Читать книгу Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - Страница 16

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Ryan Djahn schlich, um einer Antwort zu entgehen, geräuschlos durch die halb geöffnete Tür hinaus und machte sich auf den Weg zu Kai. Selbstverständlich nicht aus Lerneifer oder der Chemie wegen, sondern um auf den Boden zu spucken, über die Streber in seiner Klasse zu lästern und dabei Cola aus Dosen zu schlürfen. Mehr als hundertmal warnte ich ihn, er werde sich mit diesem Giftgetränk den Magen durchlöchern. Wenn er sich trotz meiner Warnung dafür entschied, solle er aber ein Mindestmaß an Verantwortung seiner und der kommenden Generation gegenüber beweisen und statt aus Dosen gefälligst aus Flaschen trinken. Ich ging sogar so weit, ihm die Nachteile aus ökologischer Sicht zu erklären, dass die Herstellerfirmen nämlich zur Wiederaufbereitung von Dosen, deren virulenten Inhalt er seinem verwahrlosten Magen zuführte, so viel Strom verbrauchten, wie man zum Kochen von vierzig Tassen Kaffee braucht. Dies sei für die Umwelt ebenso schädlich wie Coca-Cola für seinen Verdauungstrakt.

Das letzte Mal, als ich versuchte, Abbas Aghas einzigen männlichen Erben für umweltgerechtes Verhalten zu gewinnen, brummte er mürrisch: »O.k., demnächst werde ich nach jeder Dose Cola an der Kreuzung lauern und vierzig Deutsche darum bitten, an dem Tag eine Tasse Kaffee weniger zu trinken. Einverstanden? Sind wir jetzt quitt? .«

Ryan Djahn trinkt Cola aus der Dose zur Demonstration seiner Muskelkraft, über deren beispielloses Ausmaß er mit seinen Freunden Wetten abschließt. Nachdem er die letzten Tropfen in die Kehle hat rinnen lassen, greift er die Dose an den Enden und versucht, sie zu zerknüllen. Die Rolle seiner Freunde beschränkt sich auf die Begutachtung, ob er die Dose mit einem Ruck zu einer perfekten Schleife formen kann. Anderenfalls verliert Ryan Djahn, der zurzeit in jeder Hinsicht seine Manneskraft beweisen will, seine Wette. Sollte das geschehen, wirft er die demolierte Dose auf den Boden kickt sie wie einen Stein den ganzen Weg rollend bis zu Haustür oder kauft sich eine neue Dose, um seine Muskelkraft einem weiteren Test zu unterziehen.

So ist es kein Wunder, dass Ryan Djahn ständig unter Bauchschmerzen leidet. Abbas Agha, der mit den Ereignissen außerhalb seines Blickfelds nicht vertraut ist, sorgt sich um die feinfühlige Seele seines männlichen Erben. Vielleicht sitzt er gerade wieder, den bizarren Regen beobachtend, vor seiner stummen Kasse und versucht, Ryans sensibles Wesen zu ergründen. Vor kurzem bat er Sima Khanoom, den Sohn seiner schlechten und »beschämenden« Noten in Chemie, Physik und Mathe wegen nicht dauernd zu tadeln. Vorwurfsvoll bekräftigte er: »Setz den Jungen nicht so unter Druck! Merkst du nicht, er hat so schon ein schlechtes Gewissen und könnte ein Magengeschwür haben. Dass ein 15-Jähriger ständig unter Bauchschmerzen leidet, ist nicht normal, oder? Lass ihn bitte in Ruhe. Du machst ihn mit deinen Vorwürfen fertig. Streue bitte kein Salz mehr in seine Wunden.«

Meine Mutter streute also eine Weile kein Salz mehr auf Ryans Wunde. Dennoch heilten die Löcher in seinem Magen nicht. Im Gegenteil: Noch weitere tauchten auf, in seinem Bauchnabel, in den Augenbrauen und an seiner Unterlippe. Nach einer Weile merkte ich, dass sogar sein gutes Benehmen Löcher bekam wie ein Stück Wollstoff, das von Motten zerfressen wurde. Abbas Aghas Augenlicht vergaß seinen höflichen Umgang mit den Älteren (also auch mit mir) und wurde taktlos dreist. Ohne einen Hauch von Schamgefühl behauptete er etwa, ich hätte niemals unter den grausamen Umständen der Flucht gelitten. Er erklärte, ich wäre zu dieser Zeit zu klein gewesen, um die Geschehnisse verstehen zu können. Er beharrte rücksichtslos darauf, alles, was ich von unserer Aliceschen Reise erzählte, hätte sich entweder in meiner Phantasie abgespielt oder wäre eine gefälschte Kopie dessen, was meine Mutter wiederholt berichtet hatte. Hätte ich ihm nicht irgendwann Grenzen gesetzt, wäre sogar A Sardar die Fähigkeit abgestritten worden, Schlangen zu fangen!

