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DIE PHANTOME WASHINGTONS

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Wir setzen uns in eine leere Bank mitten im Hauptschiff. Von den drei großen Seitenfenstern über der linken Säulenreihe flutet das Novemberlicht herein. Das Strahlenbündel fällt im 45-Grad-Winkel vom Himmel direkt auf die Marmorskulpturen der Basilika. Nur von dieser Seite aus. An der rechten Wand gibt es kein einziges Fenster.

»Signor Pace, bevor Sie anfangen zu sprechen, muss ich Ihnen zwei Fragen stellen. Die erste: Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«

»Das kann ich Ihnen sofort erklären«, sagt er, ohne zu zögern. »Sie begegnen mir zum ersten Mal, aber ich kenne Sie gut. Ich habe viele Ihrer Enthüllungen als verdeckt ermittelnder Journalist verfolgt. Besonders, als Sie sich als Migrant ausgegeben, die Sahara durchquert und sich in Lampedusa aus dem Meer haben fischen lassen. Ich kenne auch Ihre Bücher. Es waren fast militärische Operationen, die Sie da unternommen haben. Sie sind große Risiken eingegangen, und ich glaube nicht, dass Ihr Arbeitsvertrag das von Ihnen verlangt. Ich erkenne daraus Ihre Entschlossenheit, die Realität von innen zu erleben, Ihre Leidenschaft, und das Adrenalin spielt sicher auch …«

»Ich habe es nie wegen des Adrenalin-Kicks gemacht«, unterbreche ich ihn. »Adrenalin versuche ich zu meiden. Es lässt einen den Bezug zur Realität verlieren und ist gesundheitsschädlich. Wie Nikotin. In manchen Situationen führt Adrenalin zum Tod.«

»Ich bin jedenfalls überzeugt, dass ich Ihnen vertrauen kann, und ich denke, wir haben dieselbe Arbeitsmethode«, erläutert er.

»Dann sind Sie also Journalist?«

»Nein, haben Sie nur Geduld, ich werde Ihnen alles erzählen.« Simone Pace spricht immer noch gedämpft, und er blickt dabei geradeaus zum Altar. Inmitten all der Touristen sehen wir aus wie zwei Gläubige im Gebet. »Und Ihre zweite Frage?«, fragt er jetzt.

»Als Sie vorhin vom fünften Gebot sprachen, meinten Sie damit, dass Sie auch getötet haben?«

Simone Pace schüttelt den Kopf. »Nein, die Antwort ist Nein. Aber ich habe es aus nächster Nähe miterlebt. Ich war beteiligt und bin Zeuge von Operationen geworden, die mit einem Mord endeten. Operationen, gegen die ich nichts tun konnte. Besonders von einer haben Sie bestimmt gehört.«

Ich sehe ihn weiter schweigend an.

»Erinnern Sie sich an den Konstrukteur von Saddam Husseins Superkanone?«

»Gerald Bull? Ja, sicher. Er wurde in Brüssel ermordet. Man sprach von einer verdeckten Operation des Mossad.«

»Die Amerikaner waren auch dabei«, verrät Simone Pace und deutet ein Lächeln an. Er blickt weiter zum Altar. Der Einzige, der uns anzuschauen und uns zuzuhören scheint, ist der große Moses. Der bärtige Prophet beobachtet uns von der Seite, verborgen zwischen der neunten und der zehnten Säule, der vorletzten und letzten rechts vor der Statue.

»Und Sie, waren Sie aufseiten der Amerikaner oder der Israelis?« Ich werfe die Frage in den Ring und bin mir meines Wagnisses bewusst. Aber ich habe Gespräche um den heißen Brei herum stets gehasst. Und ich weiß immer noch nicht, wer dieser jugendlich wirkende Mittfünfziger wirklich ist, der eine geradezu manische Diskretion an den Tag gelegt hat, um sich mit mir zu treffen.

Simone Pace wendet sich ruckartig nach links, mir zu. Er sieht mich ein paar Sekunden an. »Aufseiten der Amerikaner«, sagt er dann und sucht meine Augen.

