Читать книгу Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - Страница 12

6.

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Abbas Agha musterte mich immer noch mit seinem Stierblick à la Omar Sharif und wollte wissen, ob mir seine Existenz oder Nicht-Existenz egal wäre. Ich konnte ihm dabei leider nicht weiterhelfen, weil ich mir selbst nicht im Klaren war. So stand ich unwillig auf und ging wortlos in die Küche. Hartnäckig lief er hinter mir her.

In Abbas Aghas »warmem und hellem Familienhort« stand nun jeden Abend zum Abendessen das Thema »Einbürgerung, ja oder nein« auf der Tagesordnung und brachte unser Leben durcheinander. Es war wieder ein düsterer Dienstag, als meine Mutter sich notgedrungen dazu gezwungen sah, ihren Koffer zu packen, um uns wegen Abbas Aghas ablehnender Haltung zu verlassen, und auch ich meine Sachen auf dem Bett anhäufte und meinem Vater zu verstehen gab, wenn er die Entscheidung seiner Frau nicht akzeptiere, würde ich ihm ebenfalls abhanden kommen.

Augenblicklich schlüpfte er in die Gestalt Omar Sharifs und gab sich affektiert autoritär: »Ach, jetzt drohst du mir auch? Unverschämt! Also, so weit bist du, ja? Von Anfang an war mir klar, dass du auf der Seite deiner Mutter stehst, dass du ihre Tochter bist!«

Hätte ich seiner Meinung nach die Tochter unseres berühmten Dichters Hafiz* sein sollen? Weder der große Dichter noch mein lieber Vater waren da, wenn ich sie dringend brauchte. Nur meine Mutter unterstützte mich, und zwar immer und überall. Etwa als ich auf unserer Flucht vor Angst ständig zitterte. Da war es meine Mutter, die fest meine Hand hielt und mich tröstete. In jenen turbulenten Tagen war ich wie besessen von der Furcht, irgendwann verloren zu gehen. Als wir damals von einem Bus auf einen Lastwagen umstiegen oder einen Packesel mit einem Mofa tauschen mussten. Als wir stundenlang mit einem Kamel in der Wüste herumirrten und dann in einem schrottreifen PKW Zuflucht fanden. Endlos war mir die Flucht mit all diesen unterschiedlichen Verkehrsmitteln damals vorgekommen. In den ersten Tagen hatte ich mir vorgestellt, wir unternähmen nur einige zufällige Ausflüge, obwohl Sima Khanoom mir bereits gesagt hatte, dass ich mich wie »Alice im Wunderland« auf eine abenteuerliche Reise vorbereiten sollte. Was sie tatsächlich damit meinte, ahnte ich nicht. Ich war aber froh, eine Weile Abstand von meinem netten Großvater zu bekommen. Der fuchtelte immer noch mit seinem Stock in der Luft herum und beschimpfte die Vorfahren meines von Hinrichtung bedrohten Vaters so heftig, dass sie sich im Grabe umgedreht hätten, wäre es ihnen zu Ohren gekommen. Nach einer Weile, als die Alicesche Reise zum Zwang wurde, hatte ich gar keinen Spaß mehr daran. Ich sehnte mich sogar manchmal nach meinem Großvater, seinen Flüchen und Schmähungen. Vielleicht, weil das Wunderland, das wir entdecken sollten, nicht so wunderbar war, wie mir meine Mutter versprochen hatte. Es war eine uferlose Wüste, ohne Anfang und Ende; nur die Menschen, die uns begleiteten, waren alle höchst wundersam.

Da gab es sieben oder acht Männer mit dichten Schnurrbärten, die ständig zum Horizont starrten und dir ihre gelben Zähne zeigten, wenn dich ihr Blick ungewollt streifte. Sie grinsten dich an mit einem verklemmten, furchterregenden Lächeln.

