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VOR DEM MOSES

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Beim zweiten Handyklingeln gehe ich ran.

»Buongiorno, ich bin Saimon Peis«, höre ich eine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Wer bitte?«

»Saimon Peis … oder Pace, wie Sie wollen«, sagt er, als er merkt, dass ich die englische Aussprache seines Namens nicht sofort verstanden habe.

»Entschuldigen Sie, aber in Ihrer Nachricht auf Telegram hatte ich Simone Pace gelesen. Ich wusste nicht, dass es so ausgesprochen wird«, rechtfertige ich mich.

»Kein Problem. Wo sind Sie?«

»Ich bin da, wo Sie mich hinbestellt haben, vor dem Bahnhof Termini. Ich warte hier auf Sie.«

»Nein, besser nicht. Es ist nicht ratsam, sich im Bahnhof zu treffen. Wissen Sie, wo San Pietro in Vincoli liegt?«, fragt Simone Pace.

Ich zwinge mich, mir meinen Ärger über diesen Zeitverlust nicht anmerken zu lassen. Schließlich war er es, der mir in seiner letzten Nachricht den Bahnhof als Treffpunkt vorgeschlagen hat. »Natürlich weiß ich, wo San Pietro in Vincoli liegt«, antworte ich höflich.

»Dann treffen wir uns dort in einer halben Stunde. Warten Sie vor der großen Mosesstatue auf mich. Sie befindet sich vorne rechts, neben dem Altar.«

»Ich bin zu Fuß unterwegs, so lange werde ich brauchen.«

Ein schlanker Mann, der sich für sein Alter gut gehalten hat, erscheint mit entschlossenem Schritt auf der Treppe, die von der Via Cavour zur Piazza San Pietro in Vincoli hinaufführt. Er trägt einen schwarzen Rucksack über einer gleichfalls schwarzen, wasserdichten Jacke mit Taschen und Reißverschlüssen und eine blaue Baseballkappe, deren Schirm fast sein ganzes Gesicht verdeckt. Er wirkt ruhig. Aber ich bin mir nicht sicher, dass es Simone Pace ist. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er bleibt in der Säulenhalle am Eingang zur Basilika stehen. Bestimmt will er sehen, wie ich an ihm vorbeigehe. Er muss sich vergewissern, dass ich keine Dummheiten mache: dass ich keinen Fotografen vor der Kirche postiert habe und dass ich meinerseits nicht beschattet werde. Er hat sich mein Gesicht eingeprägt. Er hat es genau studiert, und er kennt meine Stimme aus den Interviews, die jeder im Internet finden kann. Diese paranoiden Angewohnheiten wird er mir eines Tages gestehen.

Touristengruppen kommen und gehen. Die Hautfarbe, die Sprache der Besucher bezeugen ihre Herkunft besser als ein Pass. Ich verlasse das Halbdunkel des Eingangsportals und trete vor ihm ein, aber er nimmt mich nicht wahr. Ich gehe auf den Altar zu. Ab und zu drehe ich mich um, weil ich ihn nicht aus den Augen verlieren will. Simone Pace greift zu seinem Handy. Er liest die Nachricht, die ich ihm soeben über Telegram geschickt habe: »Ich stehe vor dem Moses.« Aber das stimmt nicht. Ich warte in sicherer Entfernung. Ich möchte sehen, wer er ist. Kontrollieren, dass er wirklich allein ist. Da ist er.

