im Kindergarten war er mit dem Sekretariat verbunden. Sandra konnte nicht ans Telefon geholt werden, da die Pinguin-Gruppe gerade einen kleinen Ausflug zu einem Tümpel ganz in der Nähe unternahm. Die Kinder wollten Kaulquappen fangen. Die Mitarbeiterin des Sekretariats versicherte ihm allerdings, dass Cornelia sich immer noch nicht im Kindergarten gemeldet hatte.
Nach diesem Telefongespräch blieb Joachim eine Weile auf dem cremefarbenen Zweiersofa sitzen und betrachtete das Bücherregal mit seinen vielen verschiedenfarbigen Buchrücken. Hier standen überwiegend Taschenbücher, die alle ihm gehörten. Cornelia hatte keine Bücher mitgebracht, als sie bei ihm einzog. Sie hatte nur während ihrer gemeinsamen Zeit das eine oder andere Buch gekauft und nach dem Lesen im Schlafzimmer auf die Kommode gestellt. Auch sonst gab es in der Wohnung nur wenige persönliche Gegenstände von Cornelia. Das wurde Joachim erst jetzt richtig bewusst. Was hatte sie noch beim Einzug gesagt, sie reise mit leichtem Gepäck. Joachim hatte sie nie darauf angesprochen und sich bisher keinerlei Gedanken gemacht, wo Cornelia Möbel, Bücher, Erinnerungsstücke und andere persönliche Gegenstände wohl aufbewahrte. Wahrscheinlich bei ihren Eltern, dachte Joachim. Er stand auf und ging zum Fenster. Es hatte wieder angefangen, aus einer grauen Wolkendecke zu regnen. Er beschloss, den Karton, in dem Cornelia einige persönliche Unterlagen und Gegenstände aufbewahrte, zu durchsuchen. Dieser Karton stand im Arbeitszimmer in einem schmalen Wandregal über dem Schreibtisch. Es war ein roter Pappkarton mit buntem Deckel. Joachim nahm sich den Karton und ging damit zurück ins Wohnzimmer. Er stellte ihn vor sich auf den kleinen Couchtisch und starrte ihn noch einige Minuten an. Dann nahm er behutsam den Deckel ab. Schüchtern schaute er ins Innere des Kartons. Obenauf lagen die Kinokarten vom letzten Film, den sie sich vor Kurzem gemeinsam angesehen hatten. Darunter ihre Gehaltsabrechnungen der letzten Monate, eine Quittung über die Entrichtung der Praxisgebühr bei ihrem Zahnarzt, einige Kontoauszüge und ihr Reisepass. Joachim klappte den Reisepass auf. Er wurde erst vor einem Jahr vom Stadtamt Frankfurt ausgestellt. Cornelia Radeberger, geboren am 22. Juni 1972 in Potsdam, Wohnort Frankfurt, Größe 171 Zentimeter, Augenfarbe braun. Auf dem blassen, fast farblosen Foto hatte sie noch lange Haare und war kaum zu erkennen. Ihr Mund war geschlossen. Auf solchen Fotos durfte man nicht freundlich schauen. Noch eine ganze Weile betrachtete Joachim das Foto und das Hologramm daneben, welches ihr Gesicht nur schemenhaft und völlig entfremdet zeigte. Dann widmete er sich wieder dem Inhalt des Pappkartons. Als Nächstes folgte der Anstellungsvertrag mit dem städtischen Kindergarten und eine Bewerbungsmappe. Er nahm die Bewerbungsmappe heraus und ließ sich in die Rückenlehne der Couch fallen. Obenauf lag das Bewerbungsanschreiben mit den üblichen Formulierungen und Floskeln. Zweieinhalbjährige Ausbildung als Erzieherin in Potsdam, fast vierjährige Berufspraxis durch eine Anstellung als Erzieherin in einem Kreuzberger Kindergarten, Erlangung weiterer Qualifikationen durch das Studium der Kunstpädagogik. Er blätterte weiter zum Lebenslauf. In der rechten oberen Ecke klebte ein farbiges Bewerbungsfoto, auf dem Cornelia noch lange Haare hatte. Das Foto schien zur gleichen Zeit aufgenommen worden zu sein, wie das im Reisepass, es hatte aber sattere Farben und Cornelia lächelte freundlich. Im Lebenslauf standen die gleichen Informationen wie im Anschreiben, nur in tabellarischer Form mit der Überschrift Beruflicher Hintergrund und der Angabe von Zeiträumen. Weitere Angaben waren unter den Überschriften Schule und Interessen zu finden. Von 1978 bis 1990 Polytechnische Oberschule und Erweiterte Oberschule in Caputh und Potsdam, Abschluss Abitur, Note gut; Interessen Lesen, Spaziergänge am Meer, Kochen mit Freunden, mediterrane Küche. Joachim schaute auf und sah nachdenklich zum Fenster. Er war mit Cornelia noch nie am Meer gewesen.
