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5.

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Abbas Agha kam einen Schritt auf mich zu und brummte noch einmal »Keine Hemmungen! Sag klipp und klar, dass es dir egal ist, ob es mich gibt oder nicht. So viel bin ich euch wert!«

Das stimmte so nun auch wieder nicht. Wenn mein Vater und der Inhalt seiner oft stummen Kasse nicht gewesen wäre, hatte ich nicht weiter studieren können. Als Kind war es mir ziemlich egal, dass er ein »echter Hurensohn« war. Denn wenn er kein Hurensohn gewesen wäre, hätte er ein Märtyrer sein müssen, wie meine Mutter behauptete, und zwar ein toter. Denn während des Iran-Irak-Kriegs gab es auch lebendige Märtyrer. Meine Großmutter verkündete immer, alle Kriegsinvaliden seien lebendige Märtyrer. Hätten die Passdaran* meinen Vater damals verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, wäre auch er durch Folter und Furcht in einen »lebendigen Märtyrer« verwandelt worden. Vorausgesetzt, man hätte ihn nicht sofort hingerichtet.

Abbas Agha wollte nicht in einem iranischen Gefängnis verschwinden, sondern noch eine Weile in Deutschland leben. Den Ehrentitel »lebendiger Märtyrer« verlieh er sich aufgrund seines märtyrerischen Aussehens selbst, nachdem er einen Monat lang durch Berg und Tal auf der Flucht gewesen und endlich in Deutschland gelandet war. Sein märtyrerisches Aussehen bewahrte er sich anscheinend auch während des Asylverfahrens. Er wurde sofort als einfache Arbeitskraft beim Bau eines Tunnels beschäftigt, damit niemand ihn zum Wirtschaftsflüchtling stempeln konnte, der durch politisches Asyl das reiche und wohlhabende Deutschland berauben wolle, wie es in politischen Debatten so gerne hieß.

Auf diese Weise verschwand Abbas Agha vor Sonnenaufgang unter der Erde und tauchte nach Sonnenuntergang wieder an die Oberfläche. Zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang setzte mein Vater beim Schaufeln all seine Kraft und Energie um in Schweiß, Blut und Tränen, bis er eines Tages bemerkte, dass sein Körper jede Flüssigkeit verloren hatte und seine Haut aufgerissen war wie bei einem geräucherten Fisch.

Dieser Zustand überwältigte Abbas Agha so plötzlich, dass er nicht einmal mehr dazu kam, den Grund seines Trockenheitsgefühles zu analysieren. Er fiel einfach um, zum gedämpften Klang der Schaufel, mit der er sechs Monate lang die Eingeweide der Erde ausgegraben hatte und die über die gesamte Zeit seine einzige Vertraute gewesen war.

»Ein einmaliges Erlebnis, wenn man einer Schaufel sein Herz ausschüttet!« So lautete die einzige Moral, die mein Vater aus seiner Märtyrerzeit zog. Jedes Mal, wenn er auf seine »einmaligen Erlebnisse« zu sprechen kam, brach er in Lachen aus. Er lachte auch beim Erzählen der erschütternden Ereignisse seiner Flucht, während Tränen über seine Wangen rollten.

»Im Krankenhaus waren alle neugierig. Jeder wollte wissen, welch wichtige Rolle die Schaufel in meinem Leben gespielt hatte, da ich im Koma und im Traum ständig nach meiner Schaufel rief. Zuerst dachten sie, meine Frau oder meine Tochter hießen so.«

»Schaufel« gehörte zu den ersten deutschen Worten (neben »Bahnhof«, »egal« und »Scheiße«), die mein Vater lernte. Ohne diese Ausdrücke kam er in seinem Alltag auch später nicht mehr zurecht. Mit ihnen war er in der Lage, sich gegen die allgemeinen Vorurteile zu verteidigen, die unweigerlich mit der Unterschrift unter einen Asylantrag einhergingen: dass er nämlich nach Deutschland gekommen sei, um diese Wohlstandsgesellschaft zu ruinieren und die Deutschen ihrer Arbeitsplätze und Wohnungen zu berauben.

Als mein Vater erfuhr, dass der zu »Schaufel« gehörige Artikel feminin ist, war er tief enttäuscht. Es war ihm nicht begreiflich, wie ein derart kraftvoller Gegenstand, der ihm einerseits als Werkzeug einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland ermöglicht und es ihm andererseits erlaubt hatte, wie ein Ochse die Erde umzupflügen, weiblichen Geschlechts sein konnte.

Vielleicht denkt er, wenn er aus dem Fenster auf die Straße starrt, statt auf seinen Umsatz zu achten, auch an die Schaufel und deren weiblichen Artikel und lacht heimlich in sich hinein.

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden

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