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DER LÜGENDETEKTOR

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Wenn in meinem Büro das Telefon klingelt, bekomme ich jedes Mal eine kleine Angstinjektion. Es ist der Kommandant. Ich nenne ihn nicht Leiter, Direktor oder Vizepolizeipräsident. Ich nenne ihn nach wie vor Kommandant, als wäre die Polizei immer noch militärisch organisiert.* Ich bin ein altmodischer Mensch.

»Geh bitte zum Eingang«, sagt er mir am Telefon. »Es sind zwei Amerikaner da. Trink mit ihnen einen Kaffee, und in zehn Minuten bringst du sie zu mir.«

In der angstgeschwängerten Atmosphäre jener Jahre, nach den Anschlägen des nationalen und internationalen Terrorismus, sind die Kontakte zu den ausländischen Polizeibehörden immer enger geworden. Da ich Englisch und Französisch kann und Giuda gut Deutsch spricht, wurden wir damit beauftragt, innerhalb unserer Dienststelle die Kontakte zu den ausländischen Behörden zu pflegen. Die amerikanischen Besucher hat man ins Wartezimmer gebracht.

»Guten Tag«, sage ich und gebe ihnen die Hand. Ich murmle meinen Namen so, dass sie ihn nicht verstehen. Um anonym zu bleiben, man muss immer anonym bleiben. Es sind typische Amerikaner. Dunkler Anzug, weißes Hemd. Der große Dünne mit blonden Haaren und sehr hellem Teint gibt mir seine Visitenkarte. Links erkenne ich sofort das geprägte Wappen eines Adlers. Darunter Name und Funktion: Er ist Konsul an der amerikanischen Botschaft in Rom.

Von diesem Tag an werden ihre Besuche häufiger. Manchmal kommt der Konsul allein. Immer bin ich es, der ihn empfängt und ins Büro geleitet. Zwischen uns entsteht eine gewisse Vertrautheit. Wir sprechen Englisch, und er freut sich darüber. Er erkundigt sich nach dem Leben, das ich führe: ob ich verheiratet bin, ob ich Kinder habe. Eines Tages vertraut er mir an, dass er heute Geburtstag hat, und klagt, er vermisse seine Familie. Ich lade ihn spontan zu mir nach Hause ein. Eigentlich nur aus Höflichkeit. Schließlich ist kaum zu erwarten, dass der Konsul der Vereinigten Staaten meine Einladung annimmt. Aber er fragt verwundert: »Würden Sie das für mich tun?«

Als ich meiner Frau sage, dass der amerikanische Konsul zu uns zum Abendessen kommt, gerät sie in Panik. Sie befürchtet, keinen guten Eindruck zu machen. Sie weiß nicht, was sie kochen soll. Aber an jenem Abend wird jeder Gang, den wir verkosten, zu einem Kompliment an die Köchin. An meine Frau. Er ist ein vollendeter Diplomat. Am Ende des Abends nennen wir uns beim Vornamen. Patrick, so heißt der Konsul, erzählt von seiner Familie, seiner Frau und seinen drei Töchtern. Er zeigt uns Fotos von ihnen, und wir müssen versprechen, dass wir, wenn sie zu ihm nach Italien kommen, ihre Gäste sind.

Ich hatte meine Frau gebeten, ein Geschenk für ihn zu besorgen. Und so überreiche ich Patrick nach dem Essen eine Krawatte mit Paisleymuster von Ermenegildo Zegna. Er betrachtet sie bewundernd. Dann steht er auf und umarmt zuerst meine Frau, dann mich. Er küsst uns auf die Wangen, eine ausgesprochen mediterrane Geste, die ich den Amerikanern gar nicht zugetraut hätte. Vielleicht studieren sie, bevor sie ins Ausland gehen, die lokalen Gepflogenheiten. Es ist jedenfalls eine Geste, die eine Beziehung besiegelt.

Während meine Frau den Tisch abräumt, will Patrick wissen, was ich über die blutigen Terroranschläge überall in der Welt denke. Ich fühle mich von dieser Frage geehrt: Jemand – und er ist schließlich nicht irgendwer – möchte meine Meinung hören. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich voll und ganz aufseiten der Amerikaner stehe. Und dass wir, auch wenn wir wollten, nicht mehr tun können. Die Mittel und die zur Verfügung stehenden Gelder reichen nicht aus. Wenn etwas bewirkt wurde, dann nur aufgrund des täglichen Kampfes von Leuten, die das, was sie tun, als Mission begreifen.

Patrick nickt. Er scheint mir sehr genau zuzuhören. Ich habe das Gefühl, einer Prüfung unterzogen zu werden. Ja, einer Prüfung. An einem bestimmten Punkt schenkt er mir sein Vertrauen und enthüllt mir, dass seine Tätigkeit als Konsul nur Tarnung ist: In Wirklichkeit ist er Chef der CIA in Rom. Das Wort CIA benutzt er jedoch kein einziges Mal. Er spricht ganz allgemein von Agency. Ich zeige keine Regung. Ich sage nur: »Ja, ja, hab verstanden.«

Eines Tages treffen wir uns vor dem Castello Sforzesco in Mailand. Aber nur für einen kurzen Moment. Ich habe es eilig, sage ich, ich muss zum Flughafen Linate. Es ist der 12. Januar 1987. Ein Montag.

»Man hat einen Libanesen festgenommen, Baschir Khodr«, erzähle ich ihm. »Er hatte elf Kilo Plastiksprengstoff bei sich, versteckt in den Rahmen zweier Bilder und in vier großen Ostereiern aus Schokolade. Außerdem wurden sechsunddreißig Sprengzünder bei ihm gefunden, die in den Batterien eines Transistorradios versteckt waren.«

Patrick hört zu und meint lächelnd: »Klar, Ostereier im Januar …« Und mit seinem amerikanischen Akzent sagt er, man habe ihn soeben informiert.

Inzwischen sehen wir uns mindestens einmal alle zwei Wochen. Auch wenn wir nur einen Kaffee zusammen trinken. Er hat mich gebeten, zu Hause einen Anrufbeantworter zu installieren. Vor jedem Treffen hinterlässt er mir eine Nachricht, die immer mit demselben Satz beginnt: »Ciao Diana, come stai?« Und mit Ort, Tag und Zeitpunkt des Treffens endet. Eines Abends fragt mich Diana, meine Frau, warum Patrick sich an sie wendet. Aus Höflichkeit, antworte ich. Vielleicht möchte er ihr Hallo sagen und bringt die Dinge durcheinander, weil er nicht so gut Italienisch kann. Diana sieht mich an, als glaubte sie mir kein Wort.

Ich halte Patrick weiter über die Ergebnisse unserer Ermittlungen auf dem Laufenden. Seit einiger Zeit kommt er nicht mehr in die Dienststelle. Ich lege ihm meine Ansichten zu den Ereignissen der Woche dar, obwohl wir gar keine Kollegen sind. Aber ich gebe ihm zu verstehen, dass ich es gern werden würde. Ihm alle diese Informationen zu übermitteln ist der beste Weg, es ihn wissen zu lassen. Und seine Antwort ist jedes Mal, man habe ihn schon unterrichtet.