»CIA?«

»Ja«, sagt er und unterstreicht sein Geständnis mit einem Kopfnicken.

»Dann sind Sie also CIA-Agent?«

»Mehr als das. Operativer Agent.«

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Einen großen. Der operative Agent agiert an vorderster Front. Er führt die Operationen vor Ort durch. Und von diesen Operationen möchte ich Ihnen erzählen.«

»Aber Sie sprechen perfekt Italienisch«, sage ich. »Sind Sie italienischer oder amerikanischer Staatsbürger?«

»Man muss nicht unbedingt Amerikaner sein, um mit der CIA zusammenzuarbeiten. Aber ich könnte es genauso gut sein.«

Ich sehe ihn schweigend an. Ich versuche herauszufinden, ob ich es mit einem der vielen Mythomanen zu tun habe, die sich einbilden, sie seien die Reinkarnation Jesu, Napoleons Erben oder Doppelgänger des Lawrence von Arabien. Simone Paces hellgrüne Augen sind reglos hinter seinen Brillengläsern, durch die sie nicht vergrößert werden. »Und warum sollte sich ein CIA-Agent an einen italienischen Reporter wenden statt an einen Starjournalisten der New York Times?«, frage ich unvermittelt.

Simone Paces Hände liegen ruhig auf seinen Oberschenkeln. Er wendet, nur ganz kurz, den Blick zu dem bärtigen Moses und dann wieder zu mir. »Ich kenne keinen Starjournalisten der New York Times«, erwidert er. »Und ich habe Ihnen schon gesagt, warum ich mich an Sie gewandt habe.«

»Dann frage ich Sie, warum Sie sich entschlossen haben, ausgerechnet jetzt zu reden?«

Wahrscheinlich hat Simone Pace mit all diesem Misstrauen gerechnet. Er antwortet aufrichtig, jedenfalls kommt es mir so vor. »Ich habe mich entschieden, meine Wahrheit zu erzählen, weil ich Italien für immer verlasse. Ich würde es bedauern, all das, was ich und Sie erlebt haben, mit fortzunehmen, ohne dass es jemand erfährt.«

»Ich und Sie?«

»Was ich getan habe, habt ihr erlitten. Ihr Bürger, meine ich. Wir haben dieselbe Geschichte erlebt«, fügt Simone Pace hinzu, »wenn auch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Außerdem bin ich bereits über fünfzig, und in diesem Alter muss man mit seiner Vergangenheit abschließen und an seine Zukunft denken.«

»Und Sie haben keine Angst, dass ich Sie verraten könnte? Ich könnte Ihren Namen veröffentlichen und Ihnen eine Menge Ärger machen.«

Zum ersten Mal zeigt er ein kaltes Lächeln. Er seufzt. »Wenn das Ihre Absicht ist«, sagt er, »dann verabschieden wir uns jetzt sofort, und Sie werden keine Möglichkeit haben, mich jemals wiederzufinden. Die Nummer, die ich in den Telefonaten mit Ihnen benutzt habe, läuft auf den Namen eines Chinesen, den es gar nicht gibt. Und falls Sie mich jemals aufspüren sollten, werde ich sagen, wir haben uns missverstanden oder alles war erfunden. Sie haben mich sicher nicht auf Tonband aufgenommen. Ich bin überzeugt, dass Sie nicht der Typ sind, der mit einem Aufnahmegerät in der Tasche zu einer Verabredung kommt.«

»Wenn ich Sie verraten wollte, würde ich es ganz am Ende tun, wenn Sie mit Ihrer Geschichte fertig sind. Nicht am Anfang.« Ich provoziere ihn. Ich möchte ihn auf die Probe stellen, sehen, wozu er fähig ist.

Simone Pace scheint genau zu wissen, was er antworten muss. Sein Ton, immer noch mit gedämpfter Stimme, klingt noch entschiedener als zuvor: »Das wird nicht passieren. Ich habe Ihnen nicht meinen richtigen Namen genannt, wenn ich überhaupt einen habe. Sie wissen nicht, wo ich wohne. Sie wissen gar nichts von mir. Ich bin für Sie nur ein Phantom. Und Phantome existieren nun mal nicht.« Er richtet den Blick wieder geradeaus auf den Altar, wo in einer beleuchteten Vitrine die Ketten liegen, mit denen der heilige Petrus gefesselt war. Er ist gewieft. Wenn er tatsächlich ein operativer CIA-Agent sein sollte, ist Simulation und Verstellung sein Beruf.

