Читать книгу Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - Страница 10
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ОглавлениеNach jenem düsteren Dienstag gelang es meinem Vater nicht, Sima Khanooms Entscheidung zu ändern. Auch die Autorität Dash Akolls konnte sich nicht durchsetzen. Nicht einmal von Omar Sharifs Bullenblick ließ Sima Khanoom sich einschüchtern. Ihr Entschluss blieb unüberwindbar. Als Abbas Agha sie zum tausendsten Mal mit Dash Akoll-Stimme fragte: »Warum, zum Teufel, willst du Deutsche werden?«, antwortete ich an ihrer Stelle, zermürbt von den unendlichen Streitereien: »Unseretwegen. Sie will einfach ohne Angst und Sorge um ihr Aufenthaltsrecht bei ihren Kindern bleiben dürfen. Ist das so schwer zu verstehen?«
»Nein, das ist nicht schwer. Aber um in diesem verfluchten Land bleiben zu können, gibt es hundert andere Möglichkeiten.«
Ich kannte keine einzige. Trotzdem sagte ich: »Vielleicht haben Sie ja sogar Recht. Aber Ihre verehrte Frau hat sich für diesen Weg entschieden. Ist das so schlimm?«
Es fiel meinem Vater oft schwer, eine freie Entscheidung der Mitglieder seines »gemütlichen, warmen und hellen Familienhorts« zu respektieren. Meine Verteidigung brachte ihn erst recht in Wallung. Er bekam einen roten Kopf, riss die Augen auf und brummte empört: »Na, so was! Ich bin dir also egal, wie? Gut zu wissen, dass auch du auf ihrer Seite stehst!«
Seit geraumer Zeit gelangte mein Vater immer wieder zu dieser Schlussfolgerung. Nur ließ er sie so klingen, als sei er gerade erst darauf gekommen. Problematisch war, dass ich nie das Bedürfnis verspürte, dieses je nach Standpunkt bittere oder süße Fazit zurückzuweisen oder zu bekräftigen. Also schwieg ich auch dieses Mal und hoffte, Abbas Agha würde die Diskussion nicht weiterführen, sondern ins Wohnzimmer entschwinden und seinen Trost in einem Dash-Akoll-Video suchen.
Doch mein Vater hatte Recht. Ich konnte gar nicht auf seiner Seite sein, auf der Seite von Abbas Agha-Dash Akoll, den mein Großvater mütterlicherseits »einen echten Hurensohn« nannte, denn er habe sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht, sobald er Wind davon bekam, dass im Land dicke Luft herrschte.
Immer wenn der Großvater gegen seinen Schwiegersohn, den Deserteur wetterte, versuchte meine Mutter, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Obwohl sie selbst von der Flucht meines Vaters ungeheuer betroffen gewesen war, führte sie geduldig aus: »Er war in einer Zwickmühle, Agha Djahn. Als hochrangiger Offizier hat er für die Freiheit gekämpft. Er ist kein normaler, simpler Dissident. Wäre er erwischt worden, hätte man ihn sofort hingerichtet. Deshalb ist er geflüchtet, nicht um im Ausland ein schönes Leben zu genießen.«
Da mein Großvater nach einer Weile einsah, dass er den Kampf mit dem Todesengel seines Schwiegersohns – wäre der im Lande geblieben und hingerichtet worden – nicht siegreich hätte führen können, holte er eben noch weiter aus. So ließ er jedes Mal seinen Umhang auf die Schultern rutschen, fuchtelte mit dem Stock in der Luft herum und kreischte: »Dieser Hurensohn hätte von Anfang an einen großen Bogen um die Politik machen müssen. Kein anständiger Mensch legt sich mit einem vom Volk gewählten Regime an, erst recht kein Offizier, der Mitglied der geheimen Militärorganisation einer kommunistischen Partei ist. Tausendmal hab ich gesagt: Mischt euch in solche Machenschaften nicht ein. Dreht eure Fahne nach dem Wind. Diese Regierung ist wie ein Esel. Ihr solltet ihn satteln und die Zügel straff anziehen. Basta!«
Meine Mutter hielt rigoros dagegen und warf ein: »Das sind keine Esel, Agha Djahn. Diese Mullahs sind schlimmer als tollwütige Wölfe. Bis jetzt haben sie alle zerfleischt und zerfetzt, die gewagt haben, sich gegen sie aufzulehnen, oder? Man muss doch die Tatsachen sehen.«
Mein Großvater ignorierte aber die Realität lieber. Zum tausendsten Mal wetterte er gegen die Vorfahren meines Vaters, verbrannte sie komplett in den lodernden Flammen seiner Wut und zerstreute die Asche ohne Gewissensbisse in der Luft.
Die Wirkung dieser Tirade auf die Physis meiner Mutter war für mich immer wieder erstaunlich; sie wurde krumm wie ein F:ragezeichen, nahm meine Hand und verließ das Zimmer.
Meine Großmutter gab ihrer Tochter daraufhin stets zu verstehen, sie solle das Geplapper des Vaters nicht ernst nehmen. Sein übles Benehmen sei altersbedingt.
Doch meine Mutter schämte sich, dass sie nun, nachdem sie jahrelang als Lehrerin finanziell für ihre Familie gesorgt hatte, ihre Beine wieder unter den Tisch des Vaters stecken musste. Sie wurde plötzlich äußerst sparsam, versuchte weniger Wasser und Strom zu verbrauchen. Mit der Ausrede, sie wolle abnehmen, aß sie kein Abendbrot mehr und legte eine Mahlzeit auf zwei Tage um. In der Nacht träumte sie schlecht und murmelte dabei stöhnend: »Oh, Abbas, guck auf dein düsteres Leben. Schau, was du mit mir gemacht hast.«
Später bemühte sich mein Vater sehr, Sima Khanoom davon zu überzeugen, dass nicht der Offizier Abbas Azad, sondern der Führer Ruhollah Khomeini ihr Leben verdüstert hatte. Meine Mutter beharrte dennoch unerschütterlich auf ihrer Meinung. Einmal unterbrach sie am Ende einer heftigen Auseinandersetzung die erschöpfenden Ausführungen und schrie ihn ärgerlich an: »Ihr seid alle aus demselben Holz geschnitzt, wenn es um die Rechte der Frauen und Kinder geht. Da macht es keinen Unterschied, ob ihr Abbas oder Nietzsche, Khomeini oder Lenin heißt!«
Sima Khanoom kochte vor Wut, so dass mein Vater sofort das Schlachtfeld verließ. Doch um das letzte Wort zu behalten, sagte er beleidigt: »Ach, vergiss es. Man kann sowieso kein offenes Ohr bei dir finden!«
Ich glaube, in dem Moment, als meine Mutter für sich die Gleichung Abbas = Khomeini = Nietzsche = Lenin entdeckte, entschied sie sich auch, gelegentlich ohne Ohren auszukommen.