Читать книгу Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - Страница 15

9.

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Meine Mutter warf die Zeitung mit voller Wucht in eine Ecke und rief aufgeregt: »Derartige Aussagen sind höchst gefährlich. Sie schüren nichts als Hass und Unsicherheit in dieser Gesellschaft.«

Mein Vater, der immer noch auf der Suche nach schlagfertigen Argumenten war, um meine Mutter auf seinen Kurs zu bringen, hob hastig die Zeitung auf und las die von meiner Mutter markierten Stellen laut vor. Sie stammten aus einem Artikel des CSU-Politikers Beckstein, in dem deutsches Blut und deutsche Kultur, deren Schutz vor den ausländischen Einflüssen die wichtigste nationale Pflicht sei, in den Himmel gelobt wurden. Mein Vater war von der Lektüre so begeistert, als ob der bayerische Innenminister diesen Artikel nur zur Bestätigung von Abbas Aghas Theorien niedergeschrieben hätte. Erfreut sagte er: »Bitte schön! Ich hab von Anfang an gesagt, dies hier ist ein verdammtes Land.«

Nach diesem Vorfall wurden Sima Khanooms Ohrenprobleme wieder akut. Jeder Ton drang in ihren Schädel und hallte mit doppeltem Echo nach. Von nun an versuchte sie immer wieder, Abbas Agha zum Umzug zu bewegen, denn der Straßenlärm sei unerträglich geworden. Tatsächlich hörte meine Mutter Geräusche, die wir überhaupt nicht wahrnahmen: Die dröhnenden Wagen der Müllabfuhr, in die genau vor dem Fenster ihres Zimmers sämtliche Mülltonnen der Straße geleert wurden; das Lockgebimmel der Straßenverkäufer, die ständig in unserem Viertel unterwegs waren und bis zum Verkauf der letzten Kartoffel und Zwiebel eifrig ihre Schellen betätigten; die Kirchenglocken, die zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt jede Viertelstunde läuteten. Selbst Töne, die sie bisher als angenehm empfunden hatte, bohrten sich nun durch die Schädeldecke direkt in ihr Gehirn; das Getöse der Schulkinder etwa, die lachend und albernd auf dem Schulweg an ihrem Fenster vorbeigingen; der Pausenlärm auf dem nahen Schulhof, den sie früher als Zwitschern der Sperlinge bezeichnet hatte. Bisher hatte ihr das fröhliche Lärmen der Kinder immer signalisiert, dass das Leben weiterging, dass sie noch lebendig war, dass man die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nie aufgeben durfte. Nun, beteuerte sie, bekäme sie Atemnot, wenn sie während des Lesens der Statements von Merz und Merkel oder Beck und Böhmer derartige Geräusche hörte. Sie hätte das Gefühl, dem Durchdrehen nahe zu sein. Stöhnend klagte sie: »Hätte ich doch nur einen Moment Ruhe, ein bisschen Sicherheit. Wann geht meine Qual zu Ende? Wie lange soll ich dem Druck noch die Stirn bieten?«

Schließlich linderte der älteste und einzige männliche Erbe Abbas Aghas ihre Pein mit dem einfachen Vorschlag flexiblen Standhaltens. Eines Abends am Essenstisch, als der Konflikt über den unerträglichen Lärm einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, empfahl Ryan Djahn meiner Mutter, zunächst Türen und Fenster fest zu schließen; wenn die schrecklichen Geräusche sie weiterhin in ihrem Zimmer angriffen, solle sie sich in die Küche zurückziehen. Wenn die Kinder ihre Tumultaktionen unter dem Küchenfenster veranstalteten, müsse sie sich eben im Wohnzimmer verschanzen, und so weiter und so fort …

Mein Vater, der sich aufgrund dieses Vorschlags nicht mehr mit Umzugsfragen beschäftigen musste, klopfte mehrmals stolz auf die Schulter seines Augenlichtes und sagte gerührt: »Prima, sehr klug! Das ist die beste Lösung. Damit hast du gezeigt, dass du mein Sohn bist.«

Dann leierte er mit der Stimme Dash Akolls einen Vers des großen iranischen Dichters Saadi* herunter: »Einen Jungen, der von seinem Vater nichts erbt, nenne nicht Sohn, sondern einen Fremden.«

Der so reichhaltig mit seinem Erbe beschenkte junge Ryan bereute als erster seine Lösungsvorschläge. Denn er musste nun, da Umziehen kein Thema mehr war, sowohl den bösen Blick Sima Khanooms aushalten als auch Abbas Aghas Litanei anhören, und zuletzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in den Genuss des unberührten Kebabs zu retten, der wie ein steifer Schlauch in kaltem Fett lag. Ich war im Begriff, meiner Mutter den Vorschlag zu machen, sich nicht länger mit all den Artikeln und Vorträgen zu beschäftigen. Denn ich war der Auffassung, dass nicht der Schul- und Straßenlärm Sima Khanoom in den Wahnsinn trieb, sondern das Gerede und Geschreibe gewisser Volkparteien, welches sich allerdings als »respektable Meinung der Mehrheit« sehr gut verkaufte. Doch ich sagte nichts. Sie hätte auch mich bezichtigen können, gegen ihr Deutschwerden zu sein.

