Читать книгу Requiem für eine Elster - Fee-Christine Aks - Страница 13
Brückengeländer
ОглавлениеEs ging auf elf Uhr nachts zu, als Renard den Justizpalast erreichte. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, seine Beute in ihrem Versteck zu belassen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihm zuvorgekommen war. Nun aber war er beruhigt und frohen Mutes, dass alles glatt laufen würde. Er hatte die Beute und damit die Oberhand. Somit würde er sich nichts gefallen lassen, vor allem nicht, wenn sich bewahrheitete, was er seit einiger Zeit befürchtete.
Niemand hatte das Recht dazu, ihn so zu demütigen, wie es ‚La Pie‘ getan hatte. Er hatte die Herausforderung angenommen, um seine Qualität zu beweisen. Und wofür? Tief in ihm nagte der Zweifel, dass es wirklich eine so gute Idee gewesen war, sich darauf einzulassen. Aber wenn man ihm zugestand, dass er nun wahrhaftig der größte Meisterdieb aller Zeiten war – größer und besser noch als ‚La Pie‘ und ‚Le Filou‘ zusammen – so war die Demütigung vergessen und sein Ruhm komplett, unsterblich.
Renards Herz beschleunigte sich vor freudiger Erwartung, denn es konnte nur einen Ausgang geben: Er hatte alle ihm gestellten Aufgaben erledigt, clever und so effizient, dass ihm niemand auf die Schliche kommen würde, selbst wenn sie hier und da einen Hinweis fanden. Aber er war nicht umsonst der Beste; und er war sicher, dass man dies nun endlich anerkennen würde.
Raschen Schrittes lief er den Quai de la Corse entlang, der ab der Pont d’Arcole in den Quai aux Fleurs überging, und sah hinter der nächsten Biegung bereits die kleine Brücke Saint-Louis auftauchen, die von der Île de la Cité zur Île Saint-Louis hinüberführte.
Renard duckte sich in den Schatten der Mauer an der Wasserseite und schlich langsam näher; denn dort, wo die Straße am Klostergarten von Notre Dame auf den Quai stieß, stand jemand und rauchte eine Zigarette.
Es war ein Mann, klein und um die Mitte leicht rundlich, der in Mantel und Hut am Geländer der Brücke lehnte und auf jemand zu warten schien. Es konnte sich um denselben Mann handeln, der ihm bereits heute Morgen aufgefallen war.
Als er bis auf zehn Meter heran war, richtete er sich auf und beleuchtete mit dem Display seiner Taschenlampe das Ende des Brückengeländers. Der andere Mann, dessen Gesicht von einem typisch französischen Schnurrbart beherrscht wurde, sah milde überrascht auf.
„Geocaching?“ fragte er.
Renard wunderte sich einen Moment lang über das seltsame Wort, das nicht aus dem Französischen stammte. Dann kam ihm die Bedeutung in den Sinn, die sich gut zu seinem Vorteil ausnutzen ließ; denn wenn er sich irrte, würde sein Alias unnötig in Gefahr geraten.
„Ja“, antwortete Renard leise und in beinah verschwörerischem Tonfall. „Haben Sie den Schatz schon gefunden? Sie stehen direkt an der Stelle, die von den Geo-Koordinaten bezeichnet wird. Hier soll er versteckt sein – ‚La Pie‘.“
„Die Elster“, erwiderte der Mann nickend, „oder war es ‚Renard‘, der Fuchs?“
Der Meisterdieb zuckte leicht zusammen, als der Andere seinen Decknamen in so unbedarftem Tonfall aussprach. Dann nickte er und zog die Visitenkarte aus der Jackentasche. Sie hatten sich verstanden und gefunden.
„Wo ist es?“ fragte der Andere und drückte seinen Zigarettenstummel auf dem Brückengeländer aus. „Ich gehe davon aus, dass Sie den Auftrag erfolgreich…“
„Wer sagt denn“, wandte Renard ein, „dass ich es war. Mein Chef…“
„Lassen Sie das doch bleiben“, fuhr ihm der Andere ins Wort. „Ich weiß, dass Sie es gewesen sind – London, Hamburg, New York, Washington, Chicago, Zürich und nun noch hier bei uns in Paris. Leugnen hat keinen Zweck, Monsieur.“
Renard reagierte nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, das Zittern seiner Knie zu beherrschen. Er stand stocksteif und wie festgewachsen, als der Mann ruhig und sachlich weitersprach und dabei etwas aus der Manteltasche zog und ihm unter die Nase hielt. Renard konnte, vor Schreck erstarrt, nicht einmal blinzeln, als der Andere auspackte. Was er sagte, war unglaublich und die allergrößte Blamage, die man ihm je hätte zufügen können.
Renard fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet. Man hatte ihn hereingelegt, ihn und seine gesamte Familie. Renard sah Rot. Die Gefahr, die von diesem Mann ausging, war viel zu groß, um ihn ungestraft ziehen zu lassen. Er zwang sich zur Ruhe und stellte eine Frage, die der Mann mit einem leichten, an Schadenfreude grenzenden Schmunzeln beantwortete und damit sein Schicksal besiegelte.
Etwas in ihm explodierte und ließ Renard alle Beherrschung verlieren. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, rammte er dem Anderen seine rechte Faust in die gut gepolsterte Magengrube. Der Mann klappte augenblicklich zusammen und ging so ungelenk zu Boden, dass sein Kopf seitwärts hart auf das Ende des eisernen Brückengeländers schlug.
Als Renard sich nach dem ersten Schrecken niederbeugte und seinen Zeigefinger an den Hals des Reglosen legte, kam zu seinem Ärger noch der Schrecken hinzu. Niemand würde ihm glauben, dass es nur ein unglücklicher Unfall war; schon gar nicht, wenn der Mann Recht hatte mit dem Unglaublichen, was er gesagt hatte. Es war eine Affekthandlung gewesen, aber das würde nicht zählen. Vielmehr würde ein Gericht dazu ‚Totschlag‘ sagen, oder womöglich sogar Mord, wenn sie die Hintergründe erfuhren.
Aber es durfte niemand davon erfahren, wenn er die Gefahr für sich und seine Familie so gering wie möglich halten wollte. Kurz entschlossen und mit panisch rasendem Herzen packte er den schweren kleinen Körper an den Schultern und schob ihn mit einiger Anstrengung über das Brückengeländer in die träge dahinfließende Seine. Dann rannte er los.
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