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DAS ERSTE TREFFEN

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»Nun lade ich Sie ein, mir bei diesem Sprung in die Vergangenheit zu folgen. Kehren wir nach Italien zurück, nach Mailand, auf den Corso Garibaldi. Ich war ein junger Mann, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Kennen Sie den Corso Garibaldi?«

»Klar, die Gegend mit den angesagten Restaurants und Bars«, antworte ich.

»Ja. Vor dreißig Jahren war dieses neue Viertel längst nicht so en vogue wie heute. Ich schicke voraus, dass die Namen, die ich Ihnen nennen werde, Tarnnamen sind. Aber dahinter stehen real existierende Personen, von denen viele bis heute im Dienst sind.«

»Im Dienst der CIA?«

»Richtig. In der CIA, aber auch in staatlichen Behörden und privaten Institutionen, für die sie arbeiten. Aber damals war die CIA für uns nur eine Abkürzung, die wir aus Filmen kannten. Wir waren noch nicht angeworben worden. Nicht alle, glaube ich zumindest. Also, wir sind in Mailand, auf dem Corso Garibaldi.«

Auch an diesem Tag bin ich zu früh da, fährt Simone Pace fort. Wenn man als Erster zu einer Verabredung erscheint, ist man immer im Vorteil. Sie hatten mir den Namen des Lokals genannt, in dem wir uns treffen sollten. Das Restaurant war neu eröffnet, und ich kannte es nicht. Weiße Markise mit schwarzem Schriftzug: Ibiza, wie die Insel.

Ich sehe, wie sie hereinkommen, einer nach dem anderen. Als Letzter und ganz pünktlich trifft unser Gastgeber ein. Er ist der Anlass dafür, dass wir alle zusammenkommen, Kollegen und vertraute Freunde. Ich sehe ihn zum ersten Mal und versuche sofort, ihn nach seiner Kleidung einzuschätzen. Eleganter grauer Anzug. Hellblaues Hemd mit weißem Kragen und weißen Manschetten, damals groß in Mode. Goldene Manschettenknöpfe. Kurz geschnittenes Haar und lange Koteletten. Das Auffälligste allerdings sind seine Schuhe: schwarze Lederschuhe Modell Oxford mit Verzierungen an der Vorderkappe, den Ösen und Nähten, garantiert Handarbeit. Sein Alter ist schwer zu schätzen, denn er trägt eine Brille mit dicken Gläsern: ein schwarzes rechteckiges Gestell, zu groß für sein Gesicht. Zwischen den Fingern der rechten Hand hält er eine dicke erloschene Zigarre, die bei der Begrüßung in die linke wechselt. Vom Aussehen her könnte Giacomo, mit diesem Namen stellt er sich vor, ein arroganter staatlicher Spitzenfunktionär, aber auch ein Stahlwerksbesitzer oder ein Zuhälter sein. Seine Kleidung hat etwas von allen dreien. Wie ich später erfahre, ist er der Direktor einer Bank. Einer sehr bekannten Bank.

Als wir im Restaurant Ibiza am Tisch sitzen, ist es Andrea, der ihn offiziell begrüßt: »Giacomo ist Piemontese wie ich. Wir sind in Turin zusammen aufgewachsen, und ich wollte ihn euch vorstellen, weil er ein großes Projekt hat.«

Giacomo wirkt verlegen. Eine einstudierte Verlegenheit. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern jedoch verraten einen raschen Verstand. In dem etwas schweren Körper wirkt sein Verstand wie der Motor eines Rennwagens unter der Haube einer alten Limousine.

»Danke, dass ihr gekommen seid, und danke für das, was ihr für unser Land tut«, sagt Giacomo schlicht. Dann greift er nach der Speisekarte und fängt an zu lesen.

Wir tauschen überraschte Blicke. War das alles? Warum hat er uns hier versammelt wie eine Bande von Verschwörern? Andrea, der Unternehmungslustigste der Gruppe und ihr Kopf, hat seine Sache gut gemacht. Er hat uns alle kontaktiert. Er sagte, Giacomo sei in Organisationen eingeschleust gewesen, die mit Kolumbien Drogenschmuggel betreiben. Ich hatte ihn mir groß, sportlich und muskulös vorgestellt und nicht diesen blassen, gespielt schüchternen Mann erwartet, der in die Speisekarte vertieft am Kopfende des Tisches sitzt.

