Читать книгу Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - Страница 9
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ОглавлениеPeter empfing mich, obwohl unter Stress, erfreut und umarmte mich liebevoll. Als Beweis seines Mitgefühls griff er auf sein Patentrezept zurück: »Nimm endlich Abstand von deiner Familie, mein Schatz. Sie nutzen deine Schwäche für Harmonie rücksichtslos aus.«
Bei der Vorstellung, dass Abbas Agha und Sima Khanoom meine Schwäche rücksichtslos ausnutzten, brach ich in Lachen aus. Sie waren es doch, die unserer Zukunft wegen Tag und Nacht schufteten. Dennoch widersprach ich Peter nicht. Von Streitereien hatte ich für heute genug, dazu noch ein kulturelles Missverständnis aus dem Weg zu räumen ging über meine Kräfte.
Peter ist Buchhändler von Beruf. Seine internationale Krimi-Sammlung ist bundesweit einmalig. Ständig sortiert er die Bücher nach Genre und nach den Namen der Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Dann ordnet er sie in die vorgesehenen Regale ein. Auch sein Leben arrangiert er nach einer ähnlich strikten Ordnung, nach umständlich durchdachten, nur ihm verständlichen »kurzfristigen und langfristigen Plänen«, die er sorgfältig auf Zetteln notiert, die am Kühlschrank hängen. Sein Verhalten im Alltag ist unwillkürlich davon in Mitleidenschaft gezogen, was sich auf unsere Beziehung auswirkt. Stets redet er von »meinem Problem«, »deinem Problem«, von »meinem Geld« und »deinem Geld«, was mir völlig fremd ist. Peters scharfer Verstand gleicht einem Computer, so dass für ihn Gott und die Welt allein durch die Zahlen Null und Eins darstellbar und verständlich sind, unsere Liebesbeziehung nicht ausgenommen.
Ich verkroch mich in seinen Armen, vergaß die Holzspäneschmerzen und sagte sanft: »Aber Peter, es sind meine Eltern. Du redest so, als ob sie Fremde wären.«
Peter mit seinem 0/1-Verstand wie ein Computer, den er mir übrigens gründlich erklärte, meinte, es gäbe keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden, wenn »persönliche Interessen« im Spiel sind. Stolz fügte er hinzu: »Das weiß ich, seit ich siebzehn bin!«
In seinem siebzehnten Lebensjahr war Peter von zu Hause ausgezogen und in eine Wohngemeinschaft umgesiedelt. Als Nichtraucher hatte er keine großen Ausgaben. Seine allein erziehende Mutter Margrit unterstützte ihn mit einem bescheidenen monatlichen Taschengeld. Die Großmutter übernahm seine GEW-Rechnungen. Er selbst arbeitete in der Freizeit als Fensterputzer und Transporthelfer, um seine restlichen Ausgaben zu decken. Auf dem von der Umzugsfirma gestellten T-Shirt, das er aus Zeitmangel manchmal sogar in der Schule trug, stand in großen Lettern: Ihren Umzug zu erledigen, ist unsere Pflicht.
So hatte Peter am eigenen Leib erfahren, wie hart Geldverdienen sein kann. Hart lernte er auch, seine Einkünfte zu sparen.
Im Gegensatz zu Peter geht mein Vater leichtsinnig mit Geld um. Selbst während er den Tagesumsatz zählt, blickt er träumerisch in die oftmals regnerische Nacht, als sei er beauftragt, Regentropfen statt Geld zu zählen. Er vertieft sich mit so viel Ernst in jene nasse Finsternis, als sei Regen ein seltsames, jährlich nur einmal in Deutschland zu beobachtendes Ereignis und als entginge seinen Augen eines der Weltwunder, ließe er diesen bizarren Vorfall unbeachtet. Wenn Peter dagegen den Preis eines eben verkauften Buches in die Kasse tippt, konzentrieren sich all seine Sinne allein darauf; erst erfasst er die Ziffern mit den Augen, dann registriert er sie in seinem Gedächtnis. Anschließend spürt er sie förmlich in seinen geübten Fingern, wenn er die Kassentasten berührt und die Zahlen eingibt. Am Schluss errechnet sein trainiertes Gehirn nach dem 0/1-System die bis dato prozentual eingenommene Handelsspanne. Da Peters exklusive Krimi-Angebote äußerst gefragt sind, schwebt ständig ein melodisches Kassengeklingel in der Luft, als zwitschere ohne Unterlass eine Nachtigall in seinem Laden.