»Wenn Sie nicht überzeugt sind, lassen wir es bleiben«, beginnt Simone Pace erneut und blickt weiter geradeaus. »Hören Sie«, und jetzt sieht er mir entschlossen in die Augen. »Wenn Sie mir zugehört haben, werden Sie mich, glaube ich, nicht verraten. Sie sind an das Berufsgeheimnis gebunden. Sollte mich eines Tages tatsächlich jemand aufspüren, werde ich sagen, dass ich alles erfunden habe. Aber wenn Sie mir glauben, werden Sie erzählen können, was in den vergangenen Jahren in Europa tatsächlich passiert ist. In Italien, in Frankreich, in Belgien.«

»Werden Sie mir auch Beweise für das liefern, was Sie mir erzählen?«

Simone Pace lächelt erneut und schüttelt den Kopf. »Beweise sind etwas, das man konstruiert. Nein, für reale Vorkommnisse gibt es keine Beweise. Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Bei den Operationen, an denen die Vereinigten Staaten beteiligt sind, agiert die CIA so, dass es keine Beweise gibt. Und wenn es welche gibt, werden sie getilgt.«

»Aus den CIA-Archiven?«

»Nein, überall. Auch in den italienischen Institutionen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Leute eingeschleust wurden. Sie sind überall. Du klopfst an eine Bürotür und findest sie selbst da, wo du es nicht erwartest. Die CIA ist ihr Nebenberuf. Vielleicht aber auch ihr Hauptberuf. Nach einiger Zeit weißt du nicht mehr, wer dein wahrer Arbeitgeber ist, und du weißt auch nicht mehr, welches deine Fahne, deine Regierung, dein Staat, dein Volk ist.«

»Ihr treibt also ein doppeltes Spiel?«

»Wir sehen uns eher als Phantome.«

»Und in welchem Büro arbeitet Simone Pace noch, außer für die CIA?«, frage ich mit leiser Stimme.

Er wirkt überrascht. Er musste mit dieser Frage rechnen, hat sie aber offenkundig nicht so früh erwartet. »Ich arbeite für den öffentlichen Dienst«, sagt er. Er merkt, dass seine Antwort nicht präzise genug ist. »Beachten Sie, dass ich für und nicht im gesagt habe.« Er wird von lauten Stimmen in seinem Rücken unterbrochen.

Eine Schulklasse kommt herein, etwa sechzig Gymnasiasten. Sie sind so unkonzentriert und lärmend, dass ihre beiden schon etwas älteren Lehrerinnen schreien müssen, um sie zur Ordnung zu rufen. Es sind keine Italiener, aber mir ist unklar, woher sie kommen. Drei Mädchen setzen sich in unsere Bank. Eine der Lehrerinnen ruft sie zurück, und dann bleibt die ganze Gruppe vor dem Moses stehen. Es wird wieder still.

»Von welchen Operationen wollen Sie mir erzählen?«, frage ich, als sich die drei Mädchen weit genug entfernt haben.

»Operationen in Italien, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich, Russland, Israel. Geldübergabe an politische Parteien. Diebstahl geheimer Dokumente. Anschläge der Mafia. Einschleusung von Informanten in feindliche Territorien. Rekrutierung weiterer operativer Agenten. Beschaffung der Kommunikationscodes von Moskau. Jagd auf Terroristen in Paris. Entführungen. Mindestens drei Morde. Aber Sie müssen Geduld haben. Ich liefere Ihnen kein Material für einen Artikel, sondern eine lange Geschichte in Fortsetzungen. Ich werde Ihnen nicht alles auf einmal erzählen. Es braucht Zeit. Sie müssen Schritt für Schritt herangeführt werden, sonst glauben Sie mir nicht. Ohne die Kenntnis der Vergangenheit können Sie die Gegenwart nicht verstehen.«

