Читать книгу Der amerikanische Agent - Fabrizio Gatti - Страница 10

DAS VERSPIEGELTE ZIMMER

Оглавление

An diesem Punkt muss Simone Pace Simone Pace eliminieren. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Nicht, dass ihm der Mut zum Töten fehlen würde. Das hat er öfter miterlebt. Aus der Nähe, aus allernächster Nähe. Er kennt den Ammoniakgeruch des Schießpulvers. Das Plopp des Schalldämpfers. Den letzten erstickten Klagelaut in der Luft. Das Opfer, das in sich zusammensackt wie ein Haufen leere Kleider. So wie an jenem Abend in Brüssel vor vielen Jahren. Ein leises Plopp ins Genick. Zwei. Beim dritten war Gerald Bulls Körper schon erschlafft. Das vierte und fünfte Plopp waren nur zwei Pinselstriche, dem Schauplatz des Verbrechens hinzugefügt. Dann nur noch das reglose, stumme Licht des Treppenabsatzes. Und die Geschichte nahm einen anderen Verlauf. Jerusalem war gerettet. Die Israelis waren gerettet. Die Palästinenser auch. Wir sind bis heute gerettet. Ein einziger, nicht Zehntausende von Toten. Ein einziger Toter, und Saddam Hussein stand nackt da. Die Superkanone sollte seine Geheimwaffe sein. Von großer Zerstörungskraft, treffsicher, zuverlässig. Sie hätte das Gleichgewicht der Kräfte verändert. Wer erinnert sich noch daran? Fünf schallgedämpfte Schüsse aus einer Pistole Kaliber 7,65 Millimeter. Und der Konstrukteur der tödlichen Waffe, der zynischerweise mit einem Baguette unter dem linken Arm überrascht wurde, den Schlüssel schon in der Tür seiner Wohnung, wanderte vom Schlachtfeld direkt auf den Friedhof. Ende der Geschichte.

Gerald Bull hat ihm immer leidgetan. Er hat ihn stets als ein Opfer betrachtet. Als Gefangenen seines Genies, seines Ehrgeizes, seines Projekts, das er in die falschen Hände legte. In die Hände des Diktators von Bagdad. Der Zug schießt aus dem Tunnel. Die plötzliche Helligkeit rüttelt Simone Pace aus seinen dumpfen Gedanken. Seine Augen sind geblendet. Die ins Licht der Morgensonne getauchte Landschaft löscht das Spiegelbild seines Gesichts im Fenster. Es scheint auf und verschwindet wieder. Ein Schlag so dumpf, als hätte er Stöpsel in den Ohren. Der Zug rast in einen neuen Tunnel. Zweihundertsiebzig Stundenkilometer, verrät der an der Decke aufgehängte Plasmabildschirm. Von Florenz nach Rom in eineinhalb Stunden. Licht. Sonne. Die toskanischen Hügel mit ihrem reinen Grün, die von Feuchtigkeit glitzernden Reflexe. Ein Morgen Ende November. Manchmal ist Töten keine Straftat.

Es muss nicht immer ein Verbrechen sein. Manchmal ist Töten die einzige Möglichkeit, den Frieden zu sichern. Der einzige Ausweg. Davon ist Simone Pace überzeugt. Damals in Paris war es anders. An jenem Vormittag auf dem Pont du Carrousel geschah zweifellos ein Verbrechen. Ein vorsätzlicher Mord. Punkt. Die abscheuerregende Szene, als der Amerikaner den jungen Mann in die Seine warf. Brahim Bouarram ertrank ohne jeden Grund. Am Ende des Tages konnte niemand sagen, die Welt sei sicherer geworden. Die Welt hatte nur ein unschuldiges Opfer mehr. Auf dem Pont du Carrousel sollten sie Ali Belkacem anwerben, einen Algerier mit Kontakten zur berüchtigten GIA, der Groupe Islamique Armé. Simone Pace weiß es genau, weil er an jenem Tag auf der Brücke zwischen dem Quai Voltaire und dem Louvre dabei war. Er war der Köder, um Belkacem an den Haken zu bekommen. Aber die Operation misslang. Und die Franzosen haben die Konsequenzen bis heute zu tragen. Seither haben die Terroristen nicht mehr aufgehört, Frankreich anzugreifen.