Jedenfalls hatte Andrea unsere Neugier schnell geweckt. Er versteht es, andere mitzureißen, und kann es sich erlauben, mit dem Flugzeug zu reisen und teure Klamotten zu kaufen. Und er rühmt sich wichtiger Freunde. Ich beobachte ihn, wie er neben Giacomo sitzt. Auch diesmal wirkt er wie eingenäht in sein zweireihiges blaues Sakko über einem weißen Hemd ohne Krawatte. Dazu trägt er Jeans und braune Wildlederschuhe. Seine langen blonden Haare umrahmen sein Gesicht, als wären sie gemeißelt. Als er uns Giacomo vorstellte, hat er seine Stimme moduliert, um ihr mehr Nachdruck zu verleihen. Bei jeder Gelegenheit plustert er sich auf und dominiert alles und uns alle.

Im Gegensatz zu Andrea trage ich Sachen, die ich mir von meinem Polizistengehalt leisten kann: ausgewaschene Jeans, Sportschuhe von Nike, natürlich gefälscht und auf meinem Stadtteilmarkt gekauft, ein langärmeliges blaues Poloshirt von Lacoste. Das Poloshirt ist echt, darauf bin ich stolz. Aber es ist ein Geschenk meiner Frau. Ehrlich gesagt, mache ich neben meinen Freunden gar keine schlechte Figur. Filippo, der Älteste, der neben mir sitzt, trägt eine grüne Cordhose, die schon bessere Zeiten gesehen hat, und den üblichen Schal gegen seine Nackenschmerzen. Ohne das rot-blau karierte Baumwollhemd wäre seine Kleidung völlig aus der Mode. Tommaso mir gegenüber rutscht auf seinem Stuhl hin und her und wirft den Kopf herum. Er kann nicht still sitzen. Immer wieder kneift er die Augen zusammen, als durchzuckte ihn ein höllischer Schmerz. Aber wehe, man macht ihn auf diesen Tick aufmerksam. Tommaso fühlt sich als der Playboy seiner Abteilung und gibt sein ganzes Geld für Klamotten aus. Markenschuhe, Armani-Jeans, rosa Poloshirts von Ralph Lauren. Tommaso liebt Rosa, und immer, wenn er ein Poloshirt in dieser Farbe trägt, mustert ihn Giovanni, macht ihm Komplimente und fragt ihn, ob es solche Poloshirts auch für Männer gibt. Giovanni hat soeben links von Tommaso Platz genommen. Rechts von ihm sitzt Mattia, der Klon von Andrea. Die beiden sind unzertrennlich. Mattia versucht sogar, Andreas Kleidungsstil zu imitieren. Heute trägt er Jeans, ein weißes Hemd und ein zweireihiges Jackett in Blau, nur ein klein wenig dunkler als das seines besten Freundes.

»Sie müssen immer darauf achten, wie sich jemand kleidet. Die Kleidung ist der einzig echte Personalausweis«, sagt Simone Pace und wendet sich mir zu. »Aber ich weiß, dass ich anders bin als sie alle. Und der Unterschied besteht nicht in der Kleidung. Zu jener Zeit beschäftige ich mich mit Überwachung. Ich höre Telefonate ab, überprüfe bestimmte Tatbestände, solche Dinge. Manchmal schicken sie mich sonntags als Ordnungshüter ins San-Siro-Stadion, zu den Spielen zwischen Inter Mailand und AC Mailand. Ich bin nur ein Polizist, habe also feste Dienststunden und infolgedessen viel freie Zeit, in der ich das tue, was ich schon als junger Auszubildender in der Einsamkeit meines Kasernenzimmers getan habe. Ich lerne Sprachen. Als Autodidakt. Ich kaufe mir Sprachkassetten, Schnellkurse, Bücher in der Originalsprache. Zuerst perfektioniere ich mein Englisch und mein Französisch, dann beginne ich mit Arabisch und Deutsch. So baue ich mir eine Zukunft auf und das, was ich in späteren Jahren machen werde.« Simone Paces Blick geht erneut zum Altar, dann fährt er mit seiner Erzählung fort.

Als Giuda das Restaurant betritt, haben wir schon alle bestellt, und die Vorspeisen werden serviert. Seinen Spitznamen hat er sich mehr als verdient: Er betrügt regelmäßig alle Frauen, mit denen er ein Verhältnis hat. Seine Beziehung zu Andrea, der ihn für seine allzu starke Neigung zum schönen Geschlecht kritisiert, ist entsprechend konfliktgeladen. Giuda geht schnurstracks auf Giacomo zu und gibt ihm die Hand, denn Giacomo ist der Einzige am Tisch, den er nicht kennt. Er macht das so schnell, dass Giacomo gar keine Zeit hat, aufzustehen und ihn seinerseits zu begrüßen.

