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Der Besuch der alten Dame
Zürich, 29. Januar 1956. Der Vorhang hebt sich – und es beginnt die Uraufführung eines Stückes, das Theatergeschichte schreiben wird: »Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt.
Tolle Story. Eines Tages kehrt eine alte Dame zurück in ihre Heimatstadt. Sie ist inzwischen reich geworden und will sich an denen rächen, die sie in ihrer Jugend schlecht behandelt haben. Also macht sie den Bewohnern ein äußerst unmoralisches Angebot: »Ihr bekommt eine Milliarde, wenn ihr meinen früheren Liebhaber ermordet.« Was?
Natürlich sind alle zuerst unglaublich empört. So eine bodenlose Unverschämtheit. »Was bildet die sich ein?« Na, obwohl … Nach und nach erliegen die Leute der Verlockung des Geldes, und plötzlich ist das mit dem Mord gar nicht mehr so undenkbar.
»Der Besuch der alten Dame« entlarvt frech und satirisch die Scheinmoral, die Käuflichkeit und den Egoismus von Menschen. Zudem stellt das Stück natürlich unverhohlen eine ziemlich verfängliche Frage: »Wie weit würden wir eigentlich gehen, wenn nur der Preis stimmt?« Sprich: Sind wir käuflich? Sind wir bereit, andere oder etwas von uns selbst zu opfern, nur weil das Geld lockt?
Ich behaupte mal: Käuflich ist jeder, der das Gefühl hat, zu kurz zu kommen. Wer dagegen grundsätzlich zufrieden ist, der wird seine Moral nicht für Geld verkaufen. Letztlich fragt deshalb »Der Besuch der alten Dame« auch, was uns in unserem Leben trägt und woran wir eigentlich glauben. Spannende Frage.