Читать книгу Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - Страница 8

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Der Tag, an dem uns meine Mutter über ihre Entscheidung in Kenntnis setzte, war kein günstiger Tag. Es war ein regnerischer Dienstag. Dienstage sind grundsätzlich langweilig und garstig. Sie sind weder energisch wie der Montag noch ermutigend wie der Freitag, an dessen Ausklang sich die Erwartung des nahenden Wochenendes knüpft. Am Mittwoch stellt sich ein neuer Energieschub ein bei dem Gedanken daran, dass der Woche das Kreuz gebrochen ist. Dem Dienstag fehlt dieses schwache und trübe Licht, das den Mittwoch zart erhellt. An einem Dienstag in einen Unfall verwickelt zu werden, der mich lebenslang lähmt, würde mich überhaupt nicht wundern. Aus Angst vor den unheilbaren Folgen dieses Tages verabrede ich mich dienstags auch nie, mit Peter.

In der Tat, jener Dienstag war so trüb wie der Atem eines kranken Menschen. Ich stellte mir meinen Vater vor, der an diesem Tag die ganze Zeit hinter der lautlosen Kasse in einem Restaurant saß und sehnsüchtig auf das turbulente Leben starrte, das draußen wirbelte. Von ihrer Alterslast gebeugt ging höchstwahrscheinlich auch meine Mutter an diesem Tag allein in unserer Vierzimmerwohnung auf und ab und fragte sich: »Was soll ich jetzt tun?«

Es ist die Frage, die sich Sima Khanoom stets und in jeder Situation stellt. Denn sie ist meist so in Gedanken versunken, dass sie vergisst, was sie schon erledigt hat und was noch zu tun ist. Manchmal lautet die Antwort, sie solle sich nun waschen, da ihre Notdurft schon verrichtet sei. Dann wieder, sie solle sich heftig mit Abbas Agha streiten, weil für sie das alles nicht mehr zum Aushalten wäre.

Am Ende eines solchen geplanten, durch die Was-soll-ich-jetzt-tun-Frage ausgelösten Streits hatte Sima Khanoom einmal meinen Vater so massiv unter Druck gesetzt, dass er unsere wunderschönen Seidenteppiche verkaufte und Holzparkett auf dem nackten Boden verlegte. Sima Khanoom war ausgesprochen begeistert. Sie zog ihre roten Pumps an, trippelte geräuschvoll durch die Wohnung und meinte zufrieden: »Ach, wie schön! Jetzt kann ich tagsüber wenigstens meine eigenen Schritte hören, kann merken, dass ich noch lebe und meine Ohren in Ordnung sind.«

Ihre noch recht ordentlichen Ohren bereiteten jedoch Abbas Agha später große Schwierigkeiten, weil er gezwungen war, den vor etwa einem Jahr gekauften Kühlschrank Marke Siemens zu veräußern und einen neuen anzuschaffen. Das ununterbrochene Summen des alten Geräts hatte angeblich Sima Khanoom das Gehirn wie eine Bohrmaschine durchlöchert und ihre Ohren taub gemacht.

Die Tatsache, dass meine Mutter grundsätzlich mit ihren Ohren Probleme hat, stört uns mittlerweile nicht mehr. Fatal ist nur, dass sie manchmal vergisst, dass sie überhaupt welche hat. Dann schließt sie ihre Augen und redet pausenlos wie ein Wasserfall. In solchen Situationen finden weder ich noch Abbas Agha oder Ryan bei ihr Gehör.

An jenem trüben Dienstag verhielt sich meine Mutter so, als ob sie ohne Ohren auf die Welt gekommen wäre. Beim Abendessen, während sie das Tablett mit dem aromatisch duftenden Basmatireis auf den Tisch stellte, teilte sie uns mit, Deutsche werden zu wollen. Im Reisdampf, der sich ungeduldig zum Kronleuchter schwang, strich sie sich kurz durch ihre grauen Haare und fuhr fort: »Wäre super, wenn es klappen würde. Muss nur den Antrag schnell stellen. Man weiß ja nicht, was passieren wird, jetzt wo die Große Koalition dran ist. Vielleicht ändern sie das Gesetz wieder …«

Mein Vater unterbrach sie empört und brüllte mit Dash Akoll-Stimme: »Was? Willst du wirklich Deutsche werden?

Willst du unsere Kleinfamilie zerstören? Ist dir gleichgültig, was die persische Gemeinde hier sagt? Ist dir egal, wie ich meinen Kopf danach vor meinen Landsleuten, vor meinem Volk hochhalten soll?«

Meine Mutter zeigte sich erstaunt. Zuerst streifte sie mich und Ryan Djahn mit einem kurzen Blick, dann wandte sie sich höflich an Abbas Agha: »Darf ich mal fragen, welches Volk Sie meinen?«

Diese Frage versetzte Abbas Agha-Dash Akoll, der sich immer als ein Mann aus dem Volk bezeichnete und ein Leben lang für die Rechte der einfachen Leute gekämpft hatte, plötzlich in Verlegenheit. Seine Zugehörigkeit und Verbundenheit zur persischen Volksgemeinschaft lag seiner Ansicht nach unmissverständlich auf der Hand. Niemand durfte sie in Frage stellen. Verwirrt zeigte er auf die gebratenen Tomaten auf dem Tisch und sagte: »Na, das Volk eben. Ich meine diese Perser.«