An diesem Montag im Januar, dem Tag, an dem der Libanese mit dem Sprengstoff am Flughafen Linate festgenommen wird, begrüße ich Patrick mit einiger Befangenheit. Nicht weit entfernt wartet meine Mannschaft in einem weißen Alfa Romeo auf mich, einer Alfetta, die unser Dienstwagen ist. Ich schicke mich an zu gehen. Patrick gibt mir die Hand und zieht gleichzeitig mit der Linken etwas aus seiner hinteren Hosentasche. Mit einer blitzschnellen Bewegung und einem festen Blick in meine Augen lässt er seine Finger in meine Hemdtasche unter der offenen Winterjacke gleiten. Ein Beobachter der Szene hätte es nicht einmal bemerkt, so schnell verlief die Übergabe. Mir dagegen kam sie vor wie eine Ewigkeit. Ich sage nichts. Ich drücke ihm die Hand noch fester und hoffe, keine Regung gezeigt zu haben. Ich möchte einen guten Eindruck machen.

Erst abends, zu Hause, sehe ich nach, was in der Brusttasche meines Hemds ist. Ich ziehe ein Stück Papier heraus. Es ist viermal gefaltet. Es hat merkwürdige Farben und fühlt sich für Papier ungewöhnlich an. Ich falte es auseinander und sehe das Porträt des Malers Michelangelo Merisi da Caravaggio. Es ist ein 100.000-Lire-Schein. Patrick und ich sind Kollegen geworden.

»Hunderttausend Lire, nach heutigem Wert mehr als 50 Euro, sind für einen Beamten wie mich kein Pappenstiel«, sagt Simone Pace. Ich schaue ihn an und nicke.

Meine Freundschaft mit Patrick entwickelt sich weiter. Er vertraut mir. Wir treffen uns in Mailand oder in Florenz, denn er kommt ja aus Rom. Und ich weiß mich nützlich zu machen. Ich informiere ihn immer detaillierter über die wichtigsten laufenden Ermittlungen. Manchmal bittet er mich um Dokumente. Manchmal gebe ich sie ihm, ohne dass er darum bittet. Es sind Unterlagen, die ihm helfen zu verstehen, wie Italien funktioniert und welches die neuen terroristischen Bedrohungen sind. In jenen Jahren hat noch niemand einen Scanner zu Hause. Ich muss alles fotokopieren. Heimlich, ohne dass die Kollegen etwas merken. Auch Patrick trifft Vorkehrungen. Der CIA-Chef in Italien späht ein verbündetes Land aus, eine mit den Vereinigten Staaten befreundete Regierung. Es wäre nicht gut, wenn er sich dabei erwischen ließe. Es hätte schwerwiegende Konsequenzen für ihn. Und so erscheint er zu unseren Treffen mit einem Diplomatenkoffer. Er ist Konsul, er kann es sich erlauben. Ich nicht. Wenn sie mich schnappen, ist es mein Problem. Das sagt Patrick mir klar und deutlich.

Eines Nachmittags in Florenz gibt er mir einen Zettel. Die Bewegung geschieht so schnell und unvermittelt wie in Mailand, als er mir den ersten 100.000-Lire-Schein zugesteckt hat. Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Der Zettel ist viermal gefaltet, wie immer. Ich entfalte ihn abends zu Hause. Er enthält eine handschriftliche Nachricht: »Golden Door, Innsbruck. Wir werden Dianas Geburtstag feiern, wenn auch einen Monat zu spät und einen Tag zu früh. Das Fest beginnt um 20.30 Uhr.«

Ich sitze in der Küche. Diana spielt im Kinderzimmer mit unserer Tochter. Ich höre die beiden singen. Diana hat eine wunderschöne Stimme, und die Kleine wiederholt die Strophen und bringt dabei manchmal die Wörter durcheinander. Ich trinke einen Schluck Tee aus der Tasse, die meine Frau mir auf den Tisch gestellt hat, und betrachte wie hypnotisiert die aus einem Notizblock herausgerissene Seite. Ich bin so versunken, dass ich Diana mit dem Kind auf dem Arm erst bemerke, als ich mich umdrehe. Sie versucht zu lesen, was auf dem Zettel steht. Instinktiv stelle ich die Tasse darauf, eine ungeschickte Geste. Ich verschütte etwas Tee, der auf den Zettel schwappt. Diana tut, als ob nichts wäre. Zwischen uns gibt es eine stillschweigende Vereinbarung: Ich spreche nicht über meine Arbeit, und sie stellt mir keine Fragen.

Aber trotz unseres Paktes merke ich, dass meine Geste sie geärgert hat. Eine Frau ist und bleibt eben eine Frau. Diana seufzt, um ihren Unmut zu bekunden. Wer weiß, was sie glaubt, das ich ihr verheimliche. Und ohne mir Zeit für eine Bemerkung zu lassen, drückt sie mir die Kleine in die Arme, dreht sich um und geht ins Wohnzimmer. Wie üblich murmelt sie etwas Unverständliches vor sich hin. Na gut, denke ich, dann hole ich sie eben und lasse sie die Nachricht lesen. Ich möchte nicht, dass es zwischen uns zu Misstrauen oder Unstimmigkeiten kommt. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass der Zettel nahezu verschwunden ist. Er ist nur noch ein Faserbrei. Ich hebe ein noch intaktes Fetzchen mit Daumen und Zeigefinger hoch und führe es an die Lippen. Als es mit Spucke in Berührung kommt, löst es sich auf.

Ich habe nicht recherchiert. Ich war in keinem Reisebüro. Einen Monat minus einen Tag nach dem Geburtstag meiner Frau, dem Datum des Treffens in Innsbruck, breche ich um sechs Uhr morgens von zu Hause auf. Ich bin deshalb so früh dran, weil es nicht einfach ist, am Bahnhof einen Parkplatz zu finden. Ich lasse den Wagen auf der Piazza Duca d’Aosta, Ecke Via Napo Torriani stehen. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Es ist ein Samstag, doch es herrscht nicht viel Verkehr. Am Hauptbahnhof kaufe ich eine Fahrkarte nach Innsbruck. Ich zahle bar. Abfahrt 9.05 Uhr. Ankunft 14.32 Uhr. Fünfeinhalb Stunden Fahrt.

Der Zug der Österreichischen Bundesbahnen ÖBB ist bequem und sauber. Die Wagen sind fast leer. Ich suche mir ein freies Abteil in der Nähe des Ausstiegs. Eine Angewohnheit. So wie ich mich in Lokalen immer mit dem Rücken zur Wand setze, möglichst nahe am Ausgang. Das gibt mir größere Sicherheit. Man hat niemanden im Rücken, und notfalls kann man schnell verschwinden.

