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PROLOG

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Brahims Arme schlagen wie Flügel in der Luft. Er versteht nicht, warum es passiert ist. Der Schreck hat ihm den Atem geraubt. Seine Füße suchen einen Halt, die Hände etwas, wonach sie greifen können. Aber der Himmel über Paris ist so flüchtig. Eine Möwe gleitet vorüber und scheint ihn auszulachen mit ihrem Schrei.

Brahim fliegt an einem Frühlingsvormittag. Später wird ihm vielleicht kalt werden. Seine Bewegungen sind absolut lautlos. Die Angst erstickt seine Schreie. Eine Beklemmung in der Brust schnürt ihm die Kehle zu. Niemand hört ihn. Er wäre gern diese Möwe. Er möchte wieder aufsteigen und so ruhig wie sie durch die Luft gleiten. Er möchte das ferne Glitzern der Fenster am Quai Voltaire zu fassen bekommen. Sich am imposanten Louvre jenseits des Flusses festklammern. Oder sich sogar an die Wolken hängen, die den Himmel bis zum Horizont sprenkeln. Aber die Luft hier unten wird immer kühler. Und mit dem Geruch der Luft verschwindet das letzte Bild. Beim Aufprall zieht sich die Haut vor Kälte zusammen. Das Wasser trübt die Sicht. Die Seine schmeckt eklig. Verzweifelt rudert er mit den Armen, aber die Strömung reißt ihn fort. Während oben, über den Bögen des Pont du Carrousel, die Festparade und die blauen Fahnen des Front National vorüberziehen. Sie feiern den 1. Mai, aber zum Gedenken an Jeanne d’Arc. Die Verfluchten.

Brahim Bouarram ist neunundzwanzig Jahre alt. Er ist in Marokko geboren. Zu Hause warten zwei Kinder auf ihn. Aber der Fluss trägt ihren Vater weit weg. Das Wasser, grau wie Gewitterwolken, hat ihn aufgenommen. Es zieht bereits das Leben aus seinem Körper. Und oben, zwischen den Fahnen der Parade auf der Brücke, beschleunigt der Mörder seinen Schritt.

Es ist kalt. Jetzt ist es dunkel und kalt. Wer war das? Warum hat er mich von der Brücke gestoßen? Warum? fragt sich Brahim immer und immer wieder. Er ist so auf diese Fragen fixiert, dass er seine junge Stimme zu hören glaubt. Einen Moment lang vergisst er sogar, dass sein Mund mit Wasser gefüllt ist, das er nicht ausspucken kann. Kaltes, ekliges Wasser. In diesem Moment gewinnt das Gehirn die Oberhand über den Körper. Das Gehirn verschafft immer Erleichterung. Es lässt einen an Dinge glauben, die gar nicht existieren. Brahim denkt, gleich wird er aufwachen und feststellen, dass er den Tod nur geträumt hat. Seine Hände greifen immer noch nach einer Materie, die keine Konsistenz besitzt. Seine Füße suchen nach einem Halt, ohne ihn zu finden. Aber was ist das für ein Geräusch? Es ist jetzt so laut, dass er das Gefühl hat, aus dem Abgrund hallten ihm seine eigenen Fragen entgegen.

Und das Tosen des Flusses verebbt ganz und gar.

»Die Anweisungen hatte ich zwei Wochen zuvor bekommen.« Simone Pace spricht leise und blickt geradeaus zum Altar. »Die Nachricht enthielt alles: die Route, der ich folgen, und das Datum, an dem ich mich in Langley in der CIA-Zentrale vorstellen sollte. Sie wollen nicht, dass man auf direktem Weg hingeht. Zuerst sollte ich nach Paris fahren …« Er hält inne und lächelt. Wie immer, wenn er den Namen dieser Stadt ausspricht, für ihn die schönste, die die Menschheit jemals erbaut hat.