»Was machst du denn für ein Gesicht? Ist der Ehemann nach Hause gekommen und du musstest durchs Fenster türmen?«, spottet Tommaso, als Giuda sich ans andere Ende des Tisches setzt, dem Gastgeber gegenüber. Als er hereinkam und uns alle hier sah, hat er ganz rote Backen bekommen. Vielleicht war er überrascht oder erschrocken. Keiner von uns wusste, dass die anderen auch da sein würden. Giuda ist der Einzige, den dieses Treffen nicht besonders interessiert. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie, hat sich mit seinen fünfundzwanzig Jahren gerade einen weißen Golf gekauft und bewohnt ein sehr schönes Appartement in der Innenstadt von Mailand.

Das Restaurant ist neu eröffnet, das sieht man sofort. Es ist elegant, minimalistisch eingerichtet und wie geleckt. Die dominierenden Farben sind das Weiß der langen Tischdecken und das Hellblau der Vorhänge. Vielleicht liegt es daran, dass es kaum andere Gäste gibt, aber die Anzahl der Kellner scheint mir übertrieben. Allein für unseren Tisch sind es vier, immer sofort zur Stelle, um nachzuschenken, sobald ein Glas leer ist. Diese Aufmerksamkeit bringt einen fast in Verlegenheit. So wie vorhin, als ich nach der Toilette gefragt habe und einer der Kellner fast mit reingegangen wäre.

Ich beobachte Andrea in seinem eleganten Jackett und habe ein ungutes Gefühl. Giacomo und Andrea verständigen sich weniger durch Worte als durch einvernehmliche Blicke. Wenn Giacomo einen von uns ins Visier nimmt, beugt sich Andrea zu ihm hinüber und murmelt ihm etwas zu. Das Mittagessen oder vielmehr der Lunch, wie er es großspurig genannt hat, zieht sich über eineinhalb Stunden hin. Am Ende denkt keiner von uns auch nur im Traum daran, aufzustehen und die Rechnung zu bezahlen, die garantiert so hoch ist wie ein ganzes Monatsgehalt von uns. Wir sind fast alle im öffentlichen Dienst beschäftigt: als Polizeibeamte, Carabinieri, Ex-Carabinieri, Verwaltungsangestellte. Zwei Dinge verbinden uns: Wir alle haben an Gerichtsprozessen mitgearbeitet, und sei es nur als Eskorte der Angeklagten oder als einfache Hilfskräfte. Und bei uns allen ist das Geld knapp. Aus Höflichkeit deutet der eine oder andere an, dass er seinen Anteil bezahlen will. Aber Giacomo gibt uns mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er das schon erledigt hat. Draußen auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant reicht er jedem von uns die Hand. Der Rauch seiner Zigarre, die jetzt angezündet zwischen seinen Zähnen steckt, hüllt sein Gesicht mit Spezialeffekten ein. Lichtreflexe umspielen seine kastanienbraunen Augen. Giacomo fixiert mich so penetrant, dass ich gezwungen bin, meinen Blick abzuwenden.

»Danke, danke«, sagt er. Jetzt bin ich an der Reihe. »Du bist Simone, richtig?«

»Ja, ich bin Simone Pace.«

»Hier ist ein kleines Geschenk für dich. Dafür, dass du dir die Mühe gemacht hast zu kommen. Für deine wertvolle Zeit«, fügt Giacomo hinzu und reicht mir einen weißen Umschlag. Ich stecke ihn ein. Dieselbe Szene wiederholt sich bei den anderen. Tommaso will den Umschlag öffnen, aber Giacomo hält ihn zurück. »Nein, nicht jetzt. Ich möchte nicht, dass ihr noch mehr Zeit verliert.«

Der Reihe nach, wie wir gekommen sind, trennen wir uns wieder. Der eine oder andere bleibt unterwegs stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Tommaso starrt ins Schaufenster eines leeren Geschäfts. So ist er nun mal. Ein Kontrollfreak. Er betrachtet nicht die Auslage im Schaufenster, sondern benutzt es nur, um die sich darin spiegelnde gegenüberliegende Straßenseite zu beobachten. Aber warum sollte uns jemand beschatten? Noch verstehe ich es nicht. Aber die Szene beunruhigt mich. Vielleicht weiß Tommaso etwas, das mir entgangen ist.

Erst als ich abends zu Hause bin und etwas Dickes in der Innentasche meiner Jacke spüre, fällt mir der Briefumschlag wieder ein. Ich lege ihn kurz auf die Ablage im Flur, aber dann stecke ich ihn zurück in die Jackentasche. Und vergesse ihn erneut. Jedenfalls öffne ich ihn nicht sofort. Ich erinnere mich erst wieder daran, als Filippo mich anruft, der älteste der Freunde im Restaurant: »Hallo. Hast du gesehen?« Er spricht so leise, dass ich seine Stimme nicht gleich erkenne.