In der Bewerbungsmappe und im Pappkarton lagen noch einige Zeugniskopien aus ihrer Schulzeit, die noch mit der Überschrift Deutsche Demokratische Republik ausgestellt worden waren. Ein Ausbildungszeugnis von der Senatsverwaltung in Berlin lag ebenfalls dabei. Es folgten einige Teilnahmenachweise für diverse Hochschulveranstaltungen im Studienfach Kunstpädagogik und eine Zeitschrift für Kunstwissenschaften. Auf dieser Zeitschrift lagen mehrere kleine bis mittelgroße ungeschliffene Bernsteine, die Cornelia wohl bei ihren Spaziergängen am Meer gefunden hatte. Außerdem ein gepresstes und in einer kleinen durchsichtigen Plastiktüte aufbewahrtes Edelweiß. Am Boden des Pappkartons lag Cornelias Geburtsurkunde in einer Klarsichtfolie. Es schien das Original zu sein. Auf der Urkunde mit dem Stempel der Deutschen Demokratischen Republik waren Hannelore Radeberger, geborene Frank und Klaus Radeberger als Eltern eingetragen. Ausgestellt wurde die Geburtsurkunde vom Standesamt Potsdam. Jetzt kannte er wenigstens die Vornamen von Cornelias Eltern. Beim Versuch, die Urkunde wieder in die Klarsichtfolie zu schieben, flatterte ein kleiner Zeitungsausschnitt zu Boden, der wohl an der Rückseite gehaftet hatte. Es war eine Todesanzeige. Joachim knipste den Deckenfluter an. Obwohl es gegen Mittag ging, hatte der wolkenverhangene Himmel den Tag so verdunkelt, dass das Lesen im schummrigen Licht anstrengend war.
Ein Lebenskreis hat sich geschlossen. Wir trauern um Margot Frank. Die Verstorbene wurde vierundsechzig Jahre alt. Weiter hieß es, in Liebe und Dankbarkeit Peter Frank, Cornelia Radeberger, Walter und Gisela Pätzold, geborene Frank sowie alle Angehörigen, Caputh im Juli 2006.
Die Anzeige war also etwa zehn Monate alt. Joachim schaute sich erneut Cornelias Geburtsurkunde an. Warum standen ihre Eltern nicht als Trauernde in der Anzeige, schließlich war ihre Mutter eine geborene Frank. Konnte es sein, dass ihre Eltern nicht mehr lebten?