Sima Khanoom ignorierte zu Recht die als Volk angesprochenen gebratenen Tomaten, blickte sich um, und da sie niemenden außer mir und Ryan entdeckte, begann sie, die haltlosen Argumente meines Vaters zu analysieren. Mit Fragen wie »Meinst du Frau X oder Herrn Y?« blätterte sie sämtliche bekannten und unbekannten Perser in ihrem Gedächtnisregister durch und schied ausnahmslos alle als nicht dem persischen Volk zugehörig aus. Der duftende Reis löste sich im Licht des Kronleuchters auf. Das Kebab-Fett gerann. Die Haut der gebratenen Tomaten platzte. Meine Mutter jedoch war immer noch damit beschäftigt, die Perser in verschiedenen Ländern und Städten der Welt auszusortieren und der Gruppe der Nicht-zum-Volk-Gehörigen zuzuordnen.

Als ich genervt von ihren Ausführungen den Fernseher einschaltete und Ryan Djahn im Begriff war, zum Kiosk um die Ecke zu gehen, um seinen Hunger wie immer mit Chips und Cola zu stillen, gelangte meine Mutter zu der abschließenden Feststellung, dass in den persischen Volksgemeinschaften im Ausland nicht ein aus dem Volk stammender Mensch existierte, vor dem Abbas Agha sein Haupt hochhalten sollte. Am Schluss fügte sie hinzu: »Außerdem, du konntest als Mitglied der Toudeh-Partei* jederzeit deinen Kopf hochhalten, auch nach dem historischen Verrat dieser Partei an der Volksbewegung* Anfang der fünfziger Jahre und nach ihrer üblen Unterstützung des Khomeini*-Regimes. Da dürfte es dir eigentlich nicht schwer fallen, es weiter zu tun, auch wenn ich Deutsche werde!«

Mein Vater, der sich wie gewöhnlich den Diskussionen über Verrat oder Nichtverrat der Toudeh-Partei zu entziehen versuchte, rettete sich in die autoritätstrotzende Stimme des Schauspielers Omar Sharif und sagte: »Nun, es ist spät. Darüber reden wir ein anderes Mal.«

Er begab sich ins Wohnzimmer, holte die Kassette von »Lawrence von Arabien« aus dem Regal und steckte sie in den Videorecorder, um sie sich zum tausendsten Mal anzuschauen.

Abbas Agha sieht dem großen Schauspieler Omar Sharif tatsächlich nicht unähnlich. Besonders seine großen braunen Augen erinnern an Sharifs Stieraugen. Vielleicht deshalb oder auch, weil er selbst vor Zeiten in Iran ein hochrangiger Offizier gewesen war, versucht Abbas Agha Sharifs Stimme und sein Verhalten als Häuptlingssohn nachzuahmen. Dann bildet er sich ein, wieder von der unwiderstehlichen Aura von Macht und Autorität umhüllt zu sein, die ihm einst sein angriffsbereiter Stierblick und der Glanz seiner nun wertlosen Militärorden verliehen hatten. Aus unerklärlichen Gründen lassen wir uns stets von seiner Omar Sharif-Pose einschüchtern und beharren nie auf der Fortsetzung unangenehmer Diskussionen. Sogar Sima Khanoom, dank ihrer gar nicht mehr so ordentlichen Ohren, zieht es vor, sich nicht mit ihrem Omar Sharif-Double anzulegen.

So blickte sie an jenem Abend auf die kalt gewordenen Speisen auf dem Tisch, die unter dem weißen Licht des Leuchters wie eingefroren wirkten, und fragte erstaunt: »Warum habt ihr nicht zugelangt? Jetzt ist das Essen kalt und ungenießbar.«

Sirna Khanoom ist grundsätzlich nicht die Art Frau, die auf die Idee käme, dass ihre allzu entbehrlichen Ausführungen eventuell unseren Appetit verdorben haben könnten. Als ich sie ganz vorsichtig darauf ansprechen wollte, war sie zutiefst beleidigt. Wie immer rief sie ihre unsichtbaren Geister herbei und begann, das Holz ihrer »mütterlichen Pflicht« und »unserer unverschämten Undankbarkeit« zu hobeln und Splitter und Späne des Tadels zu verstreuen.

»Es ist sinnlos, sich von morgens bis mitternachts für die Familie aufzuopfern. Statt sich zu bedanken, heißt es am Ende, alles sei falsch, was man getan hat.«

Je mehr ich mich bemühte, das Missverständnis auszuräumen, desto geringer war mein Erfolg. Außerdem fühlte ich mich von ihren schmerzhaft stechenden Tadel-Splittern wie gelähmt. Sie drangen so tief in meine Seele ein, dass keine Pinzette sie herausgebracht hätte. So flüchtete ich mit dem Gedanken an Peter und an seine Schutz und Trost versprechende Schulter aus der Wohnung.

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden

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