»Wer ist am Apparat? Warum sprichst du so leise? Sprich lauter, ich versteh dich nicht.«

»Filippo. Ich bin Filippo. Hast du gesehen, was drin ist? Hast du ihn aufgemacht?«

»Was, Filippo? Wovon redest du?«

Und er, noch leiser: »Den Um… Das, was er uns gegeben hat.«

»Nein, Filippo«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Ich dachte … Na ja, reden wir morgen.« Er legt grußlos auf.

Langsam gehe ich zum Schlafzimmerschrank, in den ich die Jacke gehängt habe. Ich lasse meine Hand in die Innentasche gleiten, ziehe den Umschlag heraus und öffne ihn. Er enthält einen auf meinen Namen ausgestellten Scheck: eine Summe so hoch wie mein Jahresgehalt. Ich würde am liebsten zu meiner Frau laufen, die beim Kochen ist, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen. Aber ich tue es nicht.

»Wer war das? Warum hast du am Telefon so geschrien?«, fragt sie, während ich mich zum Abendessen an den Tisch setze.

»Nichts Wichtiges«, antworte ich. »Filippo wollte mir sagen, dass ich morgen frühzeitig im Büro sein muss, und ich konnte ihn nicht richtig verstehen.«

»Papa, spielst du dann mit mir?«, fragt meine Tochter. Nach Feierabend mit ihr zu spielen ist meine einzige Ablenkung. Und so verschiebe ich die Sache mit dem Scheck auf später. Ich würde nachts im Bett darüber nachdenken.

Tags darauf, im Büro, ist Filippo außer sich vor Wut. »Wer zum Teufel ist das? Was erlaubt er sich eigentlich? Was will er von uns?« Filippo ist kaum zu bremsen. »Verstehst du? Ich will dieses Geld nicht haben. Es riecht nach Ärger.«

»Du hast ja recht«, sage ich und spüre in mir eine Leere, die ich nicht einmal mit den kühnsten Überlegungen füllen kann. »Aber hast du denn überhaupt die Adresse von diesem Giacomo?«

»Andrea hat sie mir gegeben«, sagt Filippo, »und ich habe ihm den Scheck bereits heute Morgen zurückgeschickt. Wenn er uns Geld hätte geben wollen, hätte er es uns doch in bar geben können. Aber ein Scheck auf meinen Namen? Ich hinterlasse keine Beweise.«

»Das hast du richtig gemacht. Gib mir die Adresse, ich schicke den Scheck auch zurück.«

Ich habe es nicht getan. Seit diesem Tag haben wir nicht mehr darüber gesprochen. Filippo ist ein Mensch mit unglaublichen Fähigkeiten, in vieler Hinsicht. Er hat ein Gedächtnis, das ins Guinnessbuch der Rekorde gehört, und vor allem besitzt er eine tiefe Menschlichkeit. Aber ich glaube, dass auch Filippo den Scheck nicht zurückgeschickt hat.

Ein paar Monate später wechselt Andrea den Job. Er gibt seine Tätigkeit bei der Gerichtspolizei* auf und übernimmt eine wichtige Aufgabe in der Sicherheitsabteilung eines großen Unternehmens. Tommaso wird den gleichen Weg gehen. Und Mattia schafft es sogar, sich zum italienischen militärischen Nachrichtendienst versetzen zu lassen, wofür ihn alle seine Kollegen bewundern und beneiden. Vor allem in so jungen Jahren ist ein derartiger Karrieresprung nicht einfach. Wer weiß, wer ihn empfohlen hat. Vielleicht haben Mattia und Andrea zum selben Heiligen gebetet. Zum heiligen Jakobus, San Giacomo, dem edlen Spender der Schecks. Davon bin ich fest überzeugt.

Andrea ist es, der die Gruppe zusammenhält. Uns verbindet eine besondere Freundschaft. Gewöhnlich haben Polizei und Carabinieri nichts miteinander zu tun. Das gegenseitige Misstrauen durchdringt auch das Privatleben. Bei uns ist es anders. Wir haben jahrelang rote und schwarze Terroristen gejagt, Kommunisten mit dem Revolver und Faschisten mit Sprengstoff. Wir haben dieselben Gefahren überstanden. Und deshalb haben wir gelernt, einander zu vertrauen. Tage- und nächtelang saßen wir Seite an Seite in den Büros der Staatsanwaltschaften halb Italiens. Eingesperrt in abhörsicheren Räumen, haben wir Berichte geschrieben, Telefonate abgehört und Informationen ausgetauscht. Wir waren die erste wirklich behördenübergreifende Einheit.