›Vielleicht haben wir Israel und Palästina gerettet. Aber die Rechnung bezahlt der Rest der Welt‹, sagt sich Simone Pace, zufrieden und zugleich erschrocken, dass ihn seine Überlegungen zu diesem Fazit geführt haben. Anerkennend betrachtet er sein Gesicht im Spiegel der Scheibe, als der Zug durch einen weiteren Tunnel fährt. Obwohl schon über fünfundfünfzig, hat Simone Pace kaum Falten. Ein längliches Gesicht. Immer noch schwarze Haare, etwas schütter über der Stirn. Schmale Brille, das Gestell fast unsichtbar. In Wirklichkeit ist sein Sehvermögen ausgezeichnet. Die Brille hat ungeschliffene Gläser. Sie dient dazu, die Passanten abzulenken, die Neugierigen, den üblichen Voyeur, der sich gern in fremde Angelegenheiten einmischt. Er will keine Zeugen jetzt, wo er dem Ort des Verbrechens immer näher kommt. Denn falls er noch irgendeinen Zweifel hegte, hat er ihn beiseitegeschoben: Simone Pace muss Simone Pace eliminieren.

Mit schnaubenden Bremsgeräuschen fädeln sich die Waggons des Schnellzugs Frecciarossa 9509 durch das Gewirr der Gleise und zwischen den grauen Pfeiler unter den Viadukten hindurch, die Rom ankündigen. Türme schneeweißer Wolken wachsen in den azurblauen Himmel über den pastellfarbenen Fassaden der Vorstädte. Der Zug verlangsamt sein Tempo und fährt zwischen zwei Schutzdächern und Plattformen in den Bahnhof ein.

Das Hotel Mediterraneo, in dem Simone Pace für ein paar Nächte ein Zimmer reserviert hat, liegt in der Via Cavour 15, gegenüber dem Platz und dem multiethnischen Chaos vor der Stazione Termini. Ein zehnstöckiges Hochhaus, 1936 entworfen und im Art-déco-Stil eingerichtet. Er hat hier schon öfter übernachtet. Für ihn ist dieses Hotel eine Zeitmaschine. Mit dem Duft der Edelhölzer, dem Stil des Jahres 1925, als Paris die Kapitale des Fortschritts war und Rom in die dunkelsten Jahre des Faschismus stürzte, atmet er das Flair vergangener Epochen.

Er bekommt Zimmer Nummer 922 im neunten Stock mit Spiegeln und Holzvertäfelungen. Sein Lieblingszimmer. Nicht zu groß und nicht zu klein. Das vom Fenster hereinflutende helle Licht empfängt ihn. Er öffnet seinen Rucksack. Die alten Eichentüren des Einbauschranks quietschen wie immer. Er legt die vier weißen Hemden ins Regal, die einzigen Jeans zum Wechseln und das bisschen Unterwäsche, das er mitgenommen hat. Aus dem zweiten Rucksackfach holt er seinen Laptop heraus und versteckt ihn unter der Matratze. Mehr aus Paranoia als aus Notwendigkeit. Er betrachtet sich im Spiegel, der die gesamte Wand mit dem Schreibtisch einnimmt. Er gefällt sich. Sein breiter Rücken wird von der verspiegelten Wand mit dem Doppelbett hinter ihm reflektiert. Er dreht sich zur Seite, um seinen Rücken besser zu sehen, aber die Spiegel vor und hinter ihm vollziehen die Bewegung seines gesamten Oberkörpers mit. Und verdecken ihn. Wenn er sich jedoch in die richtige Position bringt, spiegeln sich aufgrund der optischen Täuschung Gesicht, Augen und Hände, sein Körper, die große Stehlampe aus weißem Porzellan zu seiner Linken, das ganze Zimmer, das Bett, die beiden Wandleuchten, die grünen Karos des Bettüberwurfs, sein Lächeln und erneut sein Profil: tausendfach, millionenfach, in immer kleiner werdenden Quadraten. Er spielt damit jedes Mal wie ein Kind, sobald er sich in diesem endlosen Tunnel befindet, den die beiden einander unaufhörlich reflektierenden Spiegel bilden. Ein Schwindel erfasst ihn. Er konzentriert sich auf das Etikett der Flasche Rotwein neben dem Fernseher. Aglianico di Benevento, ein Geschenk des Hotels. Dann schaut er auf die stählerne Uhr an seinem Handgelenk. Es ist zwei Minuten nach elf. Jetzt darf er keine Zeit mehr verlieren. Er muss sofort einen Anruf erledigen. Er muss sich um den Tod von Simone Pace kümmern.

Der amerikanische Agent

Подняться наверх