Paris ist die erste Etappe seiner Reise in die Vereinigten Staaten. »Ich soll mich wie ein Tourist verhalten, und das tue ich. Dasselbe Drehbuch in London und in Madrid«, fährt er in seiner ruhigen, tiefen Stimme fort. »Niemand, der mich eventuell beschattet, soll vermuten können, dass ich auf dem Weg nach Langley bin. Es sind meine üblichen Augustferien. Jeder weiß, dass ich das Meer nicht mag. Und dass ich meinen Urlaub jedes Jahr in den schönsten Städten Europas verbringe und Museen und Restaurants besuche. Dass ich fünf Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch, Arabisch und natürlich Italienisch – fast perfekt spreche, macht das Ganze einfach.«

Am 30. August, so erzählt Simone Pace weiter, lande ich, wie verlangt, in Washington. Und wie üblich wundere ich mich nicht, als kaum eine Stunde nach meiner Ankunft in meinem Hotelzimmer das Telefon klingelt. Sie sind am Apparat. Sie heißen mich willkommen. Ich frage mich längst nicht mehr, woher sie sogar das wissen, was ich ihnen gar nicht mitgeteilt habe. Aber es ist nicht allzu schwer, sich die Passagierlisten eines Fluges oder die Hotelbuchungen zu beschaffen. Auch nicht, jemanden zum Flughafen zu schicken, der dich aussteigen sieht: um dich anschließend zu überraschen. Sie geben dir das Gefühl, dass du immer überwacht wirst. Das erhöht die Anspannung. Du hast keine Zeit für Ablenkungen. Damit verringert sich die Möglichkeit eines Fehlers. Denn du kannst es dir nicht leisten, einen zu machen. Wenn du einen Fehler machst, gibt es kein Zurück. Es ist ein Sprung ins Ungewisse, und du weißt, dass nichts deinen Sturz abfedern wird.

Am Nachmittag kommt Eduard, mein Controller, und holt mich ab. Er hat sich mir gegenüber immer freundschaftlich verhalten. Auch wenn in der Art von Beziehung, die uns verbindet, Freundschaft nicht existiert. Sie ist sogar verboten. Der Controller kontrolliert dich nicht nur, er weist dir Operationen zu, er sammelt die Informationen, die du ihm übermittelst, vor allem aber zahlt er dir Spesen und Gehalt. Der Controller ist der Einzige in und außerhalb des Milieus, der wirklich weiß, wer du bist und was du tust. Und nach drei gemeinsam verbrachten Jahren kennen wir einander ziemlich gut. An diesem Nachmittag bietet er an, mir die Stadt zu zeigen. Wir gehen in den wunderbaren Parks an den Straßen zwischen Kapitol und Weißem Haus spazieren. Es bleibt sogar Zeit für einen Besuch des National Air and Space Museum.

Am Abend bringt er mich ins Hotel zurück, und beim Abschied bestätigt er mir, dass ich am nächsten Tag die Ehre haben werde, im Hauptquartier in Langley empfangen zu werden. Weil es sich nicht gehört, mit dem Taxi zur CIA-Zentrale zu fahren, vor allem nicht als verdeckter Agent, der an Geheimoperationen beteiligt ist, sagt er, ich müsse allein hinfinden. Vor dem Eingang zum Park Hyatt, meinem Hotel in Washington, deutet er auf einen schwarzen SUV, einen Ford Escape. Er gibt mir die Schlüssel, aber ich weise ihn darauf hin, dass ich den Weg nicht kenne und das Autofahren in Washington … Er lässt mich den Satz nicht zu Ende sprechen. Er schaut mich mit einer Miene an, die mir zu verstehen gibt, dass er an alles gedacht hat. Ich bräuchte, sagt er, nur die Satellitennavigation einzuschalten und den Anweisungen zu folgen, die mich ans Ziel bringen werden.

