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Fluchtversuch

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Pierre lief, als wäre der Teufel hinter ihm her. Und genau genommen war es auch so – jedenfalls wenn der Herr jenes Mannes wirklich der Satan war. Schwarz genug waren die Uniformen ja, die seine Gehilfen trugen.

André hatte er längst verloren, irgendwo im Wald war er anders abgebogen, um die Verfolger abzuschütteln. Doch der Uniformierte hatte einen langen Atem und sprang unbeirrt über herabgefallene Äste und niedrige Feldmarkgrenzen.

Er musste es bis zur Küste schaffen, weit entfernt vom Schauplatz ihrer letzten Aktion gegen die Pétainisten und ihre Verbündeten aus dem aggressiven Nachbarland im Osten. Denn unweit von Jean-Michels Elternhaus, versteckt in einer Bucht westlich von Buguélès, lag das kleine Motorboot, mit dem er seinen Verfolgern in der zerklüfteten Küste mit all ihren kleinen Inseln entkommen würde.

Während er lief und über Stock und Stein sprang, jagten die schrecklichen Bilder der vergangenen sechsunddreißig Stunden erneut durch seinen schmerzenden Kopf. Sie hatten Amélie beinah genauso vorgefunden wie Gabrielle, worauf es an André gewesen war zusammenzubrechen. Er hatte versucht ihm beizustehen und die Trauer mit ihm zu teilen; doch hatte er die ganze Zeit über nur an Marie gedacht. Was hatten sie ihr angetan? Ob er zu ihnen gehen und um die Herausgabe von Marie bitten sollte? Was würden sie dafür von ihm verlangen? Alles, alles konnten sie haben, wenn sie ihm nur Marie unbeschadet zurückgaben. Es hatte ihn schier wahnsinnig gemacht, diese Ungewissheit, die seine Angst bis zur Panik gesteigert hatte. Nur mit Mühe hatte er sich beherrschen können.

Gegen zehn Uhr hatten sie schließlich Henri und Sabine aufgesucht und den kleinen Luc Ponnier geschickt, um die barmherzigen Schwestern für die letzte Ölung kommen zu lassen, da Pater Barthélemy Anfang des Jahres zusammen mit Andrés Vater Albert eingezogen worden war.

Noch während der heiligen Handlungen, die sie in der alten Kapelle Saint-Michel auf der höchsten Anhöhe des Dorfes durchgeführt hatten, waren sie erschienen. Wenn Sabine sie nicht schon von weitem hätte heraufkommen sehen, wäre es zu spät gewesen. Denn es waren nicht nur Jules und Claude mit ihrem Freund in der schwarzen Uniform gewesen; Letzterer hatte Verstärkung mitgebracht, die bis an die Zähne bewaffnet und mit mehreren Militärkraftwagen ausgerüstet war. Es grenzte geradezu an ein Wunder, dass sie ihnen entkommen waren.

Es war einzig ihrer Ortskenntnis und dem beherzten Eingreifen von Henri und Schwester Eloise zu verdanken, dass André und er noch am Leben waren – nur wie lange noch?

*****

Ärgerlich legt Philippe Brisac die Zeitung beiseite. Das frische Baguette wird zu trockener Pappe in seinem Mund, als er erneut die zweispaltige Meldung unter dem Leitartikel durchliest.

Zeitpunkt und Ort werden genannt, alle Vorbereitungen sind getroffen für das große Spektakel. Offenbar hat man seine Nachricht nicht ernst genommen. Mit Chance ist die Nachricht aber auch noch nicht durchgedrungen bis zu Ardant.

Während er den Rest seines abgekühlten Café au lait trinkt, überlegt Philippe, wie viel Zeit er ihnen noch zugestehen soll, den Verrätern, die so unverschämt und scheinheilig ihre Macht ausspielen.