Ich fixiere ihn eine halbe Minute. Das reglose Licht der Basilika scheint sich in den Schatten der Säulenreihen aufzulösen wie Dunst. Meine nächste Frage ist nur ein leises Murmeln. »Kommen auch die Verbrecher vor, die die jüngsten Anschläge in Paris verübt haben?«

»Ihre großen Brüder kommen vor, ihre Lehrer, die vorige Generation. Bei ihnen muss man anfangen, um zu verstehen, wer die Terroristen von heute sind.«

»Und was riskieren wir, wenn die CIA erfährt, dass einer ihrer Leute redet?«

Simone Pace fällt sofort auf, dass ich im Plural gesprochen, dass ich »wir« gesagt habe: für ihn womöglich ein Zeichen, dass ich mich entschieden habe.

»Sie würde versuchen, uns zu stoppen«, ist seine trockene Antwort.

»Aber wenn Sie in die Vereinigten Staaten zurückkehren, landen Sie im Gefängnis. Es gibt schwere Strafen für CIA-Agenten, die Geheimnisse …«

»Lassen Sie es mich erklären«, fällt mir Simone Pace ins Wort. »Ich war Teil eines geheimen Netzwerks, das die CIA für ihre schmutzigen Operationen in Europa benutzt hat. Wir arbeiten mit der Behörde zusammen, aber wir gehören nicht ganz zu ihr. Unsere Identität kennt nur unser Controller, so wird er genannt. Er gehört natürlich schon zur CIA. Die Gesetze der Vereinigten Staaten gelten für ihn, nicht für uns. Uns gibt es gar nicht. Deshalb habe ich Ihnen vorhin gesagt, dass es zwischen uns operativen Agenten und den CIA-Agenten einen gewaltigen Unterschied gibt. Auch der Geheimdienst hat eine Ethik. Bei bestimmten Dingen macht sich die CIA nicht die Hände schmutzig, das würde die Regierung in Washington kompromittieren. Also greift sie auf Leute wie mich zurück. Auf Phantome. Ich habe aufgehört. Aber viele andere, die mit mir zusammen angeworben wurden oder die ich rekrutiert habe, sind weiter im operativen Einsatz.«

»Dann existiert dieses geheime Netzwerk für schmutzige Operationen also immer noch?«

Simone Pace lächelt und nickt. »Es wird immer existieren, und wie! In Italien und in ganz Europa. Die Welt ist wie ein großes Gemälde, auf dem sich die ahnungslosen Bürger, die Regierungen und Staaten bewegen. Es sind Leute wie ich, die neue Figuren darauf malen und die Farben hinzufügen. Farben, die manchmal rot sind wie Blut. Und von diesem Gemälde möchte ich Ihnen erzählen.«

Ein paar Minuten verharren wir erneut in Schweigen und sehen dem Gewusel zu, als sich die Schulklasse wieder in Bewegung setzt. Hintereinander treten die Schüler und Schülerinnen in die kleine Vertiefung unter dem Altar, um die Ketten des heiligen Petrus aus der Nähe zu betrachten, bevor sie mit einem Höllenlärm von Stimmen und Schritten wieder herauskommen.

»Kennen Sie den Film Insider von Michael Mann mit Russell Crowe und Al Pacino?«, frage ich jetzt.

Simone Pace sieht mich an, ohne zu antworten.

»Er erzählt davon, wie die internationalen Tabakkonzerne die Inhaltsstoffe der Zigaretten falsch deklarieren.«

»Ich erinnere mich nur vage«, gesteht er. »Aber was hat dieser Film mit mir zu tun?«

»Sehen Sie ihn sich an, wenn Sie können. Er ist ein Lehrstück darüber, wie sich ein Journalist gegenüber seiner Quelle verhalten sollte. Und umgekehrt. Die Quelle muss alles über sich sagen, sie muss vertrauen und sich anvertrauen. Ein Fehler, ein Laster, eine Perversion der Quelle kann alle ihre Aussagen zunichtemachen. Das, was Sie mir vorschlagen, ist kein Interview, an dessen Ende jeder wieder in sein eigenes Leben zurückkehrt. Ich werde alles über Sie wissen müssen. Auch alles über Ihr Privatleben. Familie, Liebschaften, Geliebte, Laster, Vorstrafen.«