Ich bin es gewohnt zu lügen und zu täuschen. Und ich bilde mir ein, dass nur ein Zuviel an Sonne meine Wangen erröten lässt. Aber bei der Vorstellung, nach Jahren des loyalen Dienstes im Hauptquartier empfangen zu werden, überkommt mich ein Schauder, der meinen Kopf heiß werden lässt. Vielleicht habe ich sogar die Augen aufgerissen. Eduard bemerkt es und klopft mir lächelnd auf die Schulter. So verabschieden wir uns.

Am Tag darauf sitze ich am Steuer des schwarzen SUV. Ich tauche in den Verkehr auf der Vierundzwanzigsten Straße ein. In südliche Richtung. Dann nach rechts in die K Street. Bis zum Potomac. Hat man die sechsspurige Brücke passiert, ist man im Bundesstaat Virginia. Die Straße durchschneidet das dichte Grün von Wiesen und Bäumen wie eine scharfe Klinge aus Asphalt. Man atmet spätsommerliche Feuchtigkeit, denn jenseits der Vegetation liegt der Fluss. Nach zwanzig Minuten habe ich das Gefühl, ich hätte mich verfahren. Doch plötzlich taucht zwischen den Bäumen ein Gebäude mit Schranken und Kabinenhäuschen auf, das an die Mautstelle einer europäischen Autobahn erinnert. Ich fahre darauf zu. Ein Mann in Uniform verlässt seinen Posten, um mich zu kontrollieren. Und nun? Ich lasse meinen Blick blitzschnell durch die Fahrerkabine gleiten, ob es nicht irgendwo einen Ausweis gibt, einen Passierschein. Nichts. Vor der Schranke bleibe ich stehen. Durch das Autofenster nuschle ich etwas auf Englisch, das nicht einmal ich verstehe.

Der Posten lächelt mich an. »Hier gleich nach links bitte. Halten Sie vor der Treppe zum Eingang an.« Er verlangt nichts von mir. Weder fragt er nach meinem Namen noch nach meinem Ausweis.

Ich bin im Herz und Hirn der Central Intelligence Agency. Ich wage es nicht einmal, mich umzuschauen.

Den Wagen parke ich vor einem imposanten Treppenaufgang. Fünf, sechs Stufen führen zu einem breiten Eingang mit einer automatischen Glastür. Ein bekanntes Gesicht kommt mir entgegen. Ich kann es kaum glauben. Es ist Patrick. Er passiert die lange Reihe Drehkreuze und kommt auf mich zu. In Filmen sieht der Eingangsbereich aus wie ein großes Atrium. Aber das entspricht nicht der Wirklichkeit. Patrick legt zur Begrüßung nach arabischer Art die rechte Hand auf sein Herz und neigt leicht den Kopf. Später erzählt er mir, in den Jahren, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben, sei er verdeckt im Irak tätig gewesen.

Patrick ist der Controller, der mich angeworben hat. Ich habe nur gute Erinnerungen an ihn. Aber den ungeschriebenen Regeln folgend, konnten wir, nachdem er mich an seinen Nachfolger übergeben hatte, unter keinen Umständen weiter miteinander in Kontakt bleiben.

»Ciao, ich freue mich, dich hier zu sehen«, sagt er in perfektem Italienisch, aber mit einem unverkennbaren Yankee-Akzent. »Du hast Karriere gemacht, ich hatte mich nicht in dir getäuscht«, fügt er zufrieden hinzu.

»Danke, Patrick, ich freue mich auch, dich zu sehen«, antworte ich, und wir drücken uns fest die Hand.