Er hat lange gewartet und sie beobachtet, sie und ihre Machenschaften, die im Grunde genommen nur ein einziges Ziel haben: die Macht der Familie Ardant zu mehren und das dunkle Geheimnis zu wahren, das vor der Welt verborgen ist. Es würde sie stürzen, allesamt, wenn es bekannt würde. Aber es fehlen die Beweise, seit damals. Klar, er hat die Spur aufgenommen und mithilfe der zwei besten Kunstdiebe Frankreichs oder gar der Welt nachgeforscht, so gut es geht. Aber immer noch ist der letzte, der zwingende Beweis, nicht gefunden.

„Er muss da sein“, brummt Philippe in seine Tasse und trinkt langsam den kalt gewordenen Rest Milchkaffee aus. „Er muss einfach. Eloise hat es gewusst, sie hat den Beweis womöglich sogar selbst gesehen. Ich hoffe nur, dass Émile sein Spiel gewinnt, auch wenn es genau genommen nur eine Ablenkung ist…“

Philippe erlaubt sich ein leichtes Grinsen, als er sich ausmalt, welch ausgesucht blödes Gesicht ihre Gegner machen werden, wenn ihnen die Hintergründe des Spiels bewusst werden. Sie werden gedemütigt sein, bis auf die Knochen und in alle Ewigkeit blamiert, wenn Émile seinen Zugriff machen wird.

„Wenn es nur schon so weit wäre…“, seufzt Philippe leise und spült die Tasse aus, bevor er die Küche verlässt und ins Badezimmer wechselt.

„Madame, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?“ sagt er lächelnd und prüft die Wirkung im Spiegel. „Darf ich Ihnen meinen Schirm anbieten? Hier, nehmen Sie meinen Arm, Madame, bitte sehr.“

Er übt die verschiedenen Variationen dieser Sätze mit unterschiedlicher Stimmlage und begleitendem Lächeln, bis er schließlich einigermaßen zufrieden mit seinen Versuchen ist. Ob Madame Rouget, die in Würde ergraute Mathilde von gegenüber, damit zufrieden sein wird, steht jedoch in den Sternen.

Seufzend richtet Philippe den Kragen seines Hemdes und den Sitz der Krawatte, bevor er Mantel, Hut und Schirm von der Garderobe nimmt und nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel seine Wohnung verlässt. Der Regen hat etwas nachgelassen, sodass er den Schirm zusammengerollt an seinen linken Arm hängt. Sein Herz klopft bis zum Hals, als er mit großen Schritten die nasse Straße überquert hat und an der Haustür das Klingelschild mit dem Namen ‚Rouget‘ sucht.

Als Madame öffnet und ihm in Mantel und mit einem modischen Kopftuch auf dem grauen Haar schon im Treppenhaus entgegenkommt, ist es für Philippe beinah so wie bei ihrer ersten Begegnung vor acht Jahren. Sie bringt Sonne in sein oft eher grau erscheinendes Leben, das nach Audreys vorzeitigem Ableben im Mai 2007 für einige Zeit sehr düster gewesen ist.

Philippe reicht ihr nach einer höflichen Verbeugung stumm seinen Arm, weil er plötzlich das Gefühl hat, kein klares Wort herauszubekommen. Madame nimmt lächelnd sein Angebot an und geht fröhlich plaudernd neben ihm her. Es dauert eine Weile, bis Philippe sicher ist, seine Stimme unter Kontrolle zu haben.

Das Gespräch, das sich schließlich zwischen ihnen entwickelt, trägt sie bis zur Rue de l’Université, wo Philippe sich wegen des nun wieder stärker werdenden Regens entschließt, ein Taxi heranzuwinken. Madame scheint etwas nervös zu sein, als sie sich mit ihm auf die Rückbank setzt und zum Jardin du Luxembourg fahren lässt. Und auch Philippe ist etwas unruhig, beschließt aber trotzdem die Frage zu stellen, wegen der er – abgesehen von ein bisschen Flirten auf seine alten Tage – an Madame Rouget interessiert ist. Sie nickt als Antwort, was Hoffnung für ihn ist. Vive la Résistance!

*****

Requiem für eine Elster

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