Simone Pace – wer weiß, was er befürchtet hat – lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, seine Antwort kommt prompt. »Ich habe derzeit keine Liebesbeziehung und nicht einmal eine Geliebte. Aber ich werde Sie diesbezüglich auf dem Laufenden halten. Ich bin geschieden. Meine Frau wusste nichts. Wir haben sehr jung geheiratet. Irgendwann konnte sie meine ständige Abwesenheit nicht mehr aushalten. Und weil mir keine Ausreden mehr eingefallen sind, habe ich ihr eines Sonntagabends die Wahrheit gesagt. Ich sagte zu ihr: Ich bin ein Informant der CIA.«

»Und Ihre Frau?«

»Sie sagte, dann sei sie die Jungfrau Maria. Sie ging ins Schlafzimmer und räumte meine Hälfte des Kleiderschranks aus. Sie packte meine Hosen, Hemden und Schuhe in eine große Reisetasche und warf sie hinaus auf den Treppenabsatz. Das letzte Bild, das ich von meiner Familie habe, ist meine Frau auf der Türschwelle: Verschwinde, sagte sie immer wieder, verschwinde von hier, verschwinde, verschwinde. Als ich draußen war, schrie sie mir nach, ich solle zu meinen Huren gehen, mit denen ich ihrer Ansicht nach auch dieses Wochenende verbracht hatte.«

»Und gab es in Ihrem Leben Huren?«

»Keine einzige. Die Hure war ich.«

»Haben Sie Kinder?«

»Eine erwachsene Tochter, die heute nichts mehr von mir wissen will. Ihr habe ich nie etwas gesagt.«

»Sie haben einen hohen Preis bezahlt. Hatten Sie keine Angst, dass Ihre Frau Ihr Geheimnis herumerzählt?«

»Nein, denn sie hat mir ja nicht geglaubt. Vielen passiert es, dass sie ihre Familie opfern müssen. Wenn du all deinen Mut zusammennimmst und zu Hause die Wahrheit sagst, glaubt dir keiner. Deshalb lautet der Spitzname der CIA auch die Mama. Denn wenn du aus dem Haus geworfen wirst, nimmt sie dich in ihre Obhut wie eine Mutter. Und dann liegt dein Leben ganz in ihren Händen. Du wirst ihr Eigentum.«

»Irgendwelche Laster, die Sie in Misskredit bringen könnten? Vorstrafen?«

»Ich nehme keine Drogen, ich besaufe mich nicht, ich trinke keine hochprozentigen Sachen, ich rauche nicht. Wenn mir aber eine Frau gefällt, ziehe ich mich nicht zurück. Keine Vorstrafen. Oder vielmehr: Man hat mich nicht erwischt. Aber verlangen Sie kein polizeiliches Führungszeugnis von mir.«

»Das Problem ist nicht das polizeiliche Führungszeugnis. Sie waren es, der gesagt hat, Beweise kann man fälschen. Es geht darum, wie ich Ihre Aufrichtigkeit überprüfen kann. Aber das werde ich im Laufe unserer Treffen herausfinden. Also, wie machen wir’s?«

Simone Pace ist jetzt wieder ganz in seinem Element. Er erklärt mir, wie wir verfahren. Wir werden uns jeden oder fast jeden Tag treffen. Und zwar hier, in San Pietro in Vincoli. Aufnahmegerät, Filmkamera und Fotoapparat sind nicht gestattet. Nur Kugelschreiber und Notizheft.

»Wenn Sie einverstanden sind, können wir gleich morgen früh anfangen«, sagt er.

»Morgen früh um neun hier auf dieser Bank.«

»Also dann bis morgen. Aber ich gehe zuerst hinaus. Sie warten zehn Minuten und folgen mir nicht«, weist Simone Pace mich an. Er steht auf und geht hinaus in das gleißende Licht des geöffneten Hauptportals.