Bis auf die Todesanzeige und Cornelias Geburtsurkunde legte er alles wieder in der gleichen Reihenfolge in den Pappkarton zurück und stellte diesen an seinen Platz im Arbeitszimmer. Soweit Joachim wusste, hatte Cornelia in die Schubladen des Schreibtisches keine persönlichen Dinge gelegt. Hier lagen nur Unterlagen von ihm selbst. Joachim überlegte, wo er noch nachschauen konnte. Er ging hinüber ins Schlafzimmer. Die Nachttischschublade auf Cornelias Seite war einen kleinen Spalt geöffnet. Gestern und heute Morgen war ihm das gar nicht aufgefallen. Er öffnete die Schublade und räumte sie aus. Er legte zwei Zeitschriften älteren Datums, ein angefangenes und dann zur Seite gelegtes Buch, zwei Packungen Papiertaschentücher, drei separat eingepackte Slipeinlagen, Ohrringe, zwei silberne Ringe, eine Lederkette, auf die einige billige Ethnic-Perlen aufgezogen waren, auf die Bettdecke. Auf dem Nachttisch lag das Buch, das Cornelia gerade las. Daneben ein weiteres paar Ohrringe und eine angebrochene Packung Papiertaschentücher. Joachim öffnete den Kleiderschrank. Mehr als die Hälfte der Fächer und Kleiderbügel waren mittlerweile durch Cornelias Sachen belegt. Hier hingen zwei Sommerjacken und ein von ihr selten benutzter Wollmantel. Die Taschen waren, bis auf einen zusammengeknüllten Einkaufszettel, leer. Als Nächstes nahm er sich die Garderobe im Flur vor. Hier hing die Lieblingsjacke von Cornelia, allerdings einen Haken höher, als er von gestern in Erinnerung hatte, aber festlegen wollte er sich da nicht. Beim Durchsuchen rutschte ihm die Jacke vom Haken und fiel auf den Boden. Er hängte sie wieder auf. Die Taschen waren bis auf einen zusammengefalteten Baumwollbeutel leer. Joachim kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Das Telefonbuch lag noch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Er klappte es zu und legte es zur Seite. Aus der Schreibtischschublade nahm er sein Notebook heraus und stellte es auf den Schreibtisch. In der oberen Schublade des Seitenkorpus platzierte er immer die Maus, die jedoch nicht mehr oben auf der letzten Telefonrechnung lag, sondern unter dem Stapel. Vielleicht war Cornelia das letzte Mal am Notebook gewesen und hatte die Maus darunter geschoben, dachte er. Joachim steckte das Netzwerkkabel in die Buchse an der Rückseite des Notebooks, um die Verbindung mit dem DSL-Router herzustellen. Als Erstes ließ er nach dem Namen Radeberger suchen. Der Name kam nur einige wenige Male vor. Ein Klaus oder eine Hannelore Radeberger wies das Suchergebnis nicht auf. Jetzt gab er den Namen Peter Frank ein. Der Name Frank mit Beteiligung des Vornamens Peter kam mehrere Tausendmal vor. Joachim grenzte das Suchergebnis auf den Wohnort Caputh ein. Der Ort Caputh wurde unter dem Gemeindenamen Schwielowsee geführt. Ausgerechnet hier gab es keinen Peter Frank. Aber in Berlin und Potsdam kam der Name Peter Frank viele Male vor. Es war aussichtslos die Telefonnummer vom richtigen Peter Frank ausfindig zu machen, ohne zu wissen, in welcher Stadt er wohnte. Jetzt nahm er sich den Namen Walter Pätzold vor. Wie vermutet, bei der bundesweiten Suche gab es viele Tausend Treffer. In der Gemeinde Schwielowsee gab es dagegen nur einen Walter Pätzold, zwar ohne eine Gisela, aber das war nichts Ungewöhnliches. Joachim schrieb sich Telefonnummer und Anschrift auf. Als Letztes tippte er den Namen Margot Frank ein und grenzte die Suche gleich auf die Gemeinde Schwielowsee ein. Fehlanzeige. Der Telefonbucheintrag wird längst gelöscht worden sein, überlegte Joachim und hatte plötzlich die Idee, auf einer CD-ROM von Anfang 2002 nach dem Namen zu suchen. Er sah sich in seinem Regal mit den Software- und Daten-CDs um. Nach einer Minute hatte er die CD gefunden und legte sie in das Laufwerk. Tatsächlich, hier gab es noch eine Margot Frank in der Gemeinde Schwielowsee. Der Eintrag war sogar mit Anschrift aufgeführt. Joachim schrieb sich Telefonnummer, Straße und Hausnummer ab.