Nachdem Sima Khanoom mit dem Salzstreuen aufgehört hatte, erklärte sich Abbas Agha alias Omar Sharif bereit, Ryans Erziehung oder vielmehr Umerziehung in die Hand zu nehmen. Denn Sima Khanoom war sowieso mit wichtigeren Dingen als der Resozialisierung des männlichen Erben unserer Familie beschäftigt. Vor lauter Aufregung benahm sie sich manchmal wie Knäuel-Onkel. Es reichte schon, wenn Ryan oder ich sie ansprachen. Das Wort »Mama« war noch nicht ganz verklungen, da schrie sie zum Himmel: »Seht ihr nicht, dass ich beschäftigt bin? Ich muss all diese Dinge lernen! Sie sind so kompliziert und verwirrend, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich anfangen soll!«

Die Dinge, die Sima Khanoom sich einzuprägen versuchte, bezogen sich überwiegend auf historische oder aktuelle Informationen, mit denen niemand etwas anzufangen wusste: Die deutsche Nationalhymne wurde um 1841 zum ersten Mal gesungen; Oliver Kahn, der Torhüter Bayern Münchens, erhielt 2000 den Titel ›bester Fußballspieler des Jahres‹; der letzte Außenminister, Joschka Fischer, war gewalttätig, als er in einer Sponti-Villa in Frankfurt wohnte. Damals habe er bei einer Demonstration einen Polizisten namens Jürgen Weber angegriffen.

Einmal warf mein Vater ein: »Also, wenn du dabei bist, dich über Deutschland und die Deutschen zu informieren, solltest du auch lernen, dass Rechtsradikale im Jahr 1999 mindestens 36 Menschen umgebracht haben und etwa 10.000 deutsche Touristen jeden Tag in den so genannten Dritte-Welt-Ländern unterwegs sind, um mit Kindern Sex zu machen. Das sind auch Deutsche, oder?«

Meine Mutter hielt sich bedeckt: »Ich lerne, was man mich eventuell bei der Prüfung fragen könnte.«

Und las weiter an einer Meldung über das Gerichtsverfahren gegen den Kölner Thomas Drachen, der 1996 den Hamburger Multi-Millionär Reemtsma entführt und ein Lösegeld in Höhe von 30 Millionen Mark gefordert hatte. Die nächste Meldung, die meine Mutter mit Bestürzung vorlas, handelte von der Heimkehr des nach Florida geflüchteten Fußballtrainers Christoph Daum. Wegen des Konsums von Kokain in die Schlagzeilen gekommen, war er nach Köln zurückgekehrt, um seine Unschuld zu beweisen. Auch Boris Becker enttäuschte Sima Khanoom zutiefst: Laut Medien konnte das russische Fotomodell Anna Omakova beweisen, dass der berühmte Ex-Tennisspieler sie in einer Wäschekammer geschwängert hatte, und forderte Unterhalt für sein neugeborenes Töchterchen.

Beim Anblick der kostenpflichtigen sowie der unentgeltlichen Zeitungen, die seine gnädige Frau auf dem Boden ausgebreitet hatte und denen sie ihre Weisheiten entnahm, schäumte mein Vater eines Tages dermaßen vor Wut, dass er die dreifache Rolle Abbas Agha-Omar Sharif-Dash Akoll spielte: »Was nutzt dir all dieser Quatsch? Damit vergiftest du nur deine Seele!«

Sima Khanoom argumentierte daraufhin gelassen, dass jener vergiftende Quatsch zu den Themen gehöre, für die sich mindestens 95 Prozent der deutschen Bevölkerung interessieren. Das sei eine Tatsache und wir hätten sie zu akzeptieren, wollten wir in dieser Gesellschaft leben. Sie fügte hinzu: »Damals hast du dich auch nicht aufgeregt, als 98 Prozent der persischen Bevölkerung das blutrünstige islamische Regime wählten. Du sagtest, das sei die Entscheidung des Volkes. Man müsse sie respektieren. Was ist inzwischen passiert, dass jetzt die Meinung des deutschen Volkes nicht zählen soll?«

Sima Khanoom ließ meinem Vater keine Zeit, sich zu verteidigen. Sie wandte sich an uns und fragte naiv, wieviel Prozent der 2.500 Schüler an unserer Schule sich mit solchem Quatsch beschäftigten?