Als wir uns Bozen nähern, liegen mindestens zwanzig Zentimeter Schnee auf Straßen und Bäumen. Weil ich so früh aufgestanden bin oder vielleicht auch weil es im Abteil so wohlig warm ist, schlafe ich ein. Ich lasse mich vom Schaukeln des Waggons auf den Schienen wiegen. Es gelingt mir, fast komplett abzuschalten. Ich brauche nicht nachzudenken, nicht jetzt. Ich werde meine Ressourcen, meinen Verstand später einsetzen. Adrenalin schießt durch meinen Körper und verleiht mir ein Gefühl des Wohlbefindens. In diesem Moment bin ich überzeugt, dass jemand, der mir gegenübersäße, ein breites Lächeln sehen würde, von einem Ohr bis zum anderen.

Mich wecken das Kreischen der Bremsen und ein durchdringender Pfiff, der den Grenzübergang Brenner zwischen Italien und Österreich ankündigt. Die Waggontüren werden aufgerissen, ein eiskalter Wind fegt durch den Gang und dringt durch alle Ritzen bis ins Abteil. Ich habe nicht einmal Zeit, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, als schon zwei Offiziere der Guardia di Finanza auftauchen, gefolgt von einem österreichischen Zollbeamten. Die drei tragen fast identische grüne Uniformen, und ich kann sie nur an den Emblemen auf ihren Mützen unterscheiden.

Die italienischen Finanzpolizisten öffnen die Schiebetür des Abteils.

»Den Ausweis bitte«, sagt der Erste.

Ich gebe ihm meinen italienischen Pass. Er ist sehr viel anonymer als ein Personalausweis, in dem Adresse und Beruf vermerkt sind.

Ein leichtes Jucken meiner Beine erinnert mich an die Papiere, die ich in meine Socken gesteckt habe. Es sind Fotokopien der Karteikarten zu den Terrorverdächtigen, für die wir uns in Italien interessieren. Ich möchte sie den Amerikanern übergeben. Dieses leichte Jucken warnt mich aber auch, dass ich keine Rechtfertigung habe, falls die Zollbeamten sehen wollen, ob ich etwas in meinen Socken habe. Es ist wirklich eine Dummheit, diese Dokumente über die Grenze zu bringen. Doch der Wunsch, bei Patrick gut dazustehen, und der schiere Nervenkitzel, der mich all die Jahre begleiten wird, haben über meinen gesunden Menschenverstand gesiegt. Und über die elementarsten Sicherheitsregeln.

Ich blicke hinaus auf die verschneite Landschaft. Die langen Güterzüge, die auf ihre Abfertigung warten. Die verschneiten Tannen auf den steilen Bergen oberhalb des Passes. Ich muss zeigen, dass ich nichts zu verbergen habe. Aber das könnte sie erst recht stutzig machen. Nur ein Dummkopf verhält sich so, wenn er etwas zu befürchten hat. Ich bin komplett unvorbereitet. Ich merke, wie sie mich mustern. Und dann fragt mich der Österreicher in seinem harten Akzent auf Italienisch: »Nessun bagaglio?« Kein Gepäck?

Von da, wo sie stehen, können sie es nicht sehen. Es befindet sich in der Ablage oberhalb der Tür, direkt über ihren Köpfen. Ich antworte nicht. Ich stehe auf, und mit dem Blick von jemandem, der zwar körperlich anwesend, in Gedanken aber ganz woanders ist, hole ich meine schwarze Reisetasche herunter und stelle sie auf den Sitz. Ich mache Anstalten, sie zu öffnen. Die beiden italienischen Finanzpolizisten sind schon weitergegangen. Der Österreicher, für dieses Entgegenkommen weniger empfänglich, mustert mich noch ein paar Sekunden. Dann gibt er mir meinen Pass zurück, überzeugt, dass er seine Pflicht getan hat, und seinem Instinkt vertrauend.

»Va bene, buon viaggio«, sagt er und schließt sich seinen Kollegen an.

In Innsbruck frage ich sofort nach dem Tourismusbüro. Man schickt mich in die Salurner Straße gleich gegenüber dem Bahnhof. Nach wenigen Schritten bin ich in der Tirol Tourism Information. Der Raum ist menschenleer, und ich gehe direkt zum Schalter. In tadellosem Deutsch frage ich, wie ich zum Goldenen Tor komme. Die Frau sieht mich verdutzt an.

»Goldenes Tor«, wiederhole ich und artikuliere die Worte überdeutlich.

Sie hat himmelblaue Augen. Blonde, zu einem perfekten Pferdeschwanz zusammengebundene Haare. Ihr magerer, wohlgeformter Körper steckt in einem grünen Tiroler Dirndl mit spitzenbesetzter Bluse und einer großen, an der Taille gebundenen Schleife. Sie nimmt einen Stadtplan aus einem Schubfach, breitet ihn auf der Theke aus und malt mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk einen roten Kringel um den Bahnhof.

»Sie befinden sich hier«, sagt sie. »Gehen Sie geradeaus Richtung Maria-Theresien-Straße. Hausnummer 46 an der Kreuzung Salurner Straße ist das Hotel Goldene Krone. Fünf Minuten zu Fuß. Immer geradeaus.«

»Ja, Verzeihung. Goldene Krone«, sage ich und denke, entweder habe ich einen Fehler gemacht oder Patrick hat schlecht aus dem Deutschen übersetzt. Ich lasse mir einen Stadtplan geben, bedanke mich und mache mich auf den Weg. Ich bin froh, dass ich kein Taxi nehmen muss. Einen Verdächtigen während einer Beschattung dazu zu bringen, in ein Taxi zu steigen, ist eine Methode, die auch von der Terrorabwehr benutzt wird. Zu jener Zeit haben wir in Mailand und Rom zwei Taxis zur Verfügung. Der Taxifahrer ist allerdings einer unserer Leute. Die Zielperson an Bord zu haben ist die beste Lösung. Man braucht ihr nicht zu folgen, vor allem nicht auf der Busspur, wo Zivilfahrzeuge allzu sehr auffallen. Und die Person selbst verrät dir ihr Ziel.

Nicht, dass ich in Innsbruck befürchtet hätte, man würde mich beschatten. Aber die Gewohnheit wird zur Routine. Dann zur Paranoia. Sie ist stärker als die Vernunft. Und deshalb ist es immer besser, zu Fuß zu gehen.

Den Schriftzug »Goldene Krone« auf der grünen Fassade des Hotels sieht man schon von Weitem. Das historische Haus mit den weiß umrahmten Fenstern ist ein Eckgebäude zwischen zwei Straßen. Die Weihnachtsferien und der Jahreswechsel sind vorbei, und ich bekomme problemlos ein Zimmer. Von den sechsunddreißig Zimmern liegt meines im ersten Stock. Ich habe keine Koffer auszupacken. Ich werfe mich angekleidet aufs Bett und warte. Ja, ich brauche nur zu warten.