Die Welt der Phantome darf ihre Geheimnisse niemals dem Unterland der Ahnungslosen preisgeben. Wer es getan hat, bekam Schwierigkeiten. Manche wurden getötet. Hier, vor dem Moses der Basilika San Pietro in Vincoli, weiß Simone Pace ganz genau, dass er eine weitere Schwelle seines Lebens überschritten hat. Wie an jenem Sonntagabend vor vielen Jahren, als er für immer sein Zuhause verlassen hat. Und während er jetzt die Via Cavour hinunter zum römischen Hauptbahnhof zurückgeht, fühlt er sich nicht einmal erleichtert. Er empfindet Gleichgültigkeit, wie immer. Das Motto eines Frontkämpfers lautet fight or flight, kämpfe oder fliehe. Und er, der an der schmalen, unsichtbaren Grenze überlebt hat, die die Welt der Phantome vom Unterland der ahnungslosen Bürger, Regierungen und Staaten trennt, weiß genau, dass ein operativer Agent keine Fluchtmöglichkeit hat. Er kann nur kämpfen. Mit Vorsicht und Geduld, aber er muss kämpfen. Simone Paces Ermordung vollzieht sich sehr langsam.

Die vergoldete Statue von Christus dem Erlöser auf der Spitze des Campanile von Sacro Cuore steigt immer höher in den Himmel, je näher man kommt. Jetzt glänzt sie im Sonnenlicht hinter dem Bahnhofsplatz am Ende der Via Cavour. Dieser Christus ist nicht nur eine der zahllosen religiösen Ikonen, die auf Rom hinabblicken. Er ist auch seit Jahrzehnten ein Orientierungspunkt für Spione, Terroristen, Kriminelle und Geheimagenten, sobald sie aus dem Zug steigen. Das zumindest ist die Funktion, die Simone Pace der Statue zuschreibt, wenn er das Haus des Friedens sucht oder jemandem den Weg dorthin beschreiben muss.

Der doppelte Eingang aus verspiegeltem Glas befindet sich am Anfang einer kleinen Seitenstraße, nur ein paar Häuserblocks von Christus dem Erlöser entfernt. Eine abgelegene Kreuzung mit wenig Verkehr. Simone Pace rückt die blaue Baseballmütze auf seinem Kopf zurecht, schiebt die gefakte Brille auf der Nase zurück, ein Tick von ihm, und überquert die Straße exakt gegenüber der Tür, die sein Spiegelbild immer größer zurückwirft. Das Haus sieht von außen aus wie eines der vielen eleganten Bed & Breakfast der italienischen Hauptstadt, wo Touristen und die Wasserträger der Politik übernachten. Innen ist es sehr viel mehr. Sein Luxus und seine Ruhe sind heute nur mit der VIP-Lounge am Flughafen von Dubai vergleichbar, die jenen Passagieren vorbehalten ist, für die Geld keine Rolle spielt. Auf dem Klingelschild aus Messing funkelt die gravierte Schrift in arabischen und lateinischen Buchstaben: Bait as-Salaam – Casa della pace. Haus des Friedens.

Simone klingelt und senkt den Blick auf seine Schuhe. Er weiß, dass die Videokamera läuft, sobald er den Finger auf den Knopf legt. Das winzige Objektiv befindet sich mit Sicherheit hinter den verspiegelten Eingangstüren, die sich gleich öffnen werden, eine nach der anderen. Aber niemand öffnet, niemand meldet sich. Er klingelt ein zweites Mal. Und erst jetzt nehmen seine Augen etwas wahr, was ihnen bisher entgangen ist. Die Glastür ist mit einer Staubschicht bedeckt und von unten bis oben hoffnungslos schmutzig. Unten links hat jemand seine Notdurft verrichtet, und das eklige Rinnsal auf der Türschwelle aus schwarzem Marmor verläuft bis zum Asphalt des Gehsteigs. Reste von Altpapier und aufgeweichtem Laub füllen den schmalen Spalt zwischen Schiebetür und Boden. Laub. Folglich wurde die Tür schon seit Wochen nicht mehr geöffnet. Das sagt ihm seine lange Erfahrung als Polizist sofort. Bei genauerem Hinsehen weist sogar das Messingschild dunkle Oxidationsflecken auf, es wurde also schon lange nicht mehr gereinigt. Er läutet ein drittes Mal. Und endlich merkt er, dass die Klingel, die ein aufmerksames Ohr auch hier draußen hören müsste, stumm bleibt. Der Strom ist abgeschaltet. Das Haus des Friedens existiert nicht mehr. Er bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Er ist nicht enttäuscht, sondern erschrocken.