Er griff zum Telefonhörer. Als Erstes wollte er Walter Pätzold anrufen. Er wählte die Nummer und ließ es viele Male klingeln. Es nahm niemand ab. Er schaute auf die Uhr, es war Viertel vor eins. Vielleicht waren Walter und Gisela Pätzold gerade unterwegs oder bei der Arbeit. Er überlegte, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die Personen, deren Namen er jetzt kannte, zu Cornelia stehen könnten. Margot Frank hätte vom Alter her die Schwester von Hannelore Radeberger, geborene Frank gewesen sein können, also Cornelias Tante. Peter Frank ist sicherlich der Sohn, möglicherweise auch der Bruder von Margot, dachte Joachim. In welchem Verhältnis Cornelia zu Walter und Gisela Pätzold, geborene Frank stand, war vollkommen offen. Gisela könnte sowohl Tante, als auch Cousine sein, folgerte er. Es schien wie eine mathematische Gleichung mit mehreren Unbekannten zu sein. Warum hatte er nicht schon früher mit Cornelia über solche Dinge gesprochen. Er hätte fragen können, schließlich hatten sie sich auch für seine Familie interessiert. Diese Grübelei half ihm jetzt nicht weiter. Später würde er noch einmal versuchen, Walter und Gisela Pätzold zu erreichen. Eigentlich war jetzt die Zeit, zu der er mit seinem Arbeitskollegen Olaf das Büro verließ, um etwas in der Stadt zu essen. Heute wollte sich der Hunger nicht einstellen.
Joachim setzte sich wieder vor sein Notebook. Er wählte aus der Liste der Lesezeichen eine Suchmaschine aus und gab den Begriff Caputh ein. Einer der ersten Treffer verwies auf eine Seite von Wikipedia, die er sofort auswählte. Hier stand:
Caputh ist ein Ort der Gemeinde Schwielowsee im Landkreis Potsdam-Mittelmark von Brandenburg. Es liegt südwestlich vor Potsdam am Schwielowsee und am Templiner See, die von der Havel durchflossen werden.
Joachim rief Google-Maps auf und nahm den Notizzettel mit den Telefonnummern und Anschriften zur Hand. In das Suchfeld gab er Schwielowsee und die Anschrift von Walter Pätzold ein. Ein Satellitenbild von Caputh, umgeben von den genannten Seen und einem weiteren erschien am Bildschirm. Ein Pfeil zeigte mitten in den Ort hinein. Joachim wechselte in die Hybridansicht. Jetzt wurden in das Satellitenbild die Straßennamen eingezeichnet. Er stellte seinen Farbtintenstrahldrucker an und druckte das Blatt aus. Als Nächstes gab er die Anschrift von der verstorbenen Margot Frank ein. Die Satellitenbildeinstellung änderte sich nicht. Die Straße befand sich in unmittelbarer Nähe zur Ersten und er brauchte kein zweites Mal zu drucken. Er stand auf und ging grübelnd im Zimmer auf und ab. Gelegentlich sah er hinüber zum Telefonhörer oder horchte, ob sich etwas im Treppenhaus tat. Alles blieb ruhig. Der Nachmittag wollte nur allmählich vergehen. Obwohl Joachim von Minute zu Minute auf einen Anruf von Cornelia hoffte, fiel ihm das Warten schwerer als er gedacht hatte. Am liebsten wäre er gleich losgefahren, um nach Cornelia zu suchen. Egal wo, in Oberhausen, Frankfurt oder Caputh. Doch er hielt Sandras Rat, den heutigen Tag noch abzuwarten, für vernünftig. Vielleicht hatte Cornelia gute Gründe, sich nicht sofort bei ihm zu melden und würde es heute im Laufe des Tages noch nachholen. Joachim ging zurück ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er zappte sich durch die Vielzahl der Programme und wählte eine Sendung über Eisbären in Kanada aus.