Es dauert einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit der Basilika gewöhnt haben, wo die Ketten aufbewahrt sind, mit denen der Legende zufolge der heilige Petrus im Gefängnis in Jerusalem und Rom gefesselt war. Giovanni Battista Parodis Deckenfresko mit dem Kettenwunder erstrahlt, von Stuck umrahmt, über dem Hauptschiff. Aber Simone Pace würdigt es keines Blickes. In dem großen Kirchenraum mit nur wenigen Reihen Knie- und Sitzbänken geht er zielstrebig auf Michelangelos monumentale Skulptur zu. Nur zwei Besuchergruppen umringen sie. Er blickt sich argwöhnisch um. Schließlich entdeckt er mich im gegenüberliegenden Schiff, wo ein Priester die Messe liest. Es ist offenkundig, dass ich kein Tourist bin, dafür stehe ich viel zu lange auf einem Fleck. Und ich bin auch nicht wegen der Messe hier, denn ich drehe der Kapelle den Rücken zu. Ich betrachte die mächtige Mosesstatue, aber die Skulptur interessiert mich nicht, sonst würde ich näher herantreten. Als sich die beiden Gruppen entfernen, bleibt Simone Pace allein zurück, während ich auf der anderen Seite des Raums stehe. Ich habe ihn zweifelsfrei identifiziert und bewege mich langsam auf ihn zu.

»Signor Peis?«, frage ich und wähle mit einem Anflug von Zynismus die englische Aussprache seines Namens. Ich strecke den rechten Arm aus, um ihm die Hand zu geben. Er mustert meine grüne Jacke, die mir an den Schultern etwas zu weit ist und mir bis zu den Oberschenkeln reicht. Ich trage Jeans, ein dunkelblaues Hemd und bequeme Halbstiefel aus braunem Leder. In dem kurzen Moment, in dem er seinen Arm zu einem energischen Händedruck ausstreckt, scheint Simone Pace jedes Detail meiner Kleidung zu studieren. Erst dann hebt er den Blick, um mir ins Gesicht zu sehen. »Wir sind in Italien, nennen Sie mich ruhig Pace oder noch besser Simone«, kommt die schnelle Antwort.

»Da bin ich«, sage ich zu ihm. Und drehe mich um, um mir die Skulptur genauer anzusehen. Ich war schon öfter hier. Aber der visuellen Faszination dieser Marmorstatue, modelliert, als wäre sie aus weichem Ton, den Gewandfalten, der Anatomie der Muskeln, der Bewegung des Körpers und der Strenge des Antlitzes kann man sich nicht entziehen.

»Warum sprichst du nicht?«, sagt Simone Pace und wiederholt die Frage, die der Überlieferung zufolge Michelangelo stellte, als er sein Meisterwerk vollendet hatte.

»Unglaublich, wie es ihm gelungen ist, Moses’ Gesicht zu drehen.«

»Das wusste ich nicht. Drehen in welchem Sinn?«, fragt Simone Pace.

»Das Gesicht war auf einer Linie mit dem Bart. Wie Sie sehen, ist der Bart jetzt im Vergleich zum Gesicht nach rechts gewendet.«

»Während vorher …«

»Vorher hat Moses geradeaus geblickt. Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er eine statische Position ein. Der Moses war die erste von vierzig Statuen, die das Mausoleum für Papst Julius II. schmücken sollten. Als dann das Projekt aus Kostengründen aufgegeben wurde, wies um 1540 ein Freund Michelangelo darauf hin, dass ein Moses in Bewegung realistischer gewesen wäre. Doch um den Kopf zu drehen, musste auch der Körper eine Drehung vollführen. Natürlich mit Hammer und Skalpell. Wenn Sie sich Moses’ linkes Knie anschauen, werden Sie feststellen, dass es dünner ist als das rechte. Um den linken Fuß nach hinten zu bringen, musste der Künstler Marmor wegnehmen. Es ist eine Skulptur, keine Marionette. So etwas konnte nur der große Michelangelo zustande bringen.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum Moses nicht zum Altar blickt«, sagt er.