In dem kahlen Raum frage ich mich, warum sie einen so riskanten Ort wie ein Hotel gewählt haben. Aber ich gebe mir sofort selbst die Antwort: Die Betreiber wissen nichts von uns. Wir sind ganz normale Hotelgäste, die einander nicht kennen. Sogar ich weiß ja nichts von ihnen. Und genau das ist der Punkt: Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie mich kontaktieren werden.

Ich beschließe, nicht rauszugehen, um etwas zu essen, sondern mich mit dem zu begnügen, was ich in der Hotelbar finde. Gesalzene Nüsse. Ein Sandwich. Eine Dose österreichisches Bier. Ich mache den Fernseher nicht an, weil ich jeden Augenblick damit rechne, dass es an der Tür klopft. Ich öffne das Fenster, und der Verkehrslärm flutet ins Zimmer. Erst jetzt fällt mir die perfekte Schalldämmung auf. Vom Fenster aus sieht man einen großen Bogen jenseits der Kreuzung, der auf dem Stadtplan als »Triumphpforte« verzeichnet ist. Ich bleibe stehen, bis ich keine Lust mehr habe, abwechselnd die Triumphpforte und das Telefon anzustarren. Nichts. Niemand meldet sich.

Um achtzehn Uhr beschließe ich, das Hotel zu verlassen. Ich gehe langsam. Bleibe stehen. Kehre um. Ich versuche, auf irgendeine Weise die Aufmerksamkeit dessen zu erregen, der mir vielleicht folgt. Fehlte nur noch, dass ich den Arm hebe und sage: »Huhu, hier bin ich.« Habe ich mich geirrt? Ist das gar nicht der richtige Ort?

Vom Hotel aus biege ich in die Maximilianstraße ein, und gleich nach Hausnummer 25 flüchte ich vor der eisigen Kälte in die Café-Konditorei Valier. Ich bestelle eine heiße Schokolade und frage nach dem »Goldenen Tor«.

Der Kellner schaut mich an und korrigiert mich: »Goldenes Dachl.«

Er hat recht. Ich hätte das Goldene Dachl, nicht das Goldene Tor suchen müssen. »Ja«, nickt er und lächelt mich freundlich an. Er erklärt mir, es sei das Wahrzeichen von Innsbruck. Der Habsburger Kaiser Maximilian I. ließ es 1420 auf Wunsch von Herzog Friedrich IV. an der Fassade der Residenz der Tiroler Landesfürsten anbringen. »Der Erker mit dem Dach wurde zwischen 1494 und 1496 gebaut«, sagt er, »anlässlich der Hochzeit Kaiser Maximilians mit Bianca Maria Sforza, der Tochter des Herzogs von Mailand. Das Dach wurde mit feuervergoldeten Kupferschindeln gedeckt. Insgesamt zweitausendsechshundertsiebenundfünfzig«, fügt er hinzu und betont die Ziffern dieser langen Zahl, als würde er jede einzelne Schindel zählen. Er serviert mir die heiße Schokolade.

»1494 lag die Entdeckung Amerikas gerade einmal zwei Jahre zurück«, fährt er fort. Und wegen eines amerikanischen Spions bin ich heute hier, füge ich still für mich hinzu. Der Kellner schaut mich an, ohne meine Gedanken lesen zu können. Mein Fehler ist der Tatsache geschuldet, dass das Goldene Dachl auf Englisch auch Golden Door, Goldenes Tor, genannt wird. Und ich habe es wortwörtlich aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

»Herzog-Friedrich-Straße 15«, fügt der Kellner hinzu und schaut auf die Uhr an seinem linken Handgelenk. »Morgen, der Herr, heute ist es schon zu spät. Das Museum schließt um siebzehn Uhr.«

Ich fluche still in mich hinein. Wie, es schließt um siebzehn Uhr? Habe ich mich mit den Tagen verzählt? Haben sie sich mit dem Geburtsdatum meiner Frau vertan? Habe ich etwas falsch verstanden? Ich versuche, Ruhe zu bewahren. Ja, ich fange an zu lachen wie ein Trottel. Ich denke: Aber hätten sie denn nicht eine Stadt mit weniger Gold aussuchen können? Ich beschließe, zu Hause anzurufen. Ich kehre ins Hotel zurück und rufe von der Lobby aus an. Es ist keine richtige Lobby, nur ein kleiner Aufenthaltsbereich. Die Rezeption befindet sich rechts, gleich nach dem Eingang. Hinter der Theke die Postfächer der Zimmer mit den Schlüsseln und daneben, rechts von den Fächern, die Tür zum Büro mit einem Fenster, das auf Wadenhöhe zum Bürgersteig geht. Gegenüber der Rezeption die steile schmale Treppe mit einem abgewetzten roten Veloursläufer, auf der kaum zwei Personen nebeneinander Platz haben. Links von der Treppe liegt der Korridor, der als Frühstücksraum genutzt wird. Das ist alles. An der Wand am Ende des Korridors ist das große Telefon.

»Ciao. Alles in Ordnung? Hat jemand für mich angerufen?« Meine Frau antwortet mit einem Ja und einem Nein. Und legt auf. Als ich sie gebeten habe, diskret zu sein, meinte ich nicht, dass sie im Telegrammstil sprechen soll. Aber so ist sie eben.

Ich verlasse das Hotel und gehe los. Ich habe kein Ziel, und während ich überlege, was ich machen soll, verliere ich die Orientierung. Ich hebe den Blick. Schaue mich um. Ich bin ganz in der Nähe der Maria-Theresien-Straße 36, fast vor dem Café im Hof. Im Hotel lag ein Flyer mit diesem Namen. Man muss bei Hausnummer 38 den Bogengang eines historischen Gebäudes passieren und betritt einen ruhigen Innenhof. Die cremefarbenen Markisen mit dem Namen des Lokals überwölben die beleuchteten Bögen des Eingangs an der linken Fassade. Es ist zwanzig Uhr. Ich habe seit dem gestrigen Abendessen nichts Richtiges mehr zu mir genommen, und der Duft von Gebäck und frischem Brot weckt meinen Hunger.

Ich trete ein und gehe auf die Kasse am Ende des Ladentischs zu. Stelle mich in die Schlange. Vor mir sind zwei sehr junge Mädchen. Sie reden und lachen. Und vor ihnen ein Mann. Er hat mir den Rücken zugekehrt, ich kann sein Gesicht nicht sehen. Aber er kommt mir irgendwie bekannt vor. Die kurzen, im Nacken rechteckig geschnittenen Haare. Die leicht gerötete Haut, als hätte er sich frisch rasiert. Er trägt einen braunen Anzug, und unter dem Jackenkragen spitzt der Kragen eines babyblauen Hemds hervor. Eine furchtbare Kombination. Ich höre deutlich, wie er mit unverkennbar amerikanischem Akzent auf Deutsch einen Kaffee bestellt. Als er zur Kasse weitergeht, dreht er den Kopf zu den beiden Mädchen hinter sich. Und zu mir. Diese Krawatte würde ich unter tausend anderen wiedererkennen. Für einen Moment kreuzen sich unsere Blicke. Ich kenne ihn nicht. Wer ist dieser Mann? Und warum trägt er die Krawatte, die ich Patrick geschenkt habe?