Simone Pace dreht sich auf dem Absatz um und geht. Die Brille auf der Nase, den Blick immer noch auf seine Schuhe gesenkt. Und jetzt ist da ein neuer Gedanke, der erste Schritt auf einem Weg, der bergauf führt. Er war sicher, sie hier anzutreffen. Nur sie könnte seine wahre Identität enthüllen und das Phantom wieder zum Leben erwecken. Soweit er weiß, ist sie wütend auf ihn. Bestimmt wegen dieser Verhaftung in Mali. Eine Frau, die in einer solchen Gegend der Welt wegen Terrorismus eingesperrt ist, hat, wenn sie bei ihrer Befreiung nicht stirbt, alles überlebt. Wirklich alles. Deshalb könnte sie von maßloser Wut erfüllt sein. Und deshalb könnte sie allein das Schweigen brechen und Simone Pace, wenn er tot und begraben ist, ins Leben zurückbringen. Er muss sie sehen. Er muss mit ihr sprechen. Er muss wissen, was sie vorhat. Seine ganze Angst spiegelt sich in der einzigen Frage, die seine Gedanken beherrscht: Wie finde ich Latifa?

Die Statue von Christus dem Erlöser immer noch im Blick, macht sich Simone auf den Weg zum Immobilienbüro des Viertels. Vor ein paar Tagen hat er im Internet die Anzeige für eine Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines Altbaus gesehen. Zimmer, Wohnküche, Bad, Balkon und Fenster mit Blick auf den Sonnenuntergang und über die Dächer Roms. Er muss den Mietvertrag unterschreiben und die Kaution bezahlen. Fehlt nur noch die Anmeldung für Wasser, Gas und Strom, und er kann sein römisches Leben beginnen. Vorbei die Zeit, als er es sich leisten konnte, wochenlang zwischen den Edelholzmöbeln seines Lieblingshotels zu logieren.

Es bleibt sogar noch Zeit für einen langen Spaziergang in der frühlingshaften Sonne dieses ungewöhnlich warmen Novembertags. Wie ein Tourist, bis zum Forum Romanum. Dann das Warten auf den Sonnenuntergang in den Ruinen des antiken Rom. Und ein Abendessen im Restaurant der Schauspieler, im La Matriciana gleich gegenüber der Oper. Es ist berühmt für seine Pasta all’amatriciana, für seine Mezze maniche mit Muscheln und Pecorino und für viele andere Gerichte. In den Tiefen seines narzisstischen Bewusstseins fühlt sich Simone Pace wie ein großer Schauspieler. Nur dass die Filme, deren Hauptdarsteller er ist, immer live gedreht werden: ohne Double und ohne die Möglichkeit, eine Szene zu wiederholen. Wie im Theater.

Um Mitternacht liegt er schon in seinem Doppelbett und denkt nach, eingehüllt in die Duftessenzen von Zimmer Nummer 922. Das Licht gelöscht. Vom offenen Fenster das Rauschen der Stadt. Die Hände im Nacken verschränkt und noch einmal die Gewissheit, die Welt in der Hand zu haben. Er ist lange nicht mehr in Rom gewesen, und Rom fehlt ihm immer. Und so schläft er, noch angekleidet, ein.