Jetzt, wo Andrea und Mattia weg sind, fühlen wir uns ein wenig allein. Als Vermächtnis haben sie uns Giacomo hinterlassen. Gelegentlich ruft er in der Dienststelle an. Ich finde heraus, dass er uns in regelmäßigem Wechsel anruft. Ich versuche, mich ihm zu entziehen. Giacomo bittet um Gefälligkeiten. Er will wissen, auf wen ein Wagen zugelassen ist, er möchte eine Telefonnummer. Und da er weiß, dass wir mit den Polizeibehörden ganz Europas in Kontakt stehen, möchte er vor allem Informationen aus dem Ausland.

Ich lege meine rechte Hand auf Simone Paces Arm, um ihn zu unterbrechen. In diesem Moment hören wir hinter uns das Geschnatter einer Gruppe von Rentnern und die um Ruhe bittenden Rufe ihrer Begleiterin. Die unschönen Stimmen stören das marmorne Gemurmel in der Basilika. Dann kehrt wieder die gedämpfte Mischung aus unverständlichen, leise gesprochenen Sätzen, Gebeten, Kommentaren und raschelnden Geräuschen ein. Wie auf einer Wasseroberfläche, nachdem man einen Stein hineingeworfen hat.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, waren Sie und die anderen also Polizisten und Carabinieri?«, frage ich.

»Nicht alle. Giacomo nicht«, erwidert Simone Pace.

»Aber Sie waren Polizist.«

»Ja, ich war Polizeibeamter. Ich habe mich mit Beginn des Militärdiensts zur Polizei gemeldet* und bin eine Ewigkeit geblieben. Daher kenne ich die anderen alle. Ich gehörte bald zu einem Kreis unzertrennlicher Freunde: die Verschwörerbande, so nannte man uns in unseren Dienststellen.«

»Andrea, Mattia, Tommaso, Filippo … euer Mittagessen in Mailand kommt mir vor wie das Letzte Abendmahl. Ihr tragt Namen der zwölf Apostel. Ich frage mich, wer von euch Jesus ist.«

»Definitiv Andrea. Irgendwann haben wir angefangen, ihn Gesù Bambino zu nennen, Jesusknabe. Aber heute ist er sehr viel besser dran als der Sohn Gottes«, sagt Simone Pace und lächelt.

»Und wer ist Giuda? Judas, der Verräter?«

»Giuda war der Spitzname unseres Herzensbrechers.«

»Nein, ich meine den tatsächlichen Verräter«, sage ich.

Simone Pace dreht sich ruckartig zu mir und starrt mich durch seine Brille an, wie er es noch nie zuvor getan hat. »Sie denken bestimmt, das bin ich«, sagt er ohne jeden Grund. Seine Stimme ist jetzt noch tiefer und nachdrücklicher. »Lassen Sie sich nicht vom äußeren Schein täuschen. Die Aufeinanderfolge von Geschehnissen, so zufällig sie zu sein scheinen, ist das Ergebnis von Aktionen, an die wir geglaubt haben. Wenn ich mich entschlossen habe, Ihnen zu erzählen, was wir erlebt haben, dann deshalb, weil ich mich weder von meiner noch von unserer Vergangenheit jemals abgewandt habe. Die Verräter sind andere. Das werden Sie selbst sehen. Aber lassen Sie mich fortfahren. Vor uns liegt ein ganzer Tag.«

* Neben den Staatsanwälten und dem Verwaltungspersonal verfügt jede Staatsanwaltschaft über eine Gruppe von Ermittlungsbeamten der verschiedenen Polizeikräfte, hauptsächlich der Staatspolizei, der Carabinieri und der Finanzwache. Sie bilden die Abteilung der Gerichtspolizei. Die Ermittlungsbeamten, die bei dieser Abteilung Dienst tun, sind dem Staatsanwalt direkt unterstellt und nehmen in seinem Auftrag die Ermittlungshandlungen vor, mit denen sie betraut werden. Die polizia giudiziaria übernimmt damit Aufgaben, wie sie in Deutsch-land die Kriminalpolizei innehat. (A.d.Ü.)

* Anfang der 1980er-Jahre wurden aufgrund fehlender Polizisten auch Militärrekruten für polizeilichen Aufgaben eingesetzt. (A.d.Ü.)

Der amerikanische Agent

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