Auch ich bestelle einen Kaffee und suche mir rechts von ihm, auf die Theke gestützt, einen Platz. Er dreht sich nicht um, er schaut mich nicht an. Er trinkt seinen Kaffee und geht. Ich bleibe noch ein paar Augenblicke und denke nach. Versuche, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. War das Zufall? Eine banale Koinzidenz? Nein, nichts geschieht zufällig. Ich kann nicht ausgerechnet jetzt meiner Lebensphilosophie abschwören.

Ich verlasse gleichfalls das Café und wende mich nach rechts, um ins Hotel zurückzukehren. Es ist so kalt, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Ich sehe ihn erst, als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt bin. Er kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu.

»Ciao, ich bin Enrique. Der Besitzer der Krawatte lässt dich grüßen.«

Ich reiche ihm meine Hand, die schon anfängt zu erfrieren.

»Wir sind zu früh, aber umso besser, nicht wahr?«, sagt Enrique. »Verzeih mein Italienisch. Ich bin Venezolaner.« In Wirklichkeit spricht er ausgezeichnet Italienisch. Wir gehen am Hotel vorbei und biegen in die Maximilianstraße ein. An seinem geröteten Gesicht merke ich, dass auch er anfängt zu frieren. Und fast als würde er meine Gedanken lesen, schlägt er vor, uns wiederzusehen.

»Frühstücken wir doch morgen zusammen«, sagt er.

»Ja, gern. Wo treffen wir uns?«

Er hebt den Kopf und deutet auf die Triumphpforte. »Hier, am Goldenen Tor. Um zehn.«

Ich möchte ihm am liebsten einen Kopfstoß auf die Nase geben. Sie haben den Namen durcheinandergebracht und meinten die Triumphpforte. Aber ich schlucke meinen Ärger hinunter und sage nichts.

»Also dann bis morgen«, verabschiede ich mich. Zwei Schritte, und schon ist er meinen Blicken entschwunden, vom eisigen Nebel verschluckt.

Ich kehre ins Café im Hof zurück. Ich muss etwas essen. Die Wärme des Lokals umfängt mich. Es sieht nicht aus wie ein Café, eher wie eine Wohnung. Alte Gemälde an den Wänden. Ein sechsarmiger Leuchter erhellt den durch einen Bogen geteilten Raum. Ich steuere auf das Tischchen mit zwei Stühlen linker Hand zu, in der Nähe des großen Fensters. Es geht auf den Hof hinaus, wo im Sommer wahrscheinlich Tische und Stühle stehen. Ich entspanne mich und schaue mich um, und mein Blick fällt auf eine junge Frau, die mir den Rücken zudreht. Sie sitzt an dem Tisch direkt am Eingang. Auch sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Wo habe ich sie schon einmal gesehen? Während ich noch überlege, dreht sie sich um. Sie fixiert mich für einen kurzen Moment.

»Haben Sie das Goldene Tor gefunden?«, fragt sie mit einem reizenden Lächeln.

Ja natürlich, es ist die Frau vom Tourismusbüro. Sie trägt die blonden Haare offen. Schwarze Satinhose und weiße Bluse. Ich stehe auf und gehe zu ihr.

»Du bist vom Tourismusbüro?«, frage ich, weil mir nichts anderes einfällt, um ein Gespräch zu beginnen.

Auch sie steht auf. »Ja«, sagt sie. Und breitet die Arme aus, mit den Handflächen nach oben, als wollte sie sagen: Klar, erkennst du mich nicht?

»Bist du … bist du Österreicherin?«, frage ich. Ihre Schönheit bringt mich etwas in Verlegenheit.

»Österreicherin? Sehe ich aus wie eine Österreicherin? Ich bin Italienerin aus Vipiteno, Sterzing. Ich heiße Lena. Sieht aus, als wärest du auch allein hier. Willst du dich zu mir setzen?«

Ich nehme die Einladung gern an, froh, nicht Deutsch sprechen zu müssen.

Die Kellnerin ist gekommen, ihren Bestellblock in der Hand.

»Bitte sehr«, sagt sie.

Ich antworte nicht, weil ich nicht weiß, was ich bestellen soll.

»Lass mich machen«, mischt sich Lena ein, »darf ich?«

»Ja natürlich«, sage ich, amüsiert über diese neue Situation.

Wenig später kommt ein Teller Knödel mit Salat und als Nachtisch der obligatorische Apfelstrudel. Lena und ich sind jetzt die einzigen Gäste.

»Möchtest du einen Schnaps. Einen Grappa, wie es bei euch heißt?«

»Okay«, antworte ich etwas verlegen, »aber du bist eingeladen.«

»Nein, nicht hier«, sagt sie. »Du hast doch ein Zimmer hier ganz in der Nähe, oder? Gehen wir zu dir. Ich habe eine Flasche im Auto.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, steht sie auf und begibt sich zur Kasse.

»Bitte, lass. Gestatte mir, dass ich zahle. Du warst so nett, mir Gesellschaft zu leisten«, sage ich.

»Danke«, antwortet Lena und fixiert mich lange. Wir verlassen gemeinsam das Lokal.

Ihr Mini Cooper steht gegenüber dem Lokal. Sie holt eine Tasche aus dem Kofferraum und rennt auf ihren hohen Absätzen zu mir zurück. In der Hotellobby ist niemand mehr, umso besser. Wir gehen hinauf in mein Zimmer im ersten Stock. Ich überlasse ihr den Stuhl neben dem Schreibtisch und setze mich aufs Bett. Sie schaut sich um und entdeckt zwei Gläser auf dem Serviertablett der Minibar. Sie öffnet die Flasche und fängt an, Grappa einzuschenken. Dabei erzählt sie, dass sie fast zweiundzwanzig Jahre alt ist. Vater Italiener, Mutter Österreicherin. Sie hat die Hotelfachschule abgeschlossen und in ihrem Drang nach Unabhängigkeit diese Arbeit im Tourismusbüro von Innsbruck gefunden. Sie erzählt, dass sie mit zwei anderen Mädchen zusammenwohnt. Aber sie scheint keine Lust zu haben, gleich wieder nach Hause zu gehen. Sie fragt mich aus. Wie ich heiße. Was ich in Innsbruck mache. Ob ich verheiratet bin. Was für einen Beruf ich habe. Es fällt mir nicht schwer zu antworten.