Einer, ohne Brille und fast blind, hieß Herr Nokteh Bin. Später, als meine Mutter den anderen von unserer Flucht erzählte, führte sie ihn als Registeramtsbeamten ein. Manche Männer der Gruppe verspotteten ihn hinter seinem Rücken seiner Hofsprache wegen und äfften ihn nach. Vor dem Schlafengehen verabschiedete er sich jeden Abend mit dem Satz: »Ich darf mich, gnädige Mitreisende, jetzt empfehlen.« »Hassan-das Sprichwort«, dessen Äußerungen stets mit Sprichwörtern gespickt waren, vertrat die Ansicht, Herr Nokteh Bin würde das Exil nicht länger als ein Jahr überleben, weil es ihm niemals gelingen könne, die deutsche Hofsprache zu erlernen. Denn im Exil würde es die Seele töten, wenn man beredt und dennoch sprachlos sei. Meine Mutter prophezeite, »Hassan-das Sprichwort« werde sogar schon nach sechs Monaten Exil durchdrehen. Es sei ebenso unmöglich, die deutsche Sprache so weit zu beherrschen, dass man in Sprichwörtern reden könne.

Das Erscheinungsbild des Reiseführers, den alle A Sardar nannten, war am schrecklichsten. Alles an ihm sah wirr und wüst aus; von seinem vollen Bart und den Augenbrauen bis zu seinem großen Tuch, das er mehrmals um den Kopf gewickelt hatte. Sogar seine Hose war so geschlungen, dass es aussah, als seien die engen Beinpartien in den Zwickel eingebunden oder umgekehrt. Er ähnelte den Biestern, die ich von meiner Großmutter her kannte. Mansureh Khanoom, meine Großmutter, hatte mich immer gemahnt, ein braves Mädchen zu sein und die Suppe ohne Meckern aufzuessen. Sonst rufe sie ihre vertrauten Ungeheuer und befehle ihnen, mich in einem Zug zu verschlingen.

Als ich A Sardar zum ersten Mal sah, brach ich vor Angst in Tränen aus. Ich hatte nicht gewusst, dass auch meine Mutter mit diesen Ungeheuern bekannt war. Das Schlimmste war, dass ich nicht begreifen konnte, warum sie sie ausgerechnet in diesem Moment rief. Hatte ich vielleicht etwas falsch gemacht? Ich war während unserer ganzen Wunderland-Reise völlig brav gewesen. Und auch an diesem Tag jammerte ich nicht, obwohl ich den ganzen Tag nur ein paar Tropfen Wasser zu trinken bekommen hatte. Nur um ein Stück Brot hatte ich meine Mutter ab und zu angefleht und war von ihr bis zur Ankunft im »nächsten« Dorf vertröstet worden. Einige dieser nächsten Dörfer lagen bereits hinter uns, und der schrottreife Kombi sauste unbeirrbar weiter. Fuhren wir an Siedlungen vorüber, warnte uns A Sardar jedes Mal: »Hier können wir nicht anhalten. Es ist gefährlich. Die Dörfler gehören nicht zu unserer Sippe. Keinen Mucks! Zieht eure Tücher über den Kopf, damit man euch nicht sehen kann!«

Die Männer vermummten sich noch fester mit ihren großen Tüchern und sanken tiefer in sich, in der Hoffnung, von niemandem gesehen zu werden.

Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter im hinteren Raum des offenen Kombis und spielte mit ihrem Tschador, um meinen Hunger zu vergessen. Plötzlich knurrte mein Magen so sehr, dass es mir schwarz vor Augen wurde. Aus Angst zu erblinden schrie ich: »Brot! Ich will Brot!« Ehe meine Mutter reagieren konnte, blickte A Sardar aus dem Zwischenfenster des Kombis so böse auf mich, dass ich glaubte sterben zu müssen. Von unendlicher Furcht gepackt, begann ich zu heulen. Alle zappelten vor Entsetzen, kümmerten sich um mich und bettelten mich an, doch noch eine Weile, nur bis zum nächsten sicheren Dorf, still zu halten. An der Brust meiner Mutter weinte ich mir leise die Seele aus, bis ich schließlich einschlief. Ich merkte nicht, wann wir das nächste sichere Dorf erreichten. Als ich meine rot geschwollenen Augen aufschlug, die immer noch vom Tränensalz brannten, drückte mir meine Mutter ein großes Stück Brot mit Käse in die Hand und sagte: »Das hat dir Onkel Sardar aufbewahrt.«

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden

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