Der Tag kündigt sich mit der Kühle der Morgendämmerung an, die vom offenen Fenster hereindringt. Simone Pace steht auf, um es zu schließen. Doch dann verharrt er am Fenster und betrachtet die beiden großen Kuppeln der Basilika Santa Maria Maggiore, wo Gian Lorenzo Bernini, der Bildhauer der Päpste, begraben liegt: zwei Kuppeln nebeneinander wie ein praller junger Busen, eine Hommage an die weibliche Fruchtbarkeit. Er wendet sich etwas nach rechts und nimmt zwischen den im ersten Tageslicht rosa schimmernden Ziegeln, den ausgedehnten, noch dunklen Terrassen und den schirmförmigen Kronen der Pinien das obere Gesims des Kolosseums in den Blick. Gleich dahinter, weit hinten in der Ebene, entdeckt er die Konturen des Colosseo quadrato, des E.U.R.-Palasts, die schönste und eleganteste architektonische Parodie aus der Zeit des italienischen Futurismus. Simone Pace findet das Bauwerk sogar eleganter als das Original. Ein Stück weiter rechts zeichnen sich am heller werdenden Himmel die Umrisse der Zypressen ab, hinter denen sich der Palatin verbirgt, die Residenz der römischen Kaiser. Und noch weiter rechts verschönert die Morgenröte eine chaotische Landschaft aus Dächern, Schornsteinen, Klimaanlagen, Antennen und Fernsehkabeln, die kreuz und quer aufgehängt sind. Über diesem Wirrwarr, höher als alles andere, bläht sich auf der Fahnenstange des Quirinalspalastes, dem Sitz des Präsidenten der Republik, die italienische Fahne im Wind. Gleich dahinter, isoliert und noch größer, scheint sie von der riesigen, unbewegten Halbkugel der Kuppel von Sankt Peter beobachtet zu werden. Erstaunt, als wäre es das erste Mal, bemerkt Simone, dass man von seinem Standort aus sogar den Dreiecksgiebel der Basilika sieht. Und daneben die Fassade mit dem Fenster der Papstwohnung. Von Zimmer Nummer 922 erfasst man mit einem einzigen Blick mehr als zweitausend Jahre Geschichte.

Tief einatmend, genießt er die Schönheit dieser Szenerie. Plötzlich ist ihm kalt. Er erinnert sich, dass er das Fenster schließen wollte, dann setzt er sich im perfekten Schneidersitz aufs Bett. So verharrt er fast eine Stunde. Er nimmt eine heiße Dusche. Dann geht er hoch zur Terrasse des Hotels. Frühstück im Freien mit einem Panoramablick über die Stadt. Fast wie im Frühling. Frisches Obst, Ziegenkäse, Brot, Honig. Und Espresso, sehr schwarz, sehr stark.

Um neun Uhr erstrahlt die Fassade von San Pietro in Vincoli in der Sonne. Das Portal ist bereits geöffnet und gibt das Halbdunkel des weiträumigen Kircheninnern frei. Erst nach vielen Schritten haben sich die Augen an den Dämmer gewöhnt. Wenige Bänke, wie am Tag zuvor. Ich sitze in der letzten gegenüber dem Altar. Ich drehe mich um. Simone Pace lässt seine Augen umherschweifen, eine letzte Kontrolle. Dann nimmt er neben mir Platz. Vor den Ketten des heiligen Petrus, Moses’ gestrengem Blick ausgesetzt.

»Bevor wir anfangen«, sagt er leise, nachdem wir uns begrüßt haben, »möchte ich Ihnen sagen, dass ich meiner Geschichte keine in irgendeiner Weise religiöse Bedeutung geben will. Ich habe diese Kirche nur deshalb als Treffpunkt vorgeschlagen, weil man, während ich Ihnen meine Geschichte erzähle, die Umgebung besser im Auge behalten kann. Ich bin Gott sei Dank Atheist.«

»Ich bin kein Priester und könnte Sie von den Sünden, die Sie mir beichten werden, ohnehin nicht lossprechen«, erwidere ich, während ich Notizheft und Stift aus meiner Jackentasche hole, wie es mir unsere Abmachung gestattet. »Beginnen wir mit den Morden?«

»Nein«, sagt Simone Pace, »beginnen wir mit dem ersten Treffen. Und mit meiner Anwerbung.«

Der amerikanische Agent

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