»Ich heiße Gianni. Ich bin Junggeselle, arbeite für eine Schreibmaschinenfirma und bin zur Fortbildung in Innsbruck.«

Das ist mehr oder weniger die Geschichte, die ich immer erzähle, wenn jemand wissen will, wer ich bin und was ich mache. Natürlich abgewandelt, je nach Situation. Man muss auf diese Fragen immer antworten, sonst erregt man unnötig Verdacht und Misstrauen bei seinem Gegenüber. Es sind ritualisierte Fragen, das weiß ich aus Erfahrung, und der Fragesteller, wenn er nicht wirklich motiviert ist, hört der Antwort nicht einmal zu. Wenige Minuten später hat er ohnehin alles wieder vergessen.

Lena möchte nur Freundschaft schließen. Sie redet immer weiter über sich. Und schenkt Grappa nach. Sie ist bestimmt mehr daran gewöhnt als ich, sie verträgt den Alkohol ausgezeichnet. Bald geht mein Blick ins Leere, mein Mund ist halb geöffnet, als wollte ich alles schlucken, was sie sagt. Aber ich achte gar nicht mehr auf ihre Worte. Sie ist so schön. Sie hat eine wunderbare Stimme, fast als würde sie singen. Und ich lasse mich einlullen von diesem Wiegenlied. Ich versuche, mich zusammenzureißen, aber inzwischen liege ich bereits ausgestreckt auf dem Bett.

Sie bemerkt es nicht sofort.

Ich schaue auf die Uhr. »Es ist eins.«

»Willst du, dass ich gehe? Bist du müde?«, fragt sie enttäuscht.

»Ja, danke für die nette Gesellschaft.«

Lena steht auf. Sie dreht sich mit ihrem federleichten Körper schwungvoll auf einem Fuß um und steuert auf die Tür zu. Ich höre, wie sie sich am Lichtschalter zu schaffen macht, und im nächsten Moment ist es dunkel. Ich sehe nichts mehr. Ich kapiere nichts. Ich höre nur ein Rascheln. Es sind ihre Schritte auf dem Boden. Sekunden später umhüllt ihr warmer Atem meinen Körper. Sie setzt sich auf mich. Ich klammere mich an sie. Sie ist nackt. Im raschelnden Dunkel hat sie ihren Pullover, die weiße Bluse, die Satinhose und alles ausgezogen, was sie sonst noch anhatte.

Blitzschnell streift Lena mir die Hose herunter. Jetzt bewegt sie sich langsam. Ich spüre, wie ihr magerer Körper sich meiner Wärme öffnet. Ihre Haut ist so dünn, dass ich, während sie sich schlängelnd und gleitend bewegt, das Gefühl habe, es wäre meine eigene. Ich drücke mit den Daumen auf ihren grazilen Oberkörper und ertaste ihre Rippenbögen. Ich fange ihren Atem in meinen Händen ein und umfasse ihre Brüste. Plötzlich gleiten die Scheinwerfer eines Autos über die zugezogenen Vorhänge hinweg. Für einen kurzen Moment taucht ihr Gesicht aus der völligen Dunkelheit auf. Ihr Kopf ist nach hinten gebeugt. Ihre Pupillen wirken starr unter dem Weiß der Lider. Die offenen Haare kleben ihr an den glühend heißen Wangen und umhüllen ihre Schultern wie der blonde Mantel einer Prinzessin. Sie keucht und bewegt sich, bis der Rhythmus ihres Atems sehr lange stockt. Ich spüre, wie mir das Blut in die Venen schießt, während Lena, nun wieder im Dunkeln, meine Arme noch fester umklammert. Ihre Fingernägel, ihre Finger übertragen das Pochen ihres Herzens tief in meinen Körper. Es gibt tatsächlich Engel. Als sich ihr Griff lockert, versuche ich, mir diesen Moment unauslöschlich einzuprägen.

»Wenn Sie mit den Schilderungen Ihres Liebesabenteuers noch lange fortfahren«, unterbreche ich ihn, »wird Moses uns seine Marmortafeln um die Ohren hauen, dass es uns unauslöschlich in Erinnerung bleiben wird.«

»Es gibt Momente, Fotografien des Lebens, die uns auf ewig begleiten«, gibt Simone Pace ernst zurück, aber ich muss lachen.

»Fahren Sie ruhig fort.«

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Das dumpfe Läuten von Kirchenglocken weckt mich. Ich liege allein im Bett und habe den Verdacht, dass ich alles nur geträumt habe. Ein wunderschöner Traum. Ich gehe ins Bad. Was habe ich da im Gesicht? O Gott, ist es Blut? Bin ich verletzt? Ich stelle mein Bild im Spiegel scharf. Reibe mir die Augen, um vollständig wach zu werden. Betaste meinen Kopf, mein Gesicht. Erfreut sehe ich, dass es Lippenstift ist. Dann war es also kein Traum. Alles ist wahr. Zufrieden betrachte ich mich im Spiegel.

Ich erledige alles in Ruhe. Doch als Erstes möchte ich die Papiere, die ich aushändigen wollte, ins Klo spülen. Die Blätter mit den Daten der Terrorverdächtigen sind nutzlos geworden. Nach meiner Ankunft im Hotel habe ich sie zwischen den Seiten der Bibel versteckt, die ich in der Nachttischschublade gefunden habe. Patrick wird nicht nach Innsbruck kommen, so viel ist klar. Ich bin ein unnötiges Risiko eingegangen, das muss ich mir immer vor Augen halten.

Gut, aber ich rauche nicht. Wie soll ich die Blätter verbrennen? Ich kann sie nur in winzig kleine Schnipsel reißen. Ich lasse das Waschbecken mit heißem Wasser volllaufen und weiche sie ein, bis sie zu einem Papierbrei geworden sind. Den schütte ich ins Klo und spüle ihn hinunter. Diese alte Methode funktioniert immer.

Es ist ein herrlicher Tag. Die Sonne hat den Nebel besiegt. Und obwohl es eisig ist, öffne ich das Fenster und lasse die würzige Gebirgsluft in meine Lungen strömen. Der kalte Sauerstoff explodiert förmlich in meinem Körper, dringt mir bis ins Gehirn und reinigt das Blut. Meine Sinne sind erneut hellwach.

Ich bemerke Enrique sofort auf dem Bürgersteig. Jetzt trägt er eine beige Breitcordhose und eine feine cremefarbene Strickweste, darüber einen eleganten, leichten weißen Anorak, den er trotz der Temperatur vorne ein wenig offen gelassen hat. Ich kenne diese Daunenjacke. Es ist das Modell Moncler aus einer limitierten Auflage, die von 1986 bis 1987 produziert wurde.

»Guten Tag, gut geschlafen?«, fragt Enrique. Und dann flüstert er mir ins linke Ohr: »Ist es spät geworden heute Nacht?« Er zwinkert mir zu und gibt mir einen Klaps auf die Schulter.

»Ja, danke. Alles bestens«, antworte ich.