Mehr als Sima Khanooms böser Blick und Abbas Aghas salbadernde Stimme rief der Zwang zum Verzehr schlauchartiger Kebabstücke in Ryan eine ungewöhnliche Reaktion hervor. Abbas Agha war mit seinem Geleier noch nicht zu Ende gekommen, da sprang Ryan plötzlich auf, huschte zur Tür und sagte aufgeregt auf persisch: »Ach, fast vergessen! Mit Kai verabredet, Chemie üben! Bin zu spät!«

Es wunderte mich immer wieder, wie Ryan Djahn es schaffte auf persisch in einer Reihe von abgehackten Sätzen etwas auszudrücken und trotzdem verstanden zu werden. Wenn mich Sima Khanoom damals nicht gezwungen hätte, Persisch zu sprechen, würde ich jetzt vielleicht auch wie Ryan sprechen. Ich habe dunkel in Erinnerung, dass es in dieser Frage keinen ernsthaften Konflikt zwischen Abbas Agha und Sima Khanoom gab – ein sehr seltenes Ereignis. Obwohl sich die Art meiner Mutter, mich zu motivieren, von der Methode meines Vaters gewaltig unterschied. Er war der Auffassung, dass die persische Sprache honigsüß sei und dass wir, egal wo wir uns befinden, Perser seien und für immer blieben und dass der geehrte Iran auch unsere begehrte Heimat sei. Es sei unsere unumgängliche Pflicht, unser kulturelles Erbe – also auch die Sprache – zu kennen, zu bewahren und zu verbreiten. Meine Mutter brachte irdische und wirksamere Argumente ein. Wir dürften nicht vergessen, betonte sie aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen immer entschieden, dass nichts stetig und alles vergänglich sei. Wir müssten vorbereitet sein, richtig und rechtzeitig zu handeln, und zwar in jeder außergewöhnlichen Notsituation.

»Stell dir mal vor, du musst allein in den Iran. Du gibst einem Taxifahrer am Flughafen die Adresse deines Großvaters. Wie kannst du merken, dass er dich wirklich zu deinem Opa fährt, wenn du die persische Schrift nicht kennst und die Straßennamen nicht lesen kannst?«

Ich wäre ungern freiwillig in den Iran zurückgekehrt, weil ich keine schönen Erinnerungen an meine »begehrte Heimat« hatte, an den herausfordernden Stock des Großvaters und seinen Umhang. Dennoch war ich schlauer als Ryan Djahn, der dachte, er sei in Deutschland zu Hause und keiner könne ihn zwingen, nach Teheran, in ein fremdes Land zurückzukehren. Abbas Agha versuchte mehrmals, ihn mit seinem Nachlass in Iran zu bestechen. Er müsse doch irgendwann nach Teheran, um sein Vermögen von jenem »blutrünstigen Regime« zurückzuverlangen. Vergebens. Jedes Mal, wenn mein Vater über Ryan Djahns ungewollte Erbschaft sprach, fragte dieser mich höchstens neugierig nach der Bedeutung von ›blutrünstig‹ auf Deutsch, obwohl ich es ihm bereits x-mal erklärt hatte.

Auf jeden Fall motivierte mich meine Urangst davor, in den Straßen meiner »begehrten« Heimat verloren zu gehen, mehr als der honigsüße Geschmack persischer Worte, meine Muttersprache nicht zu verlernen. Um gerecht zu sein, muss ich betonen: Ohne die nächtliche Unterstützung meines Vaters wäre ich der Sprache nicht so mächtig geworden. Er legte viel Wert darauf, mir als Kind Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen. Egal wo er sich befand, jeden Abend, ehe ich zu Bett ging, stürzte er in die Wohnung, um mir aus klassischen Büchern wie »Hossain, der Kurde aus Schabester« oder »Der Meisterkämpfer Samak«* oder »Die Altstadt von Theran«* vorzulesen. Da aber jene aufregenden Geschichen in einer für Kinder unverständlichen Sprache geschrieben waren, übersetzte er mir jeden Abschnitt, nachdem er das Original einmal vorgelesen hatte. Das einzige, was mich in diesen abenteuerlichen Nächten gewaltig störte, war die Geruchsmischung aus Schafsspeck, Zwiebeln und Fett, die meinen Vater wie ein unsichtbarer Nebel umhüllte. Ganz abgesehen davon, dass er mich mit seiner überflüssigen Fragerei, ob ich alles verstanden hätte, immer wieder weckte.

Meine Mutter deutete erneut auf die schlappen Kebabstücke und den Reis und rief überrascht: »Du heiliger Strohsack! Das Essen ist richtig kalt geworden. Habt ihr keinen Appetit mehr?«

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden

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