»Das hat sich Sigmund Freud auch gefragt.« Ich wende mich Simone Pace zu und blicke zum ersten Mal direkt in seine Augen hinter der schmalen Brille. Mir fällt auf, dass die Gläser die Pupillen seiner grünen Augen nicht vergrößern. »Moses zürnt seinem Volk«, fahre ich fort, »weil es in seiner Abwesenheit angefangen hat, das Goldene Kalb anzubeten. Er ist im Begriff aufzustehen und zu gehen, aber er lässt sich Zeit. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand spielen ungeduldig mit den Bartlocken, sodass ihm die Gesetzestafeln zu entgleiten drohen. Er zögert, ist unschlüssig, was er machen soll. Er liegt im Widerstreit mit sich selbst. Noch hat er sich nicht entschieden, ob er bleiben oder gehen soll. Das ist allerdings nur die offizielle Lesart des Werks. Diejenige, die verhindert hat, dass Michelangelo gehängt wurde. Ich dagegen glaube, dass der Moses die Ansichten Michelangelos über die römische Kirche zum Ausdruck bringt.«

Simone Pace betrachtet schweigend das große Marmorantlitz.

»Sehen Sie sich die Statue von Papst Julius II. hier oben an, der die Skulptur in Auftrag gegeben hat. Er liegt ausgestreckt da und blickt fröhlich zu uns herunter. Finden Sie, das ist eine würdevolle Pose für einen Papst? Fast scheint es, als würde er vor sich hin pfeifen. Er sieht aus wie ein Gigolo nach einer Zecherei. Vielleicht entsprach dies Michelangelos Bild von der Kirche. Denken Sie nur an den Ablasshandel, mit dessen Geldern Julius II. die Bauarbeiten für Sankt Peter finanziert hat.«

»Ich wusste nicht, dass Julius II. etwas mit dem Bau der Peterskirche zu tun hat«, gibt Simone Pace zu.

»Verstehen Sie, warum Moses nicht zum Altar blickt und der Papst über ihm leicht angetrunken aussieht? Michelangelo hatte Mut, denn die Kirche duldete damals keine Kritik. Diese Statue zeigt einen rebellischen Geist. Michelangelos Darstellung ist satirisch. Jedenfalls möchte ich es so sehen. Aber kommen wir zur Sache. Warum hatten Sie um dieses Treffen gebeten?«

»Ich möchte mit Ihnen über die Zehn Gebote sprechen«, verrät Simone Pace.

Ich verschränke die Arme und sehe ihn schief an, ein Blick, der meine Enttäuschung ausdrücken soll. »Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Ich beschäftige mich nicht mit Religion.«

»Bis auf das vierte habe ich alle Gebote übertreten«, fährt Simone Pace fort. Ich seufze. Dann habe ich es also mit einem Mythomanen zu tun, der mir nur meine Zeit stiehlt.

»Nun gut, Sie wollen mir sagen, dass Sie Vater und Mutter geehrt haben, aber am Sonntag nicht zur Messe gegangen sind. Dann brauchen Sie wahrscheinlich einen Priester, keinen Journalisten. Den Feiertag nicht zu heiligen oder unkeusche Handlungen zu begehen ist heute nicht mehr von öffentlichem Interesse. Zum Glück sind wir frei.«

Der ironische Unterton meiner Stimme ist Simone Pace gewiss nicht entgangen. Vielleicht hat er mit dieser Reaktion gerechnet. Die Mauer muss übersprungen, die Grenze niedergerissen, die Waffe geladen werden, wenn er, wie ich am Ende verstehen werde, Simone Pace tatsächlich eliminieren will. Jetzt oder nie. Aber es fällt ihm leichter als gedacht. Meine Ironie stört ihn überhaupt nicht. Die Worte kommen wie von selbst aus seinem Mund: »Ich meine das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Ich meine das siebte: Du sollst nicht stehlen. Vor allem aber meine ich das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten«, flüstert er.

Ich drehe mich kurz um und vergewissere mich, dass die Gesetzestafeln noch da sind, zwischen Moses’ rechtem Arm und seiner rechten Hüfte. Dass er sie nicht hat fallen lassen. Der Blick des Propheten scheint sich auf uns zu senken. Eine Gruppe amerikanischer Touristen nähert sich.

»Setzen wir uns in eine der Bänke«, schlägt Simone Pace vor. »Da wird uns niemand hören. Dann erkläre ich Ihnen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte.«

Der amerikanische Agent

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