Ich denke kurz über seine Frage nach: »Ist es spät geworden?« Will er auf irgendetwas anspielen? Haben sie mir nachspioniert? Ehrlich gesagt, hoffe ich es nicht. Die Amerikaner sind sehr puritanisch, jedenfalls nach außen hin. Familienwerte, Moral. Und außerdem weiß ich nichts über diesen Enrique. Ich tue so, als hätte ich seine Anspielung nicht gehört.

»Kennst du ein Café, wo wir frühstücken können?«, frage ich ihn. Aber er schlägt unvermittelt einen anderen Ton an. Er schaut auf die Uhr.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir sofort in dein Zimmer gehen? Wir sind spät dran, er wird gleich da sein«, sagt er.

Dann also auch heute kein Frühstück. Außerdem: Spät dran wofür? Wer wird gleich da sein? Die Hotellobby ist voller Menschen im Aufbruch, die mit ihren Koffern Schlange stehen, um zu zahlen. Keiner achtet auf uns, als wir die Treppe hochsteigen. Kaum sind wir in meinem Zimmer, stürzt Enrique zum Fenster, zieht den Vorhang zu und schaltet den Fernseher ein. Die BBC überträgt eine Sondersendung anlässlich der Vereidigung von George Herbert Walker Bush in Washington. Geboren am 12. Juni 1924 in Massachusetts, war er Vorsitzender der Republikanischen Partei, Direktor der CIA und Vizepräsident von Ronald Reagan. Er gehört der Episkopalkirche an und ist nun der einundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Enrique dreht sich zu mir um und hebt den Daumen. »Es wurde Zeit. Für uns brechen jetzt bessere Zeiten an«, sagt er leise. Ich quittiere seine Zufriedenheit mit einem Lächeln. Ich frage nicht, warum, aber er meint wahrscheinlich, dass Bush als ehemaliger CIA-Direktor dem Auslandsgeheimdienst seine Wertschätzung zeigen wird.

Jemand trommelt mit den Fingerknöcheln an die Tür. Enrique öffnet. Es ist ein etwa dreißigjähriger Mann. Groß. Kräftig. Brillenträger. Braune Cordhose und unter der Winterjacke ein Flanellhemd mit roten und gelben Karos. Draußen ist es kalt, aber er hat Schweiß auf der Stirn.

»Sehr erfreut, Logan«, stellt er sich vor. »Man hat mir gesagt, dass du Englisch sprichst. Das ist gut.«

Ich drücke ihm die Hand, die noch verschwitzter ist als seine Stirn. Enrique ist im Bad verschwunden und kommt mit sämtlichen Handtüchern im Arm wieder heraus. Er hat sie befeuchtet und legt sie unten an die Tür und unters Fenster, um jeden Spalt abzudichten, der uns mit der Außenwelt verbindet.

Logan kramt unterdessen in einem riesigen Rucksack, den er aufs Bett gestellt hat. Ich stehe mitten im Zimmer und verfolge die Szene, ohne zu verstehen, was vor sich geht. Endlich beruhigen sich die beiden.

»Er ist von der NSA, der National Security Agency«, erklärt Enrique mit Blick auf Logan. »Er ist aus Washington gekommen, um dir beizubringen, wie du mit uns kommunizieren kannst. Aber vorher muss er etwas anderes machen. Simone, weißt du, was ein Polygraf ist?«

Ich bin so überrumpelt, dass ich gar nicht verstehe, was Enrique sagt. Und ich verneine instinktiv. Die beiden sehen mich verwundert an. Stehe ich jetzt als Dummkopf da?

»La macchina della verìta«, sagt Logan auf Italienisch, aber mit einer falschen Betonung.

»Ach so, natürlich, der Lügendetektor«, wiederhole ich auf Englisch.

»Weißt du, wie er funktioniert?«, fragt Enrique.

»Ja. Das heißt, nein.«

»Ich muss dich fragen, ob du dich diesem Test unterziehen willst«, mischt sich Logan ein.

Was kann ich antworten? Habe ich eine Wahl? Ist das die Prozedur, die man durchlaufen muss, um bei der CIA arbeiten zu dürfen?

»Klar, ich bin einverstanden«, sage ich, als hätten sie mich aufgefordert zu gehen und nie mehr zurückzukommen.

Ich weiß wenig über Lügendetektoren. Mir fällt ein, was der Mossad-Mann in Rom bei einer Sitzung gesagt hat: »Ihr müsst euch bewusst sein, dass alles, was ihr tut, beobachtet wird, sobald ihr euch an den Ort begebt, wo der Test stattfindet. Im Wartesaal und in den Toiletten könnten versteckte Videokameras installiert sein. Und der Raum mit dem Lügendetektor hat ziemlich sicher eine Videokamera oder einen Einwegspiegel. Der Test beginnt, lange bevor ihr an den Apparat angeschlossen werdet, und er endet erst, wenn ihr wieder gegangen seid.«

Ist das tatsächlich so? Die Sache macht mich etwas nervös. Aber mir bleibt keine Zeit zu überlegen. Logan verkabelt mich bereits überall. Auch auf der Stirn. Der Instrukteur von der Nationalen Sicherheitsbehörde gibt sich jetzt nicht mehr freundlich und zugewandt. Er hat etwas Bedrohliches. Als wollte er mir Angst einjagen. Im Gespräch mit Enrique wiederholt er mehrmals, dass sich die Maschine niemals irrt. Vielleicht sagt er das, um mich unter Druck zu setzen. Je größer die Angst, bei einer Lüge ertappt zu werden, desto stärkere körperliche Reaktionen zeigt man normalerweise, wenn man gezwungen ist zu lügen.

»Wenn du willst, kannst du dir die Hände waschen, bevor wir anfangen. Dann wird die Maschine deine Schweißabsonderungen präzise messen«, sagt Logan zu mir. Sofort kommt mir der Gedanke, dass im Bad womöglich eine Videokamera installiert ist, die dokumentiert, dass ich mich für das Händewaschen entschieden habe: der Beweis, dass ich, noch ehe der Test begonnen hat, Angst vor meinen Reaktionen habe.

»Nein, muss nicht sein«, sage ich, »wir können anfangen.«

Enrique ist jetzt hinter mir. Ich sehe ihn nicht. Und um keine emotionale Regung zu zeigen, konzentriere ich mich auf meinen Atem. Ich muss einen Rhythmus von zehn, höchstens fünfzehn Atemzügen pro Minute beibehalten.

»Wie heißt du?«, fragt Enrique.

»Simone.«

»Hast du schon einmal Nudeln gegessen?«

»Ja.«

»Hast du jemandem von dieser Reise erzählt?«

»Nein.«

»Hast du jemals gestohlen?«

»Ja, als Kind.«

»Nein, nein, Simone. Du darfst nur mit Ja oder Nein antworten«, ermahnt mich Logan.