Meine Mutter hatte Recht. Auch Ryan Djahn und ich diskutierten oft mit Freunden über derartige Themen. Es war uns unbegreiflich gewesen, wie der begehrte und reiche Boris Becker eine Affäre mit einem einfachen und erfolglosen Fotomodell haben und sich mit ihr in einer Wäschekammer vergnügen konnte. Einige meiner Freunde nahmen sich damals aber sogar vor, die Beckersche Methode bei erster Gelegenheit selbst auszuprobieren, um festzustellen, ob Sex unter ähnlichen Umständen zu den ganz besonderen Erlebnissen zähle.

Im Gegensatz zu den anderen war mir der Gedanke zuwider, Peter in einem Wäscheraum, zwischen den Hemdsärmeln und Hosenbeinen fremder Menschen zu lieben. Peter würde dieses Liebesnest vermutlich auch nicht gefallen, da es seine buchhändlerischen Methoden und sein computergesteuertes Gedankensystem in Gefahr brächte. Ich könnte mir vorstellen, dass er nach liebevollen Verrenkungen, umgeben von unzähligen halb getrockneten Klamotten, nicht mehr wüsste, ob er beim Einpacken eines Buches zuerst die linke oder die rechte Ecke des Geschenkpapiers umschlagen soll.

Ryan Djahn hielt sich hinsichtlich der Beckerschen Beischlafmethoden bescheiden zurück. Ab und zu holte er zwar aus der Tiefe seiner Kehle mädchenhaft helle Ja- oder Nein-Töne hervor, aber das war alles. Denn er selbst schien, im Gegensatz zu seinen Altersgenossen, noch keine rechte Beziehung zum anderen Geschlecht zu haben.

Das war sogar Sima Khanoom aufgefallen. Sie machte sich deswegen aber keine großen Sorgen, obwohl das sexuelle Verhalten ihres Sohnes den Anforderungen seines Alters definitiv nicht entsprach. Stattdessen warf sie mir vor, am Telefon mit den Jungs zu flirten und ständig die Leitung besetzt zu halten. Ich solle mir an Ryan ein Beispiel nehmen. Wenn Mädchen ihn anriefen, gab er entweder vor, tief und fest zu schlafen, oder gestikulierte, er wolle auf keinen Fall mit ihnen reden. Wenn das tatsächlich stimmte, stellte sich die berechtigte Frage: Woher kamen seine Knutschflecken an Hals und Oberarmen? Was mir schon mehrfach aufgefallen war: Ryan Djahn sprang jedes Mal wie unter Strom auf und stürzte ans Telefon, wenn Kai anrief. Er verschwand dann in einer versteckten Ecke der Wohnung und flüsterte so leise, dass niemand von seinem Gespräch etwas mitbekam. Mein Vater war von der Freundschaft seines Augenlichts mit dem grünäugigen Kai sowieso nicht begeistert. Er schrieb die Löcher in Ryans Nabel und Gesicht, auch seine hängende Hose allein Kai und seinem üblen Einfluss zu. Ryan blieb sein Augenlicht, das er bevormunden möchte, als ob dieser weder selbstständig handeln noch sich eine eigene Meinung bilden könnte. Als sein einziger männlicher Nachwuchs ihm mitteilte – und das selbstverständlich an einem Dienstag –, er wolle seine Schulter tätowieren lassen, fragte er empört: »Wer hat dich zu diesem Unsinn überredet? Ich hab dir tausendmal gesagt: Lauf nicht hinter diesem grünäugigen Deutschen her! Bei uns tätowieren sich nur Drogendealer und Schwerverbrecher. Willst du, dass dich alle verspotten?«

Ryan Djahn versuchte, seine hell klingenden Stimmbänder zu bändigen und fragte mit brüchiger Stimme: »Wen meinen Sie? Wer sind alle?«

Diese einfältige Frage brachte Abbas Agha aus der Fassung. Grimmig antwortete er: »Wer alle sind? Alle Perser selbstverständlich!«

Ryan räusperte sich und meinte eigensinnig: »Ich lebe aber nicht in Iran, sondern …«

Offizier Abbas Agha wurde ungeduldig und unterbrach Ryan: »Das ist gleichgültig. Wir sind und bleiben Perser, egal wo wir leben. Ab sofort darfst du mit diesem grünäugigen Deutschen nicht mehr verkehren. Sonst gibt es kein Taschengeld, verstanden?«

Wütend spielte Ryan Djahn eine Weile mit den Ringen an Augenbraue und Unterlippe herum. In seiner Kehle gurgelte es, doch kein Wort kam aus seinem Mund. Offensichtlich fiel es ihm schwer, die gedrückte Stimmung zu ertragen. Auch mich schaffte der ewige Schlagabtausch. Ich sehnte mich nach frischer Luft, von der es in unserer 120 Quadratmeter großen Wohnung keinen Kubikzentimeter mehr zum Atmen gab. Deshalb packte ich meine Sachen. Ich würde übers Wochenende zu Peter fahren und mich von ihm trösten lassen.

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden

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