Leise sprechen wir weiter, und er erzählt mir, dass er befördert worden ist. Patrick ist jetzt der neue CIA-Direktor für den Nahen Osten. Wir warten etwa zehn Minuten. Ich betrachte ein dickes Buch auf einer Konsole rechts von uns, zwischen der Fahne der Vereinigten Staaten und der Fahne der Behörde vor der Marmorwand mit den vier Reihen silberner Sterne. Ihre Farbe lässt das metallische Licht, das uns umgibt, noch kälter erscheinen. »Zu Ehren der Mitarbeiter der Central Intelligence Agency, die ihr Leben im Dienst ihres Landes geopfert haben«, steht in den Stein über unseren Köpfen gemeißelt. Jede Buchseite dokumentiert die Jahre, in denen Geheimagenten ums Leben gekommen sind: neben jedem Jahr ein goldener Stern und die Namen. Oder, wenn ihre Identität geheim bleiben muss, nur der Stern. 2003, das Jahr meines Besuchs, verzeichnet bisher nur einen einzigen Namen: Helge P. Boes. Patrick erklärt mir, Boes sei in Afghanistan ums Leben gekommen, wo er als Offizier in der Terrorabwehr, dem Counterterrorism Center CTC, tätig gewesen war. Es gibt Jahre mit vielen kleinen Sternen, aber ich stelle keine Fragen. Vom Buch wandert mein Blick zu dem großen Wappen auf dem glänzend polierten Fußboden mit weißen und schwarzen Rechtecken. Er stellt ein Schachbrett dar und das weltumspannende Spiel, das von hier aus gespielt wird. Dann nähert sich von jenseits der Schranke eine Frau. Sie gibt dem Wachmann ein Zeichen, das Drehkreuz zu entsperren, damit wir eintreten können, und bittet uns, ihr zu folgen.

Die Frau stellt sich als Louise vor und begrüßt mich, als wären wir alte Freunde. Sie erkundigt sich nach dem Verlauf meiner Reise, fragt nach meinen Eindrücken von Washington und gratuliert mir zu meinem Englisch, das, wie sie versichert, exzellent ist. Dann wendet sie sich an Patrick: »Wir sollten gehen, wir werden erwartet«, sagt sie. Sie ist unsere Begleiterin.

Wir nehmen den Korridor rechts. Fast unmittelbar danach bleiben wir vor einem Aufzug stehen, einem jener schmalen Aufzüge, durch deren Tür immer nur eine Person eintreten kann. Er sieht aus wie ein kleiner Lastenaufzug. Louise legt die flache linke Hand auf ein Quadrat aus Glas, das sich an der Stelle befindet, wo bei allen Aufzügen der Welt die Knöpfe für die einzelnen Etagen sind. Der Druck ihrer Hand aktiviert einen Scanner zur Erkennung der persönlichen Daten. Patrick sagt zu mir, dass auch er zum ersten Mal diesen Aufzug nimmt, der direkt ins Büro des Direktors führt. Diese vertrauliche Mitteilung macht er so feierlich, dass »Direktor« in Großbuchstaben geschrieben scheint. Der Scanner erkennt Louises Handabdruck, und die Tür öffnet sich. Wir betreten die Aufzugskabine, und der Schauder einer Erregung, die dieses Wärmegefühl auslöst, kehrt zurück …

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Erzählung unterbreche«, falle ich Simone Pace ins Wort. »Ihr Besuch in Langley war für Sie gewiss bewegend, aber …«

»Ich bitte Sie um Geduld«, unterbricht er mich. »Ich möchte Ihnen alles ganz genau erzählen. Ich bitte Sie nur um etwas Geduld. Nicht alle Agenten, Informanten und operativen Phantome der CIA können sich rühmen, ins Hauptquartier nach Langley und ins Büro des Direktors gerufen worden zu sein. Wenn Sie das alles schreiben, wird es mit Sicherheit jemand nachprüfen. Und er wird feststellen, dass das, was ich sage, der Wahrheit entspricht. Wenn ich meinen Besuch in den Vereinigten Staaten so ausführlich schildere, dann nur, um Sie und das, was Sie veröffentlichen werden, zu schützen.«

»Wie Sie meinen. Fahren Sie fort, ich höre Ihnen zu.«

Der amerikanische Agent

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