»Hast du jemals mit Drogen gedealt?«

»Nein.«

»Hast du Kinder?«

»Ja.«

»Hast du jemals deine Frau betrogen?«

»Nein.«

»Hast du gestern Abend Alkohol getrunken?«

»Nein«, antworte ich trocken. Ich möchte kein schlechtes Bild von mir abgeben. Deshalb habe ich die beiden letzten Fragen mit Nein beantwortet. Mich jetzt zu korrigieren wäre schlimmer.

»Bist du ein Spion?«, fragt Enrique weiter.

»Nein.«

So geht es zehn Minuten. Nicht länger. Aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ich bin so angespannt, wie ich auf dem Bett sitze, dass mir der Rücken wehtut. Vielleicht lassen sie mich ganz bewusst in dieser unbequemen Position verharren. Und dann ist der Test zu Ende.

Logan befreit mich von den Sensoren. Er nimmt etwas zur Hand, das aussieht wie ein PC, und während er das Ergebnis des Tests liest, brummelt er vor sich hin.

»Enrique, komm mit ins Bad. Ich muss mit dir sprechen«, wendet er sich an seinen Kollegen.

Gut. Und was passiert jetzt? Gehört dieses Theater zum Test? Ich bleibe in meiner unbequemen Position auf dem Bett sitzen und erwarte das Urteil. Enrique kommt als Erster aus dem Bad.

»Du bist NDI«, verkündet er.

»NDI?«, frage ich besorgt.

»No Deception Indicated«, erläutert Enrique. Es gibt keine Hinweise auf Täuschung.

Ich entspanne mich.

»Bis auf eine Antwort, die nicht klar ist«, sagt Logan hinter ihm.

»Welche?«, frage ich.

»Kannst du es dir nicht denken?«, stellt Enrique die Gegenfrage. Und ich fange an, etwas vor mich hin zu brabbeln.

»Macht nichts«, beendet Logan das Gespräch und lässt mich, wohl absichtlich, im Ungewissen.

»Jetzt erkläre ich dir, mit welchem System du sicher mit uns kommunizieren kannst. Wir fangen heute an und machen morgen Vormittag weiter«, fügt er hinzu.

Morgen? Ist es wirklich so kompliziert, frage ich mich. Ich möchte nicht gleich sagen, dass ich noch heute Abend zurückfahren muss, wie ich es meiner Frau versprochen habe. Und auch nicht, dass ich übermorgen zur Arbeit muss. Aber einen Tag länger in Innsbruck zu bleiben wäre tatsächlich ein Problem. Es klopft an der Tür. Ich erstarre.

»Wer ist da?«, frage ich. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.

»Enrique.«

Er kommt mit drei belegten Brötchen in einer Papiertüte herein. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er das Zimmer verlassen hat.

»Da ist Käse drauf, ist das okay?«, fragt er.

Nach zwei Stunden habe ich kapiert, wie die Methode funktioniert. Wir machen mehrere Kommunikationsversuche, um sicher zu sein, dass ich es auch wirklich verstanden habe. Aber ich brauche keinen Tag länger zu bleiben. Enrique und Logan gratulieren mir zu meiner schnellen Auffassungsgabe. Dann lädt sich Logan den riesigen Rucksack mit den Geräten auf die Schulter und geht. Enrique fragt, wann mein Zug nach Mailand fährt. Ich schaue auf die Uhr, und obwohl ich noch fast drei Stunden Zeit habe, sage ich, dass ich sofort aufbrechen werde, wenn er gegangen ist. Mehr nicht. Und so verabschiedet sich auch Enrique und verlässt das Zimmer.

Um die Wahrheit zu sagen, habe ich vor der Abfahrt meines Zuges noch etwas zu tun. Ich gehe ins Tourismusbüro. Eine Gruppe von Jugendlichen, beladen mit jeder Menge Gepäck, verhindert, dass ich mit einem Blick sehe, ob Lena da ist. Obwohl ich weiß, dass sie mich halblaut beschimpfen werden, gehe ich an der Schlange vorbei nach vorn. Das missbilligende Gemurmel über mein Verhalten weckt die Aufmerksamkeit eines Angestellten hinter dem Schalter. Und noch bevor ich ihn sehe, steht er auf, richtet den Zeigefinger auf mich und weist mich an, mich wieder in die Schlange zu stellen.

Mit gesenktem Blick trete ich den Rückzug an. Ich habe keinen Grund, länger zu bleiben. Lena ist heute nicht im Dienst. Aber ich möchte nicht gehen, ohne sie wiederzusehen. Und obwohl die Wahrscheinlichkeit nicht besonders groß ist, beschließe ich, die Straßen im Umkreis des Hotels abzulaufen. Und stehe unversehens vor dem historischen Bogengang in der Maria-Theresien-Straße Nummer 38. Ich passiere ihn, durchquere den Hof und öffne langsam die gläserne Eingangstür zum Café im Hof. Der Duft von Zimt und frischem Brot steigt mir in die Nase. Bevor ich etwas bestelle, werfe ich einen Blick auf die Kuchen in der Vitrine. Ich schwanke zwischen dem köstlichen Apfelstrudel und einem Stück Sachertorte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt das Mädchen an der Kasse.

»Ja, danke. Ich möchte …« Ich deute auf den Apfelstrudel. Ein Lachen von jenseits der Wand, die den Gästeraum abtrennt, lenkt mich ab. Ein unverwechselbares Lachen. Ich entferne mich von der Theke, während ich weiter auf den Apfelstrudel deute. Eine unwillkürliche, schwungvolle Bewegung. Und als ich Lena am selben Tisch, an dem ich am Abend zuvor mit ihr saß, jetzt mit Enrique sitzen sehe, halte ich instinktiv inne. Die beiden sehen mich nicht.

Ich mache kehrt. Ich werfe dem Mädchen an der Kasse einen entschuldigenden Blick zu und gehe. Mir ist bewusst, dass ich weglaufe. Als hätte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht sofort zum Bahnhof gegangen bin, wie ich es Enrique gesagt hatte. Erst als der Zug die Grenze nach Italien überquert hat, scheint mein Gehirn wieder zu funktionieren. Vielleicht weil es spürt, dass ich auf italienischem Boden nicht mit neuen gefährlichen Situationen konfrontiert bin. Der Wunsch, Lena wiederzusehen, hätte mich fast dazu verleitet, die beiden zu begrüßen, ihre Reaktion zu beobachten und Enrique klarzumachen, dass ich alles durchschaut habe und kein Dummkopf bin. Aber das wäre ein schwerer Fehler gewesen. Ich sage mir, dass ich das Richtige getan habe. Im Besitz einer Information zu sein, die andere geheim halten, gibt dir eine Waffe in die Hand, die dir immense Vorteile verschaffen kann. Ich lächle in die Dunkelheit vor dem Fenster, als ich merke, dass ich anfange zu denken wie sie.

Zu Hause steht das Essen schon bereit.

* Erst mit der Reform 1981 wurde die italienische Polizei entmilitarisiert und erhielt ihren zivilen Status zurück, den sie im Faschismus verloren hatte. (A.d.Ü.)

